Im vorvergangenen Jahr kämpften die Beschäftigen von Deutschlands größter Universitätsklinik für bessere Löhne. Nun bereitet sich die Berliner Charité auf einen weiteren Arbeitskampf vor – diesmal gegen Personalmangel und für bessere Arbeitsbedingungen. Wir sprachen mit zwei Gewerkschaftsaktivisten über streikende Schwestern und Ärzte im Ausstand
marx21.de: Dana und Stephan, im vergangenen Jahr habt ihr an der Charité erfolgreich eine Gehaltserhöhung erstreikt. Jetzt wollt ihr wieder in den Ausstand gehen. Warum?
Dana Lützkendorf: Die jetzige Tarifauseinandersetzung ist im Prinzip schon parallel entstanden zu unserem letzten Streik im Zusammenhang mit der »Der Druck muss raus«-Kampagne von ver.di, bei der es um bessere Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern geht. Bei unserem Streik 2011 hatten wir schon mehr Anerkennung und Wertschätzung unserer Arbeit gefordert und bessere Arbeitsbedingungen. Das ist nicht richtig erfüllt worden. Wir haben gute Entgelttarife ausgehandelt, aber nicht bessere Arbeitsbedingungen. Deshalb sind wir nahtlos in die nächste Tarifbewegung übergegangen und haben kontinuierlich daran gearbeitet. Wir fordern einen Tarifvertrag zu Mindestbesetzung und gesundheitsfördernde Maßnahmen.
Stephan Gummert: Da wir uns 2011 zu den Arbeitsbedingungen nicht durchsetzen konnten, gibt es hier, anders als beim Entgelt, keine Friedenspflicht. Wir können also gegebenenfalls streiken. Nach dem Lohn-Streik 2011 existierte innerhalb der ver.di-Tarifkommission und der Belegschaft ein aktiver Flügel, der sagte: Gutes Ergebnis, aber da fehlt noch etwas. Eben die Arbeitsbedingungen. Wegen Personalmangels gibt es eine enorme Arbeitsbelastung. Die Ursprünge für das alles reichen aber schon weiter zurück bis ins Jahr 2006.
Berlin ist anders. Könnt ihr die Nicht-Berliner kurz in die Tariflage der Hauptstadt einführen?
Stephan Gummert: Im Jahr 2003 sind das Land Berlin und die Hochschulen aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten. Sie haben Tarifflucht begangen – mit der Folge, dass die Beschäftigten empfindliche Lohneinbußen hinnehmen mussten. Die Charité war damals wie ein gallisches Dorf. Obwohl wir keine Streikerfahrung hatten, sagte unsere ver.di-Tarifkommission: Diesen Verzicht machen wir nicht mit. Mit dieser Haltung standen wir ziemlich allein da. Viele, auch innerhalb des Berliner Landesverbands von ver.di, waren pessimistisch, ob wir überhaupt einen Streik hinbekommen. Aber wir hatten damals schon verheerende Arbeitsbedingungen, es fanden Personalabbau und Restrukturierungen statt. An einzelnen Standorten gab es viel Unmut und auch einzelne Basisaktivitäten. Letztendlich hat sich unser Mut gelohnt: Die Streikbeteiligung war gut und wir konnten den Verzicht abwehren. Aber wir hatten damals viel weniger Aktivisten als im vergangenen Jahr und das Streikkonzept war noch nicht optimal.
Was hat sich denn seitdem geändert?
Stephan Gummert: Wir haben heute viel mehr aktive Leute, eine größere Tarifkommission. Außerdem konnten wir neue Bereiche erschließen, allen voran den der Pflege. Vorher waren unsere Aktiven zum großen Teil OP-Assistenten. Wir hatten über Jahre darauf hingearbeitet. Die objektiven Bedingungen haben uns dabei geholfen, denn die Arbeitsbedingungen haben sich weiter verschlechtert.
Dana Lützkendorf: Das kann ich bestätigen. Aus meiner Sicht gab es beim Streik von 2011 den Unmut gar nicht so sehr wegen der Bezahlung, sondern vor allem wegen der Arbeitsrealität. Ich habe mir auch irgendwann gesagt: Es reicht! Zuvor hatten wir uns auf meiner Station schon erfolgreich gegen eine Umstrukturierung gewehrt. Da habe ich gesehen, dass man etwas erreichen kann. Dann kam der erste Warnstreik im März, an dem ich und viele andere das erste Mal gestreikt haben. Das war eine unheimliche Wucht. Danach hat Stephan über Facebook eine Streikleitung gesucht. Dafür habe ich mich dann gemeldet. Das war mein Einstieg.
Anscheinend nicht nur deiner – der Aktivistenstamm hat sich offenkundig im Streik ausgeweitet…
Dana Lützkendorf: Ja, das waren so einige. Aber viele sind auch erst in den fünf Tagen des Streiks dazugekommen.
Stephan Gummert: Es gab verschiedene Wellen. Vier, fünf Leute sind schon einige Monate davor dazugestoßen. Die haben das Potenzial der Tarifbewegung gesehen und gesagt: Wir können hier etwas verändern. Sie wurden dann auch schon in die Tarifkommission gewählt. Und es gab die zweite Welle derjenigen, die im Streik oder nach dem Warnstreik dazugestoßen sind. Da sind auch Leute gekommen, die man jahrelang nicht gesehen hat, die bis dahin bei ver.di eine Karteileiche waren und jetzt plötzlich etwas machen wollten. Mich wundert es bis heute, wo sie alle hergekommen sind. Aber es zeigt mir, wie viel Pozential wir im Betrieb haben. Du arbeitest über Jahre mit deinen üblichen Verdächtigten, bekommst wenig Resonanz – und über Nacht kommen diese Naturtalente aus allen Ecken. Das sind geborene Arbeiterführer, Leute die verwurzelt sind, etwas in der Birne haben.
Stephan Gummert: Man darf die Jahre davor nicht negieren. Wir haben auch da einige Leute gewonnen, aber das war alles zäher. Beim Streik musst du nicht die Mühen der Ebenen bemühen, es ist wie bei einem Vulkanausbruch: Plötzlich sind sie da. Es ist enorm, wie viele Pozentiale in der Belegschaft schlummern.
Dana Lützkendorf: Seitdem gab es eigentlich keine Ruhe. An der Charité wird weiter am Personalschlüssel gedreht. Ich bin überzeugt, beim nächsten Mal bekommen wir noch mehr Leute. Das kann ich zumindest für die Intensivstationen sagen, die ganz anders auftreten werden.
Konntet ihr den Drive aus dem Streik herüber in den betrieblichen Alltag retten?
Dana Lützkendorf: Die ver.di-Aktiven sind mit Beendigung der letzten Tarifrunde nicht untergetaucht. Wir sind seitdem ständig präsent. Wir gehen über die Stationen, haben dort den abgeschlossenen Tarifvertrag in Power-Point-Präsentationen vorgestellt, Tarifinfos zur Umsetzung herausgegeben und erklärt, dass wir eine neue Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen wollen. Dafür haben wir immer Zuspruch erhalten. Unterstützt hat uns auch der Arbeitgeber, der im Frühjahr dieses Jahres keine Leasingkräfte mehr beschäftigten wollte. Im Juni gab es eine große Kundgebung gegen Personalmangel, für Mindestbesetzung und Gesundheitsschutz.
Stephan Gummert: Eigentlich gibt es das klassische gewerkschaftliche Problem: Du hast den Streik, da drehst du hoch. Dann kommt der Cut und der Alltag zurück. Diesmal haben wir aber gar nicht so sehr das Runterfahren erlebt. Wir haben eine höchst kritische Belegschaft, die nachfragt. Die Präsenz im Betrieb ist auf jeden Fall eine andere als im Jahr 2006. Außerdem haben wir uns verbreitert: Zum Beispiel schreiben jetzt viel mehr Leute in der Betriebszeitung. Früher habe ich das fast allein gemacht, heute gibt es ein Autorenkollektiv.
Die Erfahrungen aus der Charité sollen im März bei der Konferenz »Erneuerung durch Streiks« in Stuttgart vorgestellt werden. Was waren für euch die zentralen Punkte?
Dana Lützkendorf: Zum einen war die Streikbereitschaft einfach groß, vor allem unter dem Pflegepersonal, das gewerkschaftlich eigentlich nicht besonders gut organisiert war. Zum anderen hatten wir die Streiktaktik, jeden Tag mehr Betten zu sperren. Patienten konnten nicht aufgenommen werden, was für den Arbeitgeber zu einem unheimlichen Problem wurde. Die Kolleginnen haben bei den ersten bestreikten Stationen gesehen, dass es funktioniert. Das war dann wie ein Schneeballprinzip. Sicherlich war auch eine gute Vorbereitung des Streiks wichtig.
Stephan Gummert: Wir haben uns im Vorfeld natürlich einen Kopf über das Streikkonzept gemacht und überlegt, was im Jahr 2006 schiefgelaufen war. Dazu gab es auch innerhalb von ver.di Diskussionen. Im 2011er-Streik haben wir versucht planmäßig Stationen stillzulegen. Es war klar, dass die OP-Anästhesie mitziehen muss, weil da sechs oder sogar siebenstellige Verluste anfallen. Klar war uns zudem, dass wir keinen Fähnchenwink-Streik haben wollen, wo jede Station nur symbolisch einen herausschickt. Die Intensivkollegen haben gesagt: Wir wollen auch streiken, wir machen den Laden dicht. Die Stimmung war so.
Es gab viel Selbstorganisation. Kollegen haben sich überlegt, wie sie streiken wollen, und eine Streikbroschüre herausgebracht, in der verschiedene Streikkonzepte vorgestellt wurden. Wir sind viel über die Stationen gelaufen und haben mit den Kolleginnen und Kollegen gesprochen, was ihnen unter den Nägeln brennt, welche Forderungen es gibt, für deren Verwirklichung sie aktiv werden wollen.
Dana Lützkendorf: Der Streik war eine sehr intensive Zeit. Man hat das Gefühl, man kennt sich schon seit 100 Jahren. Während des Ausstandes gab es zudem einen großen Zusammenhalt zwischen den einzelnen Standorten. Das ist im Alltag aber wieder etwas abgeflacht.
Ich hätte nicht gedacht, dass die Verweigerung ärztlicher Tätigkeiten eine solche Wucht annimmt. Ich meine damit Tätigkeiten, die eigentlich Ärzten vorbehalten sind, die aber Pfleger und Schwestern über die Jahre zunehmend übernommen haben, zum Beispiel Dialysen (Blutreinigungen). Das hat auf der oberen Ebene Eindruck gemacht. Das ist ein ganz eindeutiges Beispiel, wie das Selbstbewusstsein durch den Streik gestiegen ist. Die Leute haben sich gefragt: Was mache ich eigentlich? Welche Aufgaben übernehme ich, für die ich nicht bezahlt werde? Dieses Selbstbewusstsein hat sich gehalten. Wenn heute in Unterbesetzung gearbeitet wird, sagt die Schwester schon mal zum Arzt, das musst du jetzt selbst machen, ich habe dafür keine Zeit. Das hätte sie vor dem Streik nicht gemacht.
Stephan Gummert: Es ist haften geblieben, dass wir eine große Kampfgemeinschaft bilden. Besonders war auch, dass so viele Pflegekräfte gestreikt haben. Das ist vorher kaum passiert. Es sind viele neue Leute in die Tarifkommission gekommen, die für den Personalrat kandidieren, ohne davor die übliche gewerkschaftliche Ochsentour zu absolvieren.
Zur Person:
Dana Lützkendorf arbeitet seit 2001 als Intensivpflegerin an der Charité. Sie wurde im Streik von 2011 aktiv und trat in die Gewerkschaft ver.di ein.
Stephan Gummert ist seit 1998 als Pfleger auf einer Nierenstation beschäftigt. Er ist langjähriges ver.di-Mitglied und Mitglied im Personalrat der Charité.
Hintergrund:
Die Charité ist Deutschlands größtes Universitätskrankenhaus. 14.000 Beschäftigte arbeiten an den drei großen Standorten im Norden, in der Mitte und im Süden Berlins. Eigner ist das Land Berlin.
Nach einem Lohnstreik im vorvergangenen Jahr will die Gewerkschaft ver.di an der Charité einen Tarifvertrag für Mindestbesetzungen auf den Stationen und für gesundheitsfördernde Maßnahmen durchsetzen. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe fanden erste Gespräche mit der Geschäftsführung statt. Die Belegschaft ist kampfbereit.
Mehr im Internet:
- Konferenz »Erneuerung durch Streik«: http://www.rosalux.de/event/46538/erneuerung-durch-streik.html
- Aktuelle Informationen auf der Seite der Betriebsgruppe: http://tinyurl.com/verdi-charite
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