Überraschungssieger bei den Parlamentswahlen in Israel und damit zweitstärkste Kraft in der israelischen Knesset ist die Zukunftspartei des früheren populären Fernsehmoderators Yair Lapid. An der israelischen Regierungspolitik ändert dies wenig, meint Paul Grasse
Bei den Parlamentswahlen in Israel hat die rechtsradikale Siedlerpartei »Jüdisches Heim« des Millionärs Naftali Bennet nicht den erwarteten Erdrutsch ausgelöst. Der Überraschungserfolg des reichen Fernsehstars Yair Lapid, der mit seiner Partei Jesh Atid (»Es gibt eine Zukunft«) 19 von 120 Sitzen in der israelischen Knesset gewonnen hat, wurde in der deutschen Presse von Welt bis Taz mit Erleichterung aufgenommen.
»So wie es sich jetzt darstellt, haben wir keine Rechtsentwicklung in der israelischen Gesellschaft«, sagt Sabine Hofmann vom Otto-Suhr-Institut in Berlin. Doch diese Erleichterung ist nicht angebracht.
Netanjahu verliert und bleibt Ministerpräsident
Die konservative Partei Likud (»Zusammenschluss«) des derzeitigen Ministerpräsidenten Israels Benjamin Netanjahu musste herbe Verluste hinnehmen. Einer der Gründe war sein Scheitern in der letzten Regierung bei der Durchsetzung eines Kürzungshaushaltes. Dieser hätte vor allem die Privilegien der Ultraorthodoxen bedroht.
Ihre Ausnahme von der Wehrpflicht stand zur Debatte, die Stipendien für Thorastudenten und das Kindergeld für die traditionell kinderreichen Orthodoxen sollten gekürzt werden. Dafür erhielt Netanjahu keine Unterstützung bei seinen ultraorthodoxen Koalitionspartnern. Zwei weitere Gründe für den Stimmenverlust waren die Unterdrückung der Sozialproteste 2011 und die erfolglose, wenn auch tödliche Bombardierung von Gaza im Dezember 2012.
Dennoch wird Netanjahu höchstwahrscheinlich Ministerpräsident bleiben. Die Bildung einer gemeinsamen Liste mit der extrem rechten Partei Beitenu (»Unser Haus Israel«) des ehemaligen Außenministers Lieberman – ein notorischer Rassist und Schläger – rettete dem Wahlbündnis die Stimmenmehrheit und 31 von 120 Sitzen in der Knesset.
Die Sieger: Rechtsradikale und Neoliberale
Die eigentlichen Gewinner der Wahl sind Lapids Zukunftspartei Jesh Atid und die rechtsextreme Siedlerpartei Habeit Hajehudi des Millionärs Naftali Bennet. Wenngleich für Bennet weniger wahlberechtigte Israelis gestimmt haben als befürchtet, hat er einen Sitz mehr als zuvor. Beide Politiker – Bennet genau wie Lapid – haben erfolgreich die unzufriedene Mittelschicht für sich mobilisiert, analysiert der israelische Historiker und Journalist Tom Segev.
Lapid hat sich im Wahlkampf auf die Forderungen und Probleme derer bezogen, die im Sommer 2011 wochenlang mit ihren Zelten auf den Straßen gegen die rapide steigenden Lebenshaltungskosten protestiert haben. Vor allem forderte er eine Schulreform und eine Senkung der Mieten. Lapid will außerdem eine neue Verteilung von Lasten und Pflichten, wobei er mit Pflichten insbesondere die Ausweitung des Wehrdienstes meint. Für ihn dürften in erster Linie die jungen aufstrebenden Israelis im Kernland gestimmt haben, die unter den steigenden Lebenshaltungskosten leiden. Trotzdem ist seine Zukunftspartei neoliberal und lehnt Kürzungen an sich keineswegs ab.
Bennet sagt klar, dass er sich eine Annexion weiter Teile des palästinensischen Westjordanlands und einen Ausbau jüdischer Siedlungen will. Damit vertritt er die Interessen der ohnehin bereits staatlich finanzierten Siedler im Westjordanland. Er ist kein Politneuling, sondern war bereits 2006 bis 2008 Stabschef des damaligen Oppositionsführers Benjamin Netanjahu.
Die alte und neue Regierung
Mit beiden Politikern könnte der alte und neue Ministerpräsident Netanjahu Budgetkürzungen durchsetzen, sofern darunter weder die Siedlungen leiden, noch die Lebenshaltungskosten der israelischen Mittelschicht weiter steigen. Die Kosten der Besatzung, die als Sicherheitsausgaben gelten, können nicht angetastet werden. Auch die neue »liberale« Zukunftspartei will die Kosten für Besatzung und Militär nicht etwa senken, sondern auf mehr Schultern verteilen und noch mehr Menschen in die militärische Besatzung der palästinensischen Gebiete hineinziehen.
Daher werden sich alle drei Kräfte – Netanjahus Likud-Beitenu, Lapids Zukunftspartei und Bennets Siedlerpartei – vermutlich auf die Ultraorthodoxen einschießen und den Haushalt, an dem die letzte Regierung scheiterte, ohne die orthodoxen Parteien durchsetzen. Auch Lapid schließt sich der opportunen Stimmungsmache gegen die Ultraorthodoxen an, die in Israel seit mehreren Jahren zunimmt. Ein zentrales Vorhaben dabei ist die Ausweitung der Wehrpflicht auf die Orthodoxen und die palästinensischen Bürger Israels.
Besatzung wird fortgesetzt
Keine Rolle im Wahlkampf spielte die israelische Besatzungspolitik. Warum auch, die meisten politischen Kräfte vertreten in dieser Hinsicht ähnliche Standpunkte. Die Unterschiede zwischen den drei Parteien, die wahrscheinlich die Regierung bilden werden, sind marginal.
Die Partei »Jüdisches Heim« ist für Annexion, und Netanjahu kann sich kein Palästina in den Grenzen von 1967 vorstellen. Seine Partei hat Gesetze in die Knesset eingebracht, die für jedes israelische Dokument einen Treueschwur an Israel als jüdischem Staat voraussetzen. Lapid, der vermeintliche Liberale, spricht sich für Friedensverhandlungen aus. Nur leider gebe es eben auf palästinischer Seite keinen Partner. Darüber hinaus steht für Lapid ein territorialer Kompromiss bezüglich des annektierten Jerusalem nicht zur Debatte.
Selbstverständlich gibt es in der Knesset außer drei arabischen Parteien auch niemanden, der bereit wäre, die Vertreibung der Palästinenser bei der Staatsgründung Israels 1948 als Verbrechen und das Rückkehrrecht der vertriebenen und geflohenen Palästinenser anzuerkennen. Die Positionen der Parteien laufen auf dasselbe hinaus: Die Besatzung wird fortgesetzt.
Stimmlos in der Knesset: Die Palästinenser Israels
In der Knesset sind drei arabisch-palästinensische Parteien vertreten: Die kommunistische Hadash (»Demokratische Front für Frieden und Gleichheit«), in der auch jüdische Israelis vertreten sind, die palästinisch-nationalistische Balad (»Nationale Demokratische Sammlung«) und die religiöse Ta’al (»Arabische Bewegung für Erneuerung«). Mit ihren insgesamt knapp zehn Prozent der Stimmen sind sie vollkommen isoliert. Immer wieder versuchen die anderen Parteien, die palästinensischen Parteien unter dem Vorwand fehlender Loyalität zum jüdischen Charakter Israels von den Wahlen ausschließen zu lassen, so auch dieses Mal. Erst ein Beschluss des Obersten Gerichts kippte die Knesset-Entscheidung.
Palästinensische Politiker sind in Israel permanenten Anfeindungen ausgesetzt, der ehemalige Balad-Abgeordnete Azmi Bischara floh 2007 aus Israel, Hanin Soabi sollte wegen ihrer Teilnahme an der Gaza-Flottille 2010 von den Wahlen ausgeschlossen werden, ein Prozess droht ihr nach wie vor. Für die Mehrheit der Israelis ist die palästinensische Bevölkerung Israels, immerhin über 20 Prozent, eine Fünfte Kolonne von potentiellen Terroristen.
Keine der angeblich linken oder liberalen Parteien – außer vielleicht die Meretz (»Energie«) mit ihren sechs Sitzen – wäre bereit, mit den drei in der Knesset vertretenen palästinensischen Parteien zusammenzuarbeiten. Doch auch die Meretz hat den Angriffen auf Gaza anfangs nicht widersprochen, um später eine Feuerpause zu fordern, weil der Krieg nicht zielführend sei. Niemand bezweifle, dass die Hamas eine Terrororganisation sei, die sich hinter Zivilisten verstecke, liest man auf der englischsprachigen Internetseite der Meretz.
Palästinensische Israelis – ohne Hoffnung in die Wahlen
In den Augen vieler israelischer Palästinenser dienen die arabischen Parteien Israels politischem System nur als Feigenblatt und erhalten die Illusion aufrecht, Israel sei eine bürgerliche Demokratie. Dass die drei arabischen Parteien in den palästinensischen Bevölkerungszentren verzweifelt dazu aufgerufen haben, zu den Wahlen zu gehen, hat ebenso wenig mobilisiert wie die Aufforderungen der Arabischen Liga.
Die palästinensischen Bürger Israels beteiligen sich in immer geringerer Zahl an den Wahlen, die arabisch-israelische Wahlbeteiligung ist gegenüber den letzten Wahlen um zwei Prozent auf 54 Prozent gesunken ist. Vor allem die jungen Palästinenser in Israel sehen keinen Sinn mehr darin, arabische Parteien zu wählen, die nie eine Möglichkeit haben, Mehrheiten für die sozialen, kulturellen und politischen Rechte der palästinensischen Minderheit in Israel zu erkämpfen.
Dutzende Gesetze schränken ihre Rechte ein, allein seit 2011 wurden 35 diskriminierende Gesetze in die Knesset eingebracht. Die Sozialausgaben für von Arabern bzw. Palästinensern bewohnte Städte und Dörfer sind verschwindend gering. So sind 27 Prozent der israelischen Palästinenser nicht an das Abwassersystem angeschlossen, nur vier Prozent der Gelder für Stadtplanung gehen an Minderheiten. Viele Berufe kommen für die palästinensische Bevölkerung nicht in Betracht, weil sie nicht in der Armee waren und eben weil sie Palästinenser sind, Landkauf beispielsweise ist ihnen verboten.
Eine absolute Mehrheit der Israelis bestätigen, dass sie in einem rassistischen Staat leben – und ist dafür, dass das so bleibt. Mehr als 90 Prozent der israelischen Bevölkerung waren für die Bombardierungen Gazas, eine Mehrheit erkennt an, dass Israel ein Apartheidstaat ist und findet das richtig. Und eine Mehrheit der Israelis würde den palästinensischen Bürgern gern das Wahlrecht entziehen. Die Rechtsentwicklung der israelischen Gesellschaft ist also seit Jahrzehnten zur Normalität geworden.
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