Der französische Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel ist tot. Vor drei Jahren hat er mit »Empört euch!» die europäischen Bestsellerlisten gestürmt. In seinem Andenken veröffentlicht marx21.de eine Rezension seines Buches von Daniel Anton
Ein 93-jähriger Franzose trifft mit einem 24-seitigen Essay den Nerv vieler Europäer. »Empört Euch!» erklimmt die Spitzen der Verkaufslisten. Allein in seiner Heimat hat sich das kleine Büchlein über eine Million mal verkauft.
Im Gegensatz zum deutschen Bestsellerautoren Thilo Sarrazin braucht Stéphane Hessel dazu weder einen dicken Wälzer noch rassistische Thesen, sondern er schlägt sich auf die Seite der Unterdrückten und greift offensiv die herrschenden Verhältnisse an.
Von der Gestapo gefasst
Die Empörung ist dabei nicht nur ein verbaler Ausdruck von Unzufriedenheit, sondern manifestiert sich in konkreter Tat. Das beweist schon Hessels Biographie: Geboren in Berlin als Sohn des polnisch-jüdischen Schriftstellers Franz Hessel und der deutschen Helen Grund, hat Stéphane vieles mit- und überlebt. Die Familie zieht 1924 nach Paris, nach dem Einmarsch der Nazis schließt sich Hessel der Résistance an. Im Jahr 1944 wird er von der Gestapo gefasst und deportiert. Nur durch die Annahme der Identität eines bereits verstorbenen Mithäftlings kann er sich der Ermordung entziehen.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird er Frankreichs Vertreter bei den Vereinten Nationen und unterzeichnet 1948 die Charta der Menschenrechte. Darüber hinaus setzt er sich für die Entrechteten der »Dritten Welt», für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. 1962 gründet er die »Vereinigung für die Ausbildung von afrikanischen und madagassischen Arbeitnehmern» und kämpft für die Rechte von Migranten in Frankreich.
Gemeinwohl statt Großkapital
In »Empört euch!» prangert Hessel die Ungerechtigkeiten des Finanzkapitalismus an und ruft zu deren Überwindung auf. Als Beispiel und Basis seiner Argumentation zieht er das nach Kriegsende veröffentlichte Programm des Nationalen Widerstandsrates heran. Die Erneuerung, die sich die Résistance vorstellte, war dabei umfassend und radikal. Neben konkreten Maßnahmen wie der Verstaatlichung von Energieversorgung und Großbanken war es das erklärte Ziel, eine Gesellschaft zu erkämpfen, in der das Gemeinwohl über den Interessen des Großkapitals zu stehen hatte.
Angesichts der Finanzkrise hat für Hessel diese Idee nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Die Empörung war der Grundstein für den Kampf des französischen Widerstandes gegen die Nazis und müsse nun der Grundstein für den Kampf gegen den Finanzkapitalismus sein.
Gemeinsam Widerstand leisten
Auch wenn sein Buch sehr kurz ausgefallen ist, lässt Hessel es sich nicht nehmen, die Geschichte der Empörung zu analysieren. Für ihn persönlich beginnt sie bei den Nazis und ihren Kollaborateuren, setzt sich fort in den Verbrechen des Stalinismus und in der Ungerechtigkeit der französischen Kolonialpolitik
Er stellt zwar klar, dass die Feindbilder in der Zeit des Finanzkapitalismus nicht mehr so einfach wie damals auszumachen seien. Doch fordert er nach wie vor, gemeinsam gegen dessen Widersprüche und Ungerechtigkeiten aufzustehen. Das entspricht seiner Auffassung von Geschichte, an deren Ende »der Mensch seine vollständige Freiheit erlangt hat und damit der demokratische Staat in seiner idealen Form entstanden ist.»
Gegen Armut – für Menschenrechte
Trotz der Komplexität der heutigen Situation gibt es für Hessel zwei essenzielle Aufgaben, um eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen: Die Kluft zwischen Arm und Reich muss geschlossen werden und die Menschenrechte müssen durchgesetzt werden. Der Kampf gegen Umweltzerstörung, die Diktatur des Kapitals und die Unterdrückung von Minderheiten ist für ihn eine uneingeschränkte Pflicht.
Als Exempel für wachsende Ungerechtigkeit schlechthin begreift Hessel die Situation der Palästinenser im Gazastreifen, der er ein eigenes Kapitel widmet. Dabei ist er nicht, wie ihm oft vorgehalten wird, parteiisch oder tendenziös, sondern beklagt sowohl die Politik der israelischen Regierung als auch der Hamas. Das Aufbegehren der palästinensischen Bevölkerung entspringt für ihn aus der puren Verzweiflung.
Der Anti-Sarrazin
Natürlich ist »Empört euch!» keine fundierte Gesellschaftsanalyse. Diesen Anspruch hat sich Hessel aber auch gar nicht gestellt. Vielmehr gleicht sein Buch einem Aufschrei über die dunkelsten Auswüchse des entfesselten Kapitalismus. Hessel macht keine revolutionären Ansagen und doch argumentiert er für eine Bewegung, eine gemeinsame Empörung von unten.
Sein Buch ist sozusagen der französische Anti-Sarrazin: Er formuliert eine messerscharfe, zuweilen angenehm polemische Wut, die nicht nach Sündenböcken sucht, sondern die Ursache für soziale Ungleichheit, Krieg und Umweltzerstörung klar benennt: den Kapitalismus.
Übrigens: Hessel hat nachgelegt. In Frankreich ist bereits sein nächstes Buch »Engagez-vous!» (»Engagiert euch!») erschienen. Dort diskutiert er mit einem französischen Öko-Aktivisten, wie die Umweltzerstörung zu stoppen ist.
Das Buch:
Stéphane Hessel: Empört Euch!
Ullstein, Berlin 2010
32 Seiten, 3,99 Euro