Die G20-Randale, Aufstand und spontane proletarische Gewalt – ein Vergleich aus historischer Perspektive. Von Ralf Hoffrogge
In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1923 stürmten in Hamburg kommunistische Stoßtrupps die Polizeireviere. Die dabei erbeuteten Waffen wurden an Barrikadenkämpfer verteilt. Doch von etwa 14.000 Hamburger KPD-Mitgliedern beteiligte sich nur ein Kern von 300 Leuten. Im Hafen streikende Arbeiter solidarisierten sich nicht; der Aufstand brach nach zwei Tagen zusammen. Die KPD wurde bis März 1924 verboten; nach der Legalisierung hatte sie zwei Drittel ihrer zuvor 300.000 Mitglieder verloren, das in der Hyperinflation 1923 gewonnene Prestige in den Betrieben war für längere Zeit ruiniert. Es sollte bis 1932 dauern, bis die Partei ihre alte Stärke wiedererlangt hatte.
Strategisch war der Oktober 1923 also eine totale Niederlage – dennoch wurde der »Hamburger Aufstand« bereits ab 1925 zur Legende. 1970 sang Franz Josef Degenhardt »In Hamburg fiel der erste Schuss«, und im Vorfeld der G20-Proteste von 2017 beschwor die Interventionistische Linke »linke Geschichte vom Hamburger Aufstand bis Hafenstraße«. Der Mythos des Aufstandes hat das historische Fiasko von 1923 verdrängt.
Der Mythos vom Aufstand
In der Nachbetrachtung der G20-Ausschreitungen dominiert eine ähnliche Faszination. Als »Rauchzeichen an die Welt« bejubelte beispielsweise die »ak«-Redaktion die Ereignisse, als einen »Erfolg, wie ihn die linke Bewegung in der Bundesrepublik eher selten zu verzeichnen hat«. Die Ereignisse wurden zum »Riot« und von einem Autor des »Neuen Deutschland« gar zum »kleinen Aufstand« erklärt. Angesichts von 24 gestürmten Polizeirevieren und 100 Toten im Oktober 1923 erscheint diese Bewertung für 2017 fragwürdig.
Selbst ein kleiner Aufstand wäre größer als einige Stunden Randale auf einem 400 Meter langen Straßenstück im Schanzenviertel. Ungewollt besorgt der Mythos das Geschäft der Sicherheitspolitik: Die Entgrenzung des Begriffs vom »Aufstand« nützt jenen, die schon bei Latschdemos nach Aufstandsbekämpfung rufen. Doch waren die Ereignisse von Hamburg wenigstens ein »Riot«, wie sie in Zeiten der Industrialisierung häufig waren und uns in Paris (2005) oder London (2011) wieder begegneten?
Verhandlung durch Aufruhr
Als Riots gelten unvorbereitete, spontane Gewaltausbrüche proletarischer oder subproletarischer Massen. Die britische Sozialgeschichtsschreibung der 1960er-Jahre beschrieb sie als Protest einer entstehenden Arbeiterklasse, die (noch) keine »klassische« Arbeiterbewegung mit Parteien und Gewerkschaften aufgebaut hatte. Historiker wie E. P. Thompson taten die Riots nicht mehr als irrationale Gewalt ab, sondern beschrieben deren Rationalität.
Die Maschinenstürmer etwa, die mechanische Webstühle zerstörten, taten dies zum Schutz ihrer Arbeitsplätze und Löhne. Hinter dem Ausbruch verarmter Weberinnen und Weber stand nicht blinde Technikfeindlichkeit, sondern ein »bargaining by riot«: die Verhandlung durch Aufruhr. Die Zerstörung war Mittel, um Mindestlöhne durchzusetzen, wo aufgrund der Massenarmut Streiks nicht griffen – oder verboten waren. Denn bis 1824 waren Gewerkschaften im Vereinigten Königreich illegal. Der Riot war eine Form der Notwehr – Gewalt gegen Dinge, gerichtet gegen eine Rationalisierungsstrategie des Kapitals.
Krawall aus Not
Auch andere Existenznöte wurden zur Ursache von Riots, etwa Hunger oder der Zwang zum Wehrdienst. Zahlreiche Berichte von »Krawall« und »Aufruhr« in der deutschen Geschichte strafen jene Lügen, die den Riot für unübersetzbar halten. Etwa die Blumenstraßenkrawalle 1872 in Berlin. Gegen die Zwangsräumung eines Schusters wegen Mietrückständen erhob sich Protest, Scheiben wurden eingeworfen. Als die Polizei am nächsten Tag eine Armensiedlung von Bretterbuden am Frankfurter Tor räumen wollte, kam es zu mehrtägigen Barrikadenkämpfen, die durch das Militär niedergeschlagen wurden.
Ein anderes Beispiel sind die Lebensmittelunruhen während des Ersten Weltkrieges, die ab 1916 um sich griffen. Überall in Deutschland und Österreich kam es zu Plünderungen von Geschäften und Demonstrationen mit Sachbeschädigungen – Akteurinnen waren meist proletarische Hausfrauen und Arbeiterinnen. Schmaler Lohn und der Sold ihrer Ehemänner reichten nicht, um die Familie zu ernähren, während das Bürgertum sich auf dem Schwarzmarkt versorgte. Im Jahr 1917 wuchs der Unmut zu einem Massenprotest: der Aprilstreik, oder auch Brotstreik, bei dem ca. 400.000 Munitionsarbeiterinnen und Munitionsarbeiter in Berlin, Leipzig und anderen Städten für Brot und Frieden streikten. Auch hier waren meist Frauen aktiv.
Vorbereitete Proteste
Merkmale von Riots waren also Spontaneität, Ungeplantheit, Massenbeteiligung von Anwohnerinnen und Anwohnern am Ort des Geschehens, proletarische und subproletarische Menschen, die eine konkrete Bedrohung abwehrten: Hunger, Obdachlosigkeit, Verlust der Erwerbsarbeit. Ein Jahrhundert später trifft keines dieser Merkmale auf die G20-Proteste in Hamburg zu. Die Proteste entstanden mit monatelanger Vorbereitung auf ein globales Ereignis, sie waren keine Reaktion auf eine lokale Bedrohung des Lebensalltags der Hamburger Arbeiterbevölkerung.
Auseinandersetzungen mit polizeilicher Kontrolle im Vorfeld deuten zwar leicht in diese Richtung: viele Riots nach 1945 entzündeten sich an rassistischen Kontrollen oder Polizeigewalt. Die massive Polizeipräsenz in Hamburg war auch der Grund dafür, dass jene Teile der Bevölkerung, die später Einladungen linker Gruppen zur Nachbereitung folgten, die G20-Proteste an sich nicht verurteilten. Aber selbst die am stärksten sympathisierenden Aussagen, die man hinterher lesen konnte, verurteilten durchweg die Ausschreitungen im Wohnumfeld. Man sah diese als äußeren Faktor, nicht als »eigene« Aktion. Auch da, wo etwa Autonomen gedankt wurde, weil sie das Anzünden eines Wohngebäudes verhindert hatten, zeigt sich die Trennung zwischen Aufruhr, Autonomen und lokaler Bevölkerung.
Trennung zwischen Aufstand und Bevölkerung
Diese Trennung ist es, die in historischen Riots auch jüngeren Datums nicht zu beobachten ist: Zumindest ein Teil der vor Ort Wohnenden war stets beteiligt. Nicht alle waren dafür, Plünderungen und Feuer zerstörten etwa bei den »Race Riots« in Los Angeles 1992 auch die Infrastruktur der Armen. Doch selbst hier war das Moment der Selbstverteidigung sichtbar: die Riots entzündeten sich damals an der Ermordung des Afroamerikaners Rodney King. Ein Muster, das immer wieder anzutreffen ist: der Riot als Gegengewalt einer rassistisch diskriminierten Gruppe, die vom staatlichen Gewaltmonopol nicht geschützt wird.
Dieses Moment der Gegenwehr war bei den geplanten Protesten in Hamburg nicht Auslöser, sondern schwang bestenfalls mit. Oft wird die Beteiligung migrantischer Jugendlicher an den Ausschreitungen hervorgehoben. Doch enthüllt das eher die Tatsache, dass »migrantische Jugendliche« und »radikale Linke« in Deutschland zwei getrennte Milieus sind.
Auch Riots können rassistisch sein
Dies war in der alten Arbeiterbewegung oft nicht anders: Arbeiterparteien und Gewerkschaften wurden getragen von Facharbeitern, die stolz auf Fähigkeiten und geregeltes Einkommen waren. Vom »Lumpenproletariat« grenzte man sich ab. Doch war die Verbindung weit durchlässiger als heute. Denn die Arbeiterorganisationen machten durch eine Gegenkultur von Bildungseinrichtungen bis hin zu Theater- und Gesangsvereinen ein Angebot an jene Schichten, denen durch die Volksschulen Bildung jenseits der achten Klasse vorenthalten wurde. Wer also heute über migrantische Jugendliche redet, sollte sich auch fragen, wo die Linke diesen heute Angebote macht, um abseits der Barrikade ins Gespräch zu kommen.
Finden solche Gespräche nicht statt, dann bietet die Geschichte Gegenbeispiele für Gewaltausbrüche, die kaum ins Schema der Linken passen. Die »New York Draft Riots« von 1863 etwa, dargestellt in Martin Scorceses Film »Gangs of New York«, waren proletarische Gegenwehr gegen die Wehrpflicht im amerikanischen Bürgerkrieg. Die zwang die Proleten in den Krieg und erlaubte den Bürgern den Freikauf vom Wehrdienst. Da viele weiße Arbeiter die Befreiung der schwarzen Sklaven als Kriegsursache ansahen, wurden während des Riots zahlreiche Afroamerikaner gelyncht. Auch Riots können rassistisch sein, ihre Gewalt ist nicht per se emanzipatorisch. Wenn die heutige Linke den Riot »an sich« zum erstrebenswerten Ziel erklärt, idealisiert sie die Arbeiterklasse als moralisch unfehlbar. Sie mythologisiert die Klasse von außen, anstatt mit ihr zu reden – oder sich selbst als Teil der Klasse zu begreifen.
Vor 1917 etwa gingen mehrere Generationen russischer Intellektueller als Volkstümler (russisch: Narodniki) in die Bauernschaft. Sie konkurrierten mit antisemitischen Weltdeutungen, die vom Regime geschürt wurden – etwa mit der Fälschung der »Protokolle der Weisen von Zion« durch den zaristischen Geheimdienst. In Abgrenzung zu den Pogromen entstanden sowohl die anarchistischen als auch die marxistischen Massenorganisationen, die Grundlage für die Revolutionen 1905 und 1917 waren. Vorausgegangen waren Debatten über die Emanzipation der nationalen Minderheiten in Russland, die nicht akademisch blieben, sondern zu eigenen Organisationen jüdischer und auch muslimischer Arbeiterinnen und Arbeitern führten.
Protest, Debatte und Organisation
Auch in Deutschland gab es eine Dialektik von spontanem Protest, intellektueller Debatte und Organisation: Der Aprilstreik 1917 hatte seine Wurzeln nicht nur in Lebensmittelunruhen, sondern auch in den Revolutionären Obleuten, einem Netzwerk von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die gegen die Kriegspolitik ihrer Führung protestierten. Ihr Geheimnis war, die Eskalation nur so weit voranzutreiben, wie sie es den Belegschaften in den Fabriken als ihrer Basis zumuten konnten.
Die Obleute handelten somit strategisch und erfanden quasi aus der Not heraus das Rätesystem. Sie idealisierten den Krawall nicht, wie es die Spartakusgruppe bisweilen mit ihrer Taktik der »Revolutionären Gymnastik« tat, bei der eskalierende Straßenkämpfe eine entscheidende Rolle spielten. Die Obleute steigerten ihre Aktionen stattdessen strategisch, übernahmen Verantwortung auch für abgebrochene Streiks – um später erneut handlungsfähig zu sein. In Berlin waren sie am 9. November 1918 tragende Struktur des revolutionären Generalstreiks.
Keine Abkürzungen
Vor Mythologisierungen sei also gewarnt. Riots sind nicht herbeizuzwingen oder herbeizureden. Sie entstehen spontan und waren stets als Reaktion auf Alltagsbedrohungen erkennbar. Zu einem tiefgreifenden sozialen Wandel trugen sie nur da bei, wo auch programmatische Diskussionen und Organisationsarbeit stattfanden. Bewegungen, die diesen Weg abkürzen wollten oder sich um die strategischen Folgen ihres Handelns keine Gedanken machten, endeten dagegen in der Isolation – wie jene 300 Kommunisten im Hamburg des Jahres 1923, von denen viele langjährige Gefängnisstrafen absitzen mussten. Nicht nur die harte Repression gegen die KPD, auch das rasante Wachstum der NSDAP im selben Jahr sind eine Warnung.
Zum Autor:
Ralf Hoffrogge ist Historiker. Jüngst erschien eine überarbeitete Neuauflage des Bandes »Sozialismus und Arbeiterbewegung« in der Reihe theorie.org des Schmetterling Verlags, Stuttgart.
Zum Text:
Der Text erschien zuerst in der Zeitschrift »Analyse und Kritik« (ak). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
Schlagwörter: Arbeiterbewegung, DIE LINKE, g20, Gewalt, Polizei, Repression