Seit über hundert Jahren wird am 8. März der Internationale Frauentag gefeiert. Auch Gisela Kessler hat lange Zeit für die Rechte von Frauen gekämpft. Im Interview erklärt sie, warum Emanzipation mehr ist als Gleichberechtigung mit dem Mann
marx21: Gisela, du warst viele Jahre als Gewerkschafterin tätig. Was waren die wichtigsten Erfolge und Sternstunden deiner Arbeit?
Gisela Kessler: Manches sieht Mann oder Frau erst im Rückblick klarer. Heute bin ich der Meinung, dass es einer unserer zentralen Erfolge war, dass sich die Kolleginnen in unserer Organisation durch Bildungsarbeit und in gemeinsamen Aktionen, Kämpfen und Streiks in ihrer Persönlichkeit weiterentwickelt haben. Wir hatten das Glück, in der IG Druck und Papier eine Kampf- und Widerstandsorganisation zu finden und haben als Frauen nicht wenig dazu beigetragen, dass dies auch so blieb.
Die Frauenstrukturen haben wir schrittweise zu einem Wechselspiel zwischen Autonomie und Integration entwickelt. Unser strategischer Ausgangspunkt war der Betrieb. Dort trifft der Interessengegensatz von Kapital und Arbeit am unmittelbarsten aufeinander. Solidarisches Handeln zur Gegenmacht muss stets neu entwickelt werden.
Was die Kolleginnen angeht, würde ich gerne eine Journalistin zitieren, die unsere Bundesfrauenkonferenz beobachtet hat. Sie überschrieb ihren Artikel: »Eine unnachahmliche Mischung aus Phantasie, Heiterkeit, Frechheit, Erfahrung, Wissen, gelebter Solidarität und harter Arbeit«.
Zu den Sternstunden: Das war fraglos die bundesweite Solidaritätsbewegung mit den Heinze-Frauen Anfang der 1980er Jahre, die erfolgreich entlang aller Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht gegen Lohndiskriminierung gekämpft haben. Eine Frauenforscherin der Universität Bonn betrachtet das heute als »einen der bedeutendsten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik«.
Offensichtlich unterscheidet sich das Leben heutiger Frauen grundlegend von dem ihrer Mütter und Großmütter. Erwerbstätigkeit ist zum Beispiel die Regel, nicht mehr die Ausnahme. An den Universitäten studieren mehr Frauen als Männer und Deutschland wird von einer Frau regiert. Sind die wesentlichen Ziele der Emanzipationsbewegung erreicht?
Zweifellos gibt es Fortschritte, etwa im gewachsenen Selbstbewusstsein der Frauen, im fortschreitenden Bildungsstand oder der größeren ökonomischen Unabhängigkeit vom Mann. Aber die sind nicht wie Geschenke vom Himmel gefallen. Die meisten Fortschritte sind das Ergebnis von Kämpfen, in die sich Frauen zunehmend eingemischt haben, in den Betrieben, als Betriebs- und Personalrätinnen, in den Gewerkschaften, in den Parteien und der Politik, auf Demonstrationen, bei Streiks.
Es gibt jedoch auch Rückschläge. Schauen wir doch mal genau hin, wie sieht es aus mit der Erwerbstätigkeit von vielen Frauen? Dort haben prekäre Arbeitsverhältnisse erheblich zugenommen: Leiharbeit, Zeitarbeit, befristete Beschäftigung, erzwungene Teilzeitarbeit, Mini- oder Midi-Jobs, von Hartz IV ganz zu schweigen. Für immer mehr Menschen wird die Existenzsicherung unter Vorbehalt gestellt. Die Verunsicherung reicht hinein bis in die lohnabhängigen Mittelschichten. Millionen Menschen können nicht mehr von ihrer Arbeit leben. Die Arbeits- und Rentenzeit wird verlängert statt verkürzt, Kinderarmut grassiert, Beruf und Familie sind für viele nicht vereinbar. Da fragst du, ob die Ziele der Emanzipationsbewegung erreicht sind?
Was heißt denn überhaupt Emanzipation? Ich habe gelernt, dass es ein Prozess oder eine Bewegung zur Befreiung ist, zur Befreiung von Fesseln. Es geht um mehr als die Gleichberechtigung mit dem Mann. Emanzipation hat etwas gesellschaftlich Anderes zum Ziel, etwas, das über den Kapitalismus hinausweist. Es geht um die Überwindung der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es geht um Individualität – nicht Individualismus -, also um die Freiheit des Individuums, sicher auch um die ökonomische Unabhängigkeit der Frau vom Mann, ebenso um die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, und um eine Welt ohne Gewalt und Krieg.
In der Frauenbewegung wird immer wieder über das Verhältnis von sozialer Befreiung und Frauenbefreiung gestritten. Du hast dich dafür stark gemacht, die Geschlechterfrage mit der Klassenfrage zu verknüpfen. Warum?
Vorab: Ich bin aus voller Überzeugung Mitglied der Strömung Sozialistische Linke. Was dort gesagt und geschrieben ist, entspricht meiner langjährigen Erfahrung als Gewerkschafterin. In der Gründungserklärung heißt es unter anderem, dass wir einen neuen Anlauf unternehmen wollen, »um die Herrschaft des Kapitals zu überwinden«. Außerdem verstehen wir uns als »realistisch, kritisch, radikal und klassenorientiert zugleich«.
Was die Frauenfrage angeht, so lesen wir etwa bei den Frauen der Europäischen Linken, dass es eine Verschränkung von Klasse und Geschlecht im Lebenszusammenhang von Frauen und Männern gibt. Nun wollen wir doch wissen, wie sich das konkret verhält. Und da sind wir auf eine Untersuchung zu »Klasse und Geschlecht« gestoßen.
Die beiden Autorinnen Margareta Steinrücke und Petra Frerichs kritisieren darin, dass vielen Untersuchungen ein Erklärungsansatz gemeinsam ist: Menschen werden nur auf ihre Eigenschaft, Männer oder Frauen zu sein, reduziert. Damit wird von anderen, für sie möglicherweise bedeutsameren Eigenschaften, wie Angehörige einer bestimmten Klasse zu sein, abstrahiert.
Aus dem Blick geraten dabei spezifische Unterdrückungserfahrungen von Frauen verschiedener Klassen, sowie die Solidarität von Frauen und Männern einer Klasse, wenn sie gemeinsam gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Not auftreten.
Nun kann ich hier nicht die gesamte Untersuchung erläutern. Wichtig ist das Ergebnis: Die Autorinnen sagen, dass wir auf keinen Fall von einem einheitlichen und damit solidarisierungsfähigen Großsubjekt »Frau« ausgehen können. Frau-Sein bedeutet in verschiedenen Klassen Unterschiedliches. Und – das ist wichtig für uns – »dazu bedarf es«, so schreiben sie, »diskursiv strukturierter Zusammenhänge von Frauen und der politischen Organisation, ohne die im Übrigen noch keine Befreiungsbewegung ihre Heterogenität hat überwinden können…«.
Was aber heißt das für unseren politischen Alltag? Wir Frauen müssen doppelt kämpfen, einerseits mit allen Lohnabhängigen zusammen gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Sozial- und Demokratieabbau und gegen Krieg – andererseits mit den Frauen zusammen gegen soziale, sexuelle und kulturelle Unterdrückung. Und wenn wir mit Clara Zetkin weiterhin sagen »die Frauenfrage ist ein Teil der sozialen Frage«, dann verstehen wir darunter die Zusammenfassung von all dem.
Was gibst Du der LINKEN für ihren Kampf gegen Frauenunterdrückung mit auf den Weg?
Genau das! Es geht um emanzipatorische Forderungen, die gleichzeitig mobilisierungsfähig sein müssen – also Kristallisationspunkte, in denen sich wie in einem Brennglas gebündelt Diskriminierung, Unterdrückung, Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse spiegeln. Aber es geht auch um kreative Aktionsformen, die die Entwicklung der Solidarität fördern und damit dem neoliberalen Denkgift entgegenwirken. Die Frauen der LINKEN brauchen freilich auch Bündnispartnerinnen und Bündnispartner. Wie wäre es zum Beispiel mit Betriebsrätinnen? Davon gibt es über 50.000 und bestimmt – mir fehlen die genauen Zahlen – noch einmal so viele Personalrätinnen. Sie alle sind, wenn sie Frauendiskriminierung aufgreifen, Grenzgängerinnen zwischen den Klassen- und Geschlechterverhältnissen und zwar am unmittelbaren Ort des Geschehens. Die Frauen der Sozialistischen Linken haben sich vorgenommen, an all diesen Herausforderungen weiterzuarbeiten. Und das ist gut so.
Zu diesem Text:
Bei diesem Text handelt es sich um die leicht überarbeitete und gekürzte Version eines Interviews, das erstmalig im Februar 2008 in marx21 erschienen ist. Das Gespräch führte Stefan Bornost.
Zur Person:
Gisela Kessler war von 1971 bis 1991 Frauensekretärin im Hauptvorstand der IG Druck und Papier, später der IG Medien. Bis 1995 war sie zudem stellvertretende Vorsitzende ihrer Gewerkschaft. Im Jahr 1979 organisierte sie die Solidaritätsbewegung mit den »Heinze-Frauen«. Heute ist Gisela Kessler stellvertretende Vorsitzende des Ältestenrates der LINKEN.
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