Er ist das eigentliche Druck- und Machtmittel des gewerkschaftlichen Kampfes: der Streik. Er stand im Zentrum der Konferenz »Erneuerung durch Streik – Erfahrungen mit einer aktivierenden und demokratischen Streikkultur« vom 1. bis 3. März in Stuttgart. Von Heinz Willemsen
Am Wochenende vom 1. bis 3. März fand in Stuttgart die Konferenz »Erneuerung durch Streik- Erfahrungen mit einer aktivierenden und demokratischen Streikkultur« statt. Organisiert wurde die Veranstaltung vom streikfreudigstem Bezirk innerhalb von ver.di, dem Bezirk Stuttgart, in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die Besucherzahl der Konferenz übertraf alle Erwartungen. Mit mehr als 450 Teilnehmern war diese Konferenz die bisher größte Gewerkschafter-Veranstaltung im Umfeld der LINKEN. Die Stimmung war durchweg gut. Weit verbreitet war das Gefühl, Teilnehmer einer historischen Veranstaltung zu sein und eine neue Art von Gewerkschaftskonferenz zu erleben.
Gewerkschaftlicher Mittelbau
Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer waren Sekretäre aus dem gewerkschaftlichen Mittelbau. Gerade in den Bereichen jenseits der großen Betriebe der Metallindustrie und des öffentlichen Dienstes stammen viele Funktionäre aus Bereichen, in denen zur Hochzeit des Wohlfahrtsstaates und der Sozialpartnerschaft wenig bis keine eigene Streikerfahrung gesammelt werden konnte. Die massiven neoliberalen Angriffe der letzten 10 bis 20 Jahre haben nun aber dazu geführt, dass dort das Interesse an einer aus der eigenen Kraft resultierenden gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit steigt.
Eine neue Offenheit, eingefahrene gewerkschaftliche Wege zu verlassen, und ein gewachsenes Interesse an kämpferischen Ansätzen wie denen von ver.di Stuttgart sind dort weit verbreitet. Daneben waren auch viele betriebliche und ehrenamtliche Funktionäre (Betriebsräte, Vertrauensleute) in Stuttgart, sowie prominente Gewerkschafter der Partei DIE LINKE wie Klaus Ernst.
Linke Wissenschaftler
Ebenfalls den Weg nach Stuttgart gefunden hatten ein Reihe linker Wissenschaftler. War das wissenschaftliche Interesse an Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in den letzten Jahrzehnten nahezu völlig aus den deutschen Universitäten verschwunden, so ist auch hier in den letzten Jahren das Interesse an der größten sozialen Bewegung wieder erwacht.
Erfreulich war die Teilnahme von 22 Studenten vom SDS aus Berlin. Diese wollen die konkrete Solidarität mit einem möglichen Streik der Charité-Kliniken in Berlin organisieren. Überhaupt hat es schon seit Ewigkeiten keine gewerkschaftliche Veranstaltung mehr gegeben, deren Teilnehmer so jung waren wie auf der Konferenz in Stuttgart.
Klassenkampf statt passive Repräsentanz
Nicht nur von der Zahl der Teilnehmer war die Konferenz einzigartig. Gewöhnlich erschöpfen sich gewerkschaftliche Veranstaltungen der LINKEN in sozialpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Appellen an die Politik. Als Sprachrohr der Gewerkschaften soll DIE LINKE im Parlament dafür sorgen, dass der Kapitalismus reguliert wird. So soll die verloren gegangene gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit wieder hergestellt werden.
Nicht nur Konservative und Neoliberale stimmen in den Abgesang auf die Arbeiterklasse ein. Auch viele Linke sind zutiefst pessimistisch und skeptisch, was Gewerkschaften und Arbeiterbewegung als handelndes Subjekt von Gesellschaftsveränderung anbetrifft. Hier dagegen versammelten sich Gewerkschafter explizit mit dem Ziel einer strategischen, kämpferischen Erneuerung in den Gewerkschaften. Schwerpunkt der Debatten waren Erfahrungen mit einer aktivierenden und demokratischen Streikkultur.
Die neue Macht der Beschäftigten
Entsprechend groß war das Interesse an den konkreten Streik-Erfahrungen von ver.di Stuttgart, um für die eigene Praxis zu lernen. Regelmäßige Streikversammlungen, Warnstreiks von mindestens einem ganzen Tag, Verknüpfung von Streiks mit Kampagnen, Stärkung der Ehrenamtlichen gegenüber den Funktionären, »Alle gemeinsam – vereint Streiken« – das sind nur einige der Stichworte, die den Erfolg von ver.di Stuttgart ausmachen.
Zur guten Stimmung auf der Konferenz trugen aber auch die zahlreichen Berichte aus vielen anderen Orten bei. Diese zeigen, dass es weit mehr Beispiele erfolgreicher Streiks gibt – in Bereichen, wo dies vor Jahren kaum für möglich gehalten wurde. Diese Entwicklung wird auch durch die jüngste Studie der Hans-Böckler-Stiftung unterstrichen, die auf eine deutliche Zunahme von Arbeitskämpfen im Jahr 2012 verweist.
Lange und erfolgreiche Streiks
So haben etwa Beschäftigte in der individuellen Behindertenassistenz in Frankfurt einen langen und zähen Streik geführt, der mit Lohnsteigerungen zwischen 10 und 20 Prozent einen Erfolg erzielte, von dem viele Betriebe aus der Industrie nur träumen können. Und die Beschäftigten der Charité-Kliniken in Berlin hatten in einem heftigen Streik erreicht, dass ihre jahrelang abgekoppelten Löhne wieder an das Niveau des öffentlichen Dienstes anschließen. Dabei sind sie mit dem Betten- und Stationsschließungsstreik ganze neue Wege gegangen, die für den gesamten Krankenhaussektor neue Streikperspektiven erschließen.
Möglich wurde das, weil viele der neoliberalen Veränderungen der letzten Jahre einen doppelten Charakter haben. Einerseits ging damit ein beschleunigter Sozialabbau, Lohnzurückhaltung und ein wachsender Niedriglohnsektor einher. Anderseits erwuchs den Beschäftigten auf der betrieblichen Ebene aber auch eine neue ökonomische Machtstellung. In den Streiks von Erzieherinnen, in Krankenpflege, Behindertenassistenz und Call-Centern wurde diese sichtbar. Diese neue ökonomische Macht auch zu nutzen, das ist die Botschaft, die von der Stuttgarter Konferenz ausgeht.
Orientierung auf Klassenkämpfe
Der Kongress stellt den Beginn einer Formierung kämpferischer Kräfte in den Gewerkschaften dar. Es war Konsens, dass sich Gewerkschaften und die Art ihrer Streikführung ändern müssen in Richtung Demokratisierung von Streiks, Aktivierung von Beschäftigten und kreativen Aktionsformen. Bernd Riexinger hat in seinem Eröffnungsvortrag deutlich gemacht, wie wichtig eine Demokratisierung der Streiks ist, um Gewerkschaften wieder zu Klassenkampforganisationen zu machen.
Damit kann die Konferenz den Ansatzpunkt bilden, um diejenigen Gewerkschafter in der LINKEN zu sammeln, die sich auch eine praktische Orientierung auf Klassenkämpfe wünschen, und eine kämpferische und strategische Intervention in den Gewerkschaften wollen. Auf der Konferenz wurde außerdem ein Aufruf speziell an Gewerkschafter verabschiedet, sich an den Blockupy-Protesten in Frankfurt am 31. Mai und 1. Juni zu beteiligen.
Solidarität mit der Charité
Auf Regional- und Branchentreffen wurde versucht, die Erfahrungen des Kongresses für die Arbeit der kommenden Monate vor Ort fruchtbar zu machen. Im Krankenhausbereich wird derzeit versucht, die »Druck-muss-raus«-Kampagne von ver.di wieder vorantreiben, die sich zum Ziel setzt, Mindestbesetzung in Krankenhäusern gesetzlich und tariflich zu erkämpfen.
Der entscheidende Impuls dafür geht derzeit von dem Kampf an der Charité aus, der das exemplarisch betrieblich angeht. Gleichzeitig gibt es innerhalb der LINKEN die Überlegung, ein Hearing zu einem Gesetzesentwurf über Mindestbesetzungen im Bundestag zu organisieren und dazu bundesweit Betriebs- und Personalräte einzuladen.
Dieser Kampf wird ohne politische Solidarität in Berlin und bundesweit nicht gewonnen werden können. Dabei ist in besonderem Maße DIE LINKE gefordert. Bernd Riexinger hat die Idee aufgebracht, ob DIE LINKE nicht Aktionen in 100 Kreisverbänden vor Krankenhäusern machen könnte.
Generalangriff im Einzelhandel
Im Einzelhandel findet derzeit ein Generalangriff auf alle Beschäftigten statt – durch die Kündigung des Manteltarifvertrages seitens des Unternehmerlagers. Unter dem Vorwand, die Tarifverträge durch Herausnehmen veralteter Tätigkeitsbeschreibungen auf die Höhe der Zeit zu bringen, findet eine systematische Infragestellung aller bisher erkämpften Rechte und Erfolge statt. Die Zuschläge sollen angegriffen, die Beschäftigten sollen herunter gruppiert und allgemein die Flächentarife aufgeweicht werden.
Die kommende Tarifrunde in diesem Jahr ist also alles andere als eine ganz gewöhnliche Tarifauseinandersetzung. In der Bundesführung des ver.di-Fachbereichs für den Handel scheint noch eine gewisse Unsicherheit zu herrschen, wie mit den Angriffen umzugehen ist. Noch gibt es dort eine gewisse Hoffnung, durch Verhandlungen das Schlimmste zu verhindern. In einer Situation, wo die Arbeitgeber unter einer Modernisierung der Tarifverträge nichts anderes als einen tarifpolitischen Kahlschlag verstehen, dürfte dies jedoch kaum eine realistische Perspektive sein.
Auf der Konferenz in Stuttgart sind Fachbereichsvertreter aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Niedersachen und Teilen von Hessen jedenfalls darin übereingekommen, sich frühzeitig zu vernetzen und ihre Erfahrungen über Aktions- und Streikmöglichkeiten auszutauschen und zu koordinieren. In den kommenden Monaten ist vor allem auch DIE LINKE gefordert, Solidaritätsaktionen mit dieser Tarifauseinandersetzung zu organisieren.
Weitermachen nach dem Kongress
Damit der Impuls der Konferenz für eine Erneuerung der gewerkschaftlichen Arbeit vor Ort und der Gewerkschaftsarbeit der LINKEN genutzt werden kann, gibt es eine Reihe von Veranstaltungen:
- Am 16. März findet in Berlin eine gewerkschaftliche Konferenz statt
- Am 6. April lädt die Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft der LINKEN in NRW in Düsseldorf ein
- Am 14. März gibt es ein lokales Treffen des Hannoverschen Zukunftsforums kritischer GewerkschafterInnen (um 17.30 Uhr in den ver.di-Höfen)
- Auch für Baden-Württemberg ist eine Nachfolgeveranstaltung geplant, allerdings steht der Termin noch nicht fest
- Weitere regionale Kontakte auf der Homepage der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Nach dem Kongress: Weiterdiskutieren auf Marx is‘ Muss
Auf dem Marx-is‘-Muss-Kongress in Berlin vom 9. bis 12. Mai gibt es im Gewerkschaftsblock die Gelegenheit, viele der Fragen weiter zu diskutieren, die in Stuttgart aufgeworfen worden sind. Besonderes Highlight: Bernd Riexingers Workshop über die Aktualität von »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« von Rosa Luxemburg.
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