1968 kämpften nicht nur Studierende. Ihre Proteste waren auch der Startschuss für eine Welle von Arbeiterkämpfen auf der ganzen Welt. Davon erzählt das Buch »1968 – Eine Welt in Aufruhr«, über das wir mit dem damaligen SDS-Aktivisten Volkhard Mosler sprachen
Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21 und war 1968 Mitglied im Vorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt am Main.
Anfang des Jahres erschien die Neuauflage des Buches »1968 – Eine Welt in Aufruhr«, an deren Überarbeitung du mitgearbeitet hast. Es gibt doch schon eine Menge an Büchern zu diesem Thema. Warum noch eins?
Für die Neuauflage aktualisiere ich den schon bestehenden Ergänzungstext zu 1968 in Deutschland. Das Buch des britischen Marxisten Chris Harman ist ein einmaliges Dokument der 68er-Bewegung. Harman, der 1967/68 ein führender Aktivist der Revolte an der London School of Economics (LSE) war, hat zwanzig Jahre später eine kritische Verteidigung der 68er-Bewegung geschrieben. Mit »kritischer Verteidigung« meine ich, dass er den revolutionären Aufschwung der Studenten- und Arbeiterbewegung dieser Epoche als enorme Chance für den Marxismus als organisierte Kraft sieht.
Zum ersten Mal seit den 1920er-Jahren entsteht weltweit eine neue revolutionäre Linke jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus, die beide den Sieg des Faschismus in Deutschland zu verantworten hatten und die internationale Arbeiterbewegung auch nach 1945 paralysierten. Zugleich kritisiert Harman aber schonungslos die Tendenz des Voluntarismus, der Selbstüberschätzung der neuen Studentenbewegung. »Che Guevaras Parole ›Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen.‹ sei – schreibt Harman – »wenn man sie als direkte Handlungsanleitung interpretiert, katastrophal.« Aber diese Parole hing als Riesentransparent auf dem großen Vietnamkongress des SDS in Berlin im Februar 1968.
Harman zeigt auch, wie ein unkritischer Antiimperialismus den Niedergang der 68er-Bewegung Mitte der 1970er-Jahre beschleunigte. Ich benutze das Buch immer wieder als eine Art Nachschlagewerk.
Du warst damals Aktivist im Frankfurter SDS. Welche Rolle spielten damals die Studierenden in Deutschland?
Die Studierenden waren Funken einer großen Explosion der Klassenkämpfe in vielen Ländern. Die Revolte begann genau genommen 1964 im kalifornischen Berkeley mit einer Besetzung der Universität, sie setzte sich fort im ersten großen Sit-In an der Freien Universität Berlin im Sommer 1966, in der Besetzung der LSE im März 1967, in Turin 1967 und schließlich in Nanterre und an der Sorbonne in Paris im Frühjahr 1968. Die Auswirkungen der Studentenrebellion, die bald große Teile des Bildungs- und Ausbildungssektors erfasst hatte, waren überall ähnlich, aber nicht gleich. Sie spielten eine zentrale Rolle für den Aufschwung an proletarischen Klassenkämpfen in den entwickelten Industrieländern des Westens.
In Deutschland sind die spontanen Streiks von 1969 das unmittelbare Resultat. Schon in den Osterunruhen 1968 tauchten plötzlich Jungarbeiter auf. Der Geist der Rebellion der Studierenden löste die größte Lehrlingsbewegung der deutschen Arbeiterbewegung aus. Ich selbst bin mit einer Gruppe von etwa zwanzig Jungarbeitern aus Darmstadt zum Vietnamkongress nach Berlin gefahren.
War denn ’68 nicht in erster Linie ein Aufstand der Jugend gegen ihre Eltern wegen deren Nazivergangenheit?
Die nach 1945 versäumte radikale Abrechnung mit der Naziherrschaft und die allgegenwärtige Präsenz alter Nazis in staatlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Führungspositionen in Westdeutschland hat sicher eine Rolle gespielt. Die Selbstbezeichnung der radikalen Flügels des SDS unter Führung von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl als antiautoritär lehnte sich ja an Faschismustheorien aus dem Umfeld der Frankfurter Schule an, deren Schlüsselbegriff der »Autoritäre Charakter« war. Aber in erster Linie ging es um den Sturz des Kapitalismus mit den Methoden des revolutionären Kampfes, wobei in der Phase bis 1968 das Subjekt der geplanten Revolution noch gesucht wurde.
Der internationale Charakter der 68er-Bewegung zeigt, dass es sich hier nicht um ein spezifisch deutsches Phänomen handelte. Die Ursachen und auslösenden Momente waren überall ähnlich: Die enorme Wachstumsphase des Nachkriegskapitalismus hatte zur Explosion der Studierendenzahlen und zu einer enormen Ausweitung der Arbeiterklasse weltweit geführt. Hinzu kam, dass der Vietnamkrieg der USA, der 1964 begonnen hatte, und das atomare Wettrüsten im Kalten Krieg einen Fokus für antikapitalistische Bewegungen bildeten.
Das Buch: »1968 – Eine Welt in Aufruhr«
Chris Harman: »1968 – Eine Welt in Aufruhr« | Edition Aurora | Zweite Auflage | 488 Seiten | 16,80 Euro
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Wenn wir die Ereignisse in Frankreich im Mai 1968 mit dem Generalstreik der Arbeiterklasse bis hin zur vorübergehenden Flucht des Präsidenten Charles de Gaulle in den Schwarzwald mit den Entwicklungen in Deutschland vergleichen, drängt sich das Gefühl auf, dass der Funke nicht so wirklich übergesprungen ist. Stimmt das?
Jein. Überall gab es einen Aufschwung von Klassenkämpfen, die die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verschoben. Dieser Aufschwung nahm in Italien 1969 und Frankreich die Form von revolutionären Massenstreiks und Generalstreiks an. In anderen Ländern wie Westdeutschland, Schweden, den Niederlanden und den USA kam es 1969 zu spontanen Streiks und zu Konflikten mit konservativen Gewerkschaftsführungen. Die Zahl und die Militanz der Streiks gingen auch in Deutschland in die Höhe. 1970 war das Jahr mit den höchsten Lohnsteigerungen, die es je gegeben hatte. Unter dem Druck ihrer selbstbewusst gewordenen Basis in den Betrieben kam es in jenem Jahr zu massiven Warnstreiks in mehreren Branchen. In vielen Betrieben bildeten sich aktivistische Betriebsgruppen um Kerne politischer Kader. Die Gewerkschaftsführungen reagierten mit Extremistenbeschlüssen und schlossen flächendeckend hunderte Mitglieder maoistischer und trotzkistischer Gruppen aus. Zugleich setzte eine Radikalisierung der Schichten der Angelernten im Niedriglohnbereich ein. Eine zweite Welle von spontanen Streiks – wir nannten sie den Aufstand der Angelernten – wurde 1973 getragen von Arbeiterinnen und Migranten. Die Lehrlingszentrenbewegung 1969-73 führte zur Politisierung einer ganzen Schicht von Jungarbeiterinnen und Jungarbeitern. Die revolutionären Gruppen blieben zwar in der Minderheit, aber oftmals konnten sie auch größeren Einfluss auf Tarifrunden und Streikbewegungen gewinnen.
War 1968 denn hauptsächlich in Deutschland und Frankreich so herausragend oder auch anderswo?
1968 machte zunächst die Studentenrebellion in Deutschland den Anfang. Die größten Proteste und Demonstrationen mit Warnstreiks in einer Anzahl von Betrieben gab es im Mai gegen die von einer Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger verabschiedeten Notstandsgesetze. Aber die Bewegung griff auch auf Polen und die Tschechoslowakei über, selbst in der DDR fand sie einen Widerhall. Und auch in Spanien unter Franco kam es 1969 erstmals wieder zu nennenswerten Streiks und Protesten im Baskenland. Wie alle großen Aufschwünge von Klassenkämpfen, namentlich 1789, 1830, 1848, 1871, 1917-8 und 1935, hatte auch dieser Kampfzyklus, der in Berkeley 1964 begonnen hatte und mit der Portugiesischen Revolution 1976 sein Ende fand, einen internationalen Charakter.
Viele, die beim Aufbruch 1968 dabei waren, sind Teil eben jenes Establishments geworden, das sie früher bekämpft hatten. Kannst du dir das erklären?
Ich habe bereits zwei Schwächen der 68er-Bewegung genannt, die zu Enttäuschungen führen mussten. Erstens war das der extreme Voluntarismus, also die Vorstellung, dass allein der revolutionäre Wille zählt, um eine Revolution herbeizuführen. Der von der Frankfurter Schule kommende Jürgen Habermas hatte 1967 den Antiautoritären im SDS vorgehalten, es genüge nicht, dass der Gedanke zur Wirklichkeit dränge, sondern umgekehrt müsse auch die Wirklichkeit zum Gedanken drängen. Er hatte damit einen wunden Punkt der Bewegung benannt, der zu ihrem Niedergang und zur späteren Enttäuschung und Reue vieler Aktiven beitrug. Die 68er-Bewegung hatte keine revolutionäre Krise in Deutschland ausgelöst und die überhöhten revolutionären Erwartungen vieler Beteiligter mussten so zur Abkehr von revolutionären Ideen führen.
Zweitens hat die unkritische Unterstützung von Anführern wie Ho Chi Minh, Fidel Castro, Mao Tse Tung und Pol Pot sowie ihrer vermeintlich kommunistischen Parteien zur Abwendung von sozialistischen Ideen beigetragen. Beides hat dann mit dem beginnenden Niedergang der Klassenkämpfe Ende der 70er-Jahre in Deutschland zur Gründung der Grünen und zur Rückkehr ins parlamentarische bürgerliche Leben geführt. Sowohl Rudi Dutschke als auch Daniel Cohn-Bendit waren 1979 Mitgründer der Grünen.
Du warst 1968 schon auch in Frankfurt aktiv, hast also die 68er-Bewegung hautnah miterlebt. Was bleibt für dich heute?
Erstens habe ich erlebt, wie rasch sich Ideen durch kollektive Kämpfe verändern. Studierende, die gestern noch bürgerlich-liberal dachten und fühlten, entwickelten sich durch diese Erfahrung in kürzester Zeit zu revolutionären Sozialisten. Junge Arbeiter, die gestern noch unpolitisch waren, nahmen plötzlich begierig marxistische Gedanken auf.
Zweitens bleibt ein Gefühl großer Unzufriedenheit. In Deutschland gab es keine organisierte antistalinistische Kraft in der Bewegung, die die Rückkehr des Stalinismus durch die Hintertür des Maoismus oder die Vordertür der DKP hätte verhindern können. Wir bezahlten dafür einen hohen Preis: Gerhard Schröder und Joschka Fischer, beide Ex-68er, brachten in der ersten rot-grünen Regierung die Hartz-Gesetze und die Rückkehr Deutschlands zu imperialistischen Kriegseinsätzen. 1968 war auch eine verpasste Chance für den Aufbau einer revolutionären Partei des lebendigen Marxismus. Das nächste Mal müssen wir besser vorbereitet sein. Und ein nächstes Mal kommt bestimmt.
Das Interview führte Matthias Danyeli.
Schlagwörter: 1968, Chris Harman, Dutschke, Generalstreik, SDS, Studentenproteste, Studentenrebellion, Vietnamkongress