Die Politik versucht, die Anschläge von Boston für politische Zwecke und einen Angriff auf unsere Bürgerrechte zu instrumentalisieren. Ein Kommentar von Nicole Colson
Die Jagd auf die Verdächtigen der Bomben-Anschläge von Boston ist vorbei, doch die Konsequenzen werden noch länger spürbar sein: im politischen Mainstream, in der Verteufelung des “radikalen Islam” in den USA und andernorts sowie in Fragen zu Bürgerrechten und der Möglichkeit ihrer Einschränkung, sobald politische Authoritäten eine “terroristische Bedrohung” feststellen.
Zwei Wochen nachdem Tamerlan Tsarnaev in einem Schusswechsel getötet, sein Bruder Dzhokhar Tsarnaev verletzt und daraufhin verhaftet wurde, sind uns die Motive der zwei Tatverdächtigen noch immer unbekannt. Trotzdem wollen uns die Medien durch Spekulationen weißmachen, dass die Entscheidung der Verdächtigen, ein solches Blutbad anzurichten, etwas mit ihrer tschetschenischen Herkunft oder ihrer Identität als Muslime zu tun hat – oder mit beidem.
Was wir jedoch jetzt schon wissen, ist, dass es einen Ansturm derer geben wird, die politisch punkten wollen – und dieser Sturm wird auf Kosten unserer Rechte gehen.
Die Anschläge auf den Boston Marathon waren ein sadistischer Angriff mit dem Ziel, möglichst viele Menschen zu verstümmeln.Sie waren gegen Menschen gerichtet, die keine Verantwortung für die Mißstände in unserer Gesellschaft tragen. Nichtsdestotrotz werden die Bombenanschläge jetzt als Rechtfertigung für eine Agenda von Gewalt und politischer Repression benutzt.
Auch, wenn es nicht sonderlich popular scheint, sollten Gegner von Krieg, Rassismus und Ungerechtigkeit sich jenen zur Wehr setzen, die den Gräuel der Anschläge als Begründung zweckentfremden, um uns zu entrechten.
Alle rassistisch eingefärbten Annahmen über “Terrorismus”, die unter der Oberfläche der amerikanischen Medien und der Politik schlummerten, sind in den letzten Wochen aufgekocht.
Anfangs zögerten die Medien noch, das Boston-Attentat offen als einen Akt islamistischer Extremisten aus dem Nahen Osten zu benennen. Doch auch in den ersten Tagen nach der Tragödie gab es Ausnahmen – so bezeichnete der CNN-Nachrichtenmoderator John King die Attentäter als “eher dunkelhäutig” mit einem “wohl ausländischen Akzent”.
Doch keine Veröffentlichung ging so weit wie die der “New York Post”: Die Zeitung hatte zunächst fälschlicherweise berichtet, ein “nationalistischer Saudi” wäre für die Bombenanschläge verantwortlich gewesen und zierte auch gleich ein Bild zweier Männer mit der Überschrift “Kriminelle: das FBI sucht diese zwei Männer” auf dem Titel. Die vermeintlichen Verdächtigen waren jedoch weder die Brüder Tsarnaevs, noch hatten sie etwas mit den Anschlägen zu tun. Weil sie jedoch dunkelhäutig waren, sah sich die “New York Post” darin gerechtfertigt, sie zur Zielscheibe gesellschaftlicher Agressionen zu machen.
Später behauptete die Zeitung hinter ihrer Veröffentlichung zu stehen, da sie “[die beiden abgebildeten Männer] nicht als Tatverdächtige dargestellt” habe. Tom Scocca von Gawker.com nannte diese Ausrede “bornierte Scheiße”.
Hinter all dem stehen die Vorurteile der Medien – und mit ihnen dir der Politik– darüber, wie “Terrorismus” zu definieren sei: und zwar als gewalttätiger Akt von Menschen aus dem mittleren Osten, die sich eindeutig zum Islam bekennen.
Die Auswirkungen der Anschläge auf den Boston Marathon waren schnell spürbar. Am Abend der Anschläge wurde der Bangladescher Abdullah Faruqu von mehreren Männern angegriffen, die ihn “verdammten Araber” nannten. Zwei Tage nach dem Attentat wurde die junge palastinensische Ärztin und Mutter Heba Abolaban in Malden, Massachussetes bedroht, während sie mit ihren Kindern spazieren ging. Der Täter schlug ihr erst gegen die Schulter und schrie dann “Fickt euch, ihr Moslems!” sowie “Ihr seid doch an den Explosionen in Boston Schuld!”
Nachdem die Brüder Tsarnaev erst einmal verdächtigt worden waren und Hintergrundinformationen über sie, das heißt über ihre Emigration von Tschetschenien in die USA sowie ihren muslimischen Glauben, ans Licht kamen, kam die rassistische Verfolgungsjagd erst richtig in Gang.
Es ist wenig überraschend, dass die Republikaner diese Hexenjagd mitanführten. Der republikanische Abgeordnete des Präsentantenhauses Steve King sagte der “National Review”, er wolle einen neuen McCarthyismus. Außerdem müsse die Polizei “realisieren, dass die Bedrohung aus der muslimischen Gemeinde kommt und die Überwachung dorthingehend erhöht” werden müsse. Greg Ball, Mitglied des Senats von New York würde im Falle von Dzokar Tsarnaev sogar Folter anwenden: “Wer würde diesen Dreckskerl nicht foltern, wenn er dafür Menschleben retten könnte?”
Die Senatoren Lindsey Graham aus South Carolina, Kelly Ayotte aus New Hampshire and John McCain aus Arizona plädierten dafür, Dzhokhar Tsarnaev den Status eines “ungesetzlichen Kombattanten” zu verleihen, damit, so Graham zur “New York Times”, die politischen Autoritäten “ihn für eine lange Zeit ohne Anwalt und außerhalb des Strafjustizsystems befragen” können.
Doch die Republikaner können unbesorgt sein. Tsarnaev wird bereits “ohne Anwalt” befragt und es ist ungewiss, wann er einen bekommen wird: Denn die Regierung unter Obama beruft sich auf eine legale Bestimmung, die es ihr in uneindeutig definierten Situationen der “anhaltenden Bedrohung der öffentlichen Sicherheit” erlaubt, mutmaßlichen Täter ihr Recht, die Aussage zu verweigern und einen Anwalt zu Rate zu ziehen (das sog. Miranda-Recht, Anmerkung des Überetzers), vorzuenthalten.
Niemand behauptet, dass es wirklich eine “anhaltende Bedrohung der öffentlichen Sicherheit” gibt. Deval Patrick, Gouverneur der Bundestaates Massachussets, sagte den “NBC News”: “Es gibt keinerlei Grundlage für die Angst vor einer immanenten Bedrohung”. Dennoch widersprachen in der Politik nur wenige der Entscheidung von Obamas Regierung.
Demokrat Charles Schumer, Senator des Bundesstaates New York, mag im Vergleich zu Lindsey Graham moderat klingen, er steht jedoch gleichermaßen für die Verletzung von Bürgerrechten.
“Ich denke, die gute Neuigkeit ist, dass wir ihn überhaupt nicht ‘gesetzlichen Kombattant’ nennen müssen, um ihm all jene Informationen zu entlocken, die wir brauchen”, so Schumer zu der “Times”. “Denn zuerst haben wir ein Gericht, ein Gericht, das sich für ein hohes Maß an Flexibilität in Ausnahmefällen der öffentlichen Sicherheit entschieden hat, bevor jemand über sein Miranda-Recht informiert wird. Und zweitens, und das gilt immer, kann die HIG, die High-Value Interrogation Group, bestehend aus FBI, CIA und anderen, den Tatverdächtigen ohne Anwalt in einer gesicherten Situation befragen und all das, was sie brauchen, herausbekommen.”
Glenn Greenwald, Kolumnist beim “Guardian” hob die Scheinheiligkeit Schumers hervor, mit der dieser sich zwar von Grahams Rhetorik distanziere, gleichzeitig den Inhalt seiner Vorschläge aber unterstütze:
Es ist in der Tat bizarr mitanzusehen, wie Demokraten so tun, als seien Grahams Theorien eigenartig oder gar anstößig. Denn letztlich ist es genau diese Fraktion, die auf Obamas Recht besteht, selbst US-Bürger ohne Beweismittel, Anwalt oder einen fälligen Prozess hinzurichten. All das basiert auf der Tatsache, dass jeder, den der Präsident des Terrorismus bezichtigt, diese Rechte verwirkt…
Wenn man einmal das Kriegsparadigma, dass die gesamte Welt ein Schlachtfeld ist, übernommen hat – so wie es die Anhänger von Obamas Todeskommando tun müssen und ganz explizit getan haben – ist es unmöglich, Grahams Meinung, was mit Tsarnaev getan werden müsste, zu widersprechen. So scheint es geradezu notwendig, der Theorie, auf der Grahams Ansichten fußen, beizupflichten.
Wenn es überhaupt irgendeinen Zweifel daran gibt, ob die Regierung Obama in Fragen des Bürgerrechts der Vorgängerregierung Bush ähnelt, liefert George Bushs ehemaliger Generalstaatsanwalt, der verhasster John Ashcroft, den Beweis dafür.
In einem Gespräch mit der Radiomoderatorin Rachel Martin von National Private Radio (NPR) verteidigte Ashcroft, der nach dem elften September viele der schlimmsten Angriffe auf bürgerliche Freiheiten mitgestaltete, die Entscheidung der Regierung Obama, dem Verdächtigen Dzhokar Tsarnaev seine Miranda-Rechte vorzuenthalten.
Ashcroft behauptete diesbezüglich, dass die Nichtausübung der Miranda-Rechte gegenüber den Tatverdächtigen der Regierung geholfen habe, terroristische Angriffe zu unterbinden. In diesem Zusammenhang nannte er eine Liste vermeintlicher Terroristen, darunter Faisal Shazad, dem vorgeworfen worden war, einen Autobombenanschlag auf dem Time Square verüben zu wollen und Richard Reid, dem sogenannten “Schuhbomber”.
Viele dieser terroristischen Anschläge, die die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren angeblich vereitelt haben, sind nichts weiter als bloße Tricks: Tricks, für die das FBI hasserfüllte, verletzliche und sich am Rande der Gesellschaft befindliche Menschen auswählt, deren Wut auf die USA schürt und sie mit dem nötigen Geld und den passenden Mitteln ausgestattet, dazu ermutigt, bestimmte Ziele anzugreifen, um dann in letzter Sekunde einzugreifen und den Anschlag zu verhindern – und somit einen “Sieg” im “Kampf gegen den Terror” zu erringen.
Erik Love bemerkte auf Al Jazeera, dass diese angeblich vereitelten Anschläge in die Legende, dass Terrorismus nur von Muslimen begangen wird, eingehen: »Seit dem elften September fielen dem muslimisch-amerikanischen Terrorismus 33 Menschen zum Opfer, wohingegen politisch motivierte Angriffe von weißen Suprematisten und anderen rechten Extremisten mehr als 200 Menschen töteten, so eine Studie des Combating Terrorims Center der US-amerikanischen Militärakademie. Seit 2010 wurde niemand durch muslimisch-amerikanischen Terrorismus verletzt oder getötet. Warum haben dann so viele Amerikaner diese reflexartige Reaktion, dass es ‘bestimmt Muslime’ waren.«
So ist es auch keine Überraschung mehr, dass eine Umfrage des Gallup Center für muslimische Studien 2010 herausfand, dass 43 Prozent der Amerikaner zumindest “in geringem Maße” Vorurteile gegenüber Muslimen haben. In Bezug auf Christen, Juden oder Buddhisten ist diese Zahl mehr als doppelt so hoch. Diese Entwicklung ist eine direkte Folge der Dämonisierung von Muslimen im Zuge des “Kriegs gegen den Terror”.
Mit Sicherheit werden in Zukunft werden noch mehr Politiker auf diesen Zug aufspringen und weitere Einschränkungen unserer Rechte fordern, um unser Leben “sicherer” zu machen. Nur wird die Unterdrückung der Miranda-Rechte und anderer Rechte niemandes “Leben retten”. Unterdrückung bringt die Bedingungen für Verbitterung und Verzweiflung – in den USA und auch überall sonst – erst hervor, die dann in Wutanfällen enden können.
Jeder, der glaubt, dass die amerikanische Regierung die Unterdrückung der Bürgerrechte mit dem Fall Dzhokhar Tsarnaev beenden wird, braucht sich nur die Geschichte anzusehen. So schrieb Glenn Greenwald:
Rechte werden beschnitten, indem man sich zu allererst die an den Rand gedrängten Gruppen oder verhasste Individuen einer Gesellschaft vornimmt – in der Annahme, dass dem auf Grund der sozialen Stellung der Anvisierten niemand widerspricht. Werden die Rechtsverletzungen erst einmal hingenommen, sind sie für immer institutionalisiert. Wendet man sie an anderen an, und das werden sie unausweichlich, gibtes keine Grundlage mehr, auf der man ihnen widersprechen könnte.
Oder wie Journalistin Emily Bazelon, tätig für das Online-Magazin “Slate” schrieb: “Bevor sich die Gesetze für Dzhokhar Tsarnaev verbiegen, ist es leichter, den Rest der Gesellschaft zu verbiegen.”
(Aus dem Emglischen von Xenia Wenzel)
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