Gewerkschaftssekretärinnen und Gewerkschaftssekretäre in verschiedenen DGB-Gewerkschaften mit und ohne Mitgliedschaft in der Partei DIE LINKE sprechen sich gegen Obergrenzen und für eine offensive Perspektive eines universellen Bleiberechts aus. Eine kritische Replik auf ein innerhalb der Partei Die Linke diskutiertes Thesenpapier zur Einwanderungspolitik
Mit dem »Thesenpapier zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik« haben die Autorinnen und Autoren die Gelegenheit geboten, die Debatte um Migration zu versachlichen. Dies v.a., weil mit dem Papier zum ersten Mal eine Position, die auf Begrenzung von Migration durch deren Reglementierung zielt, umfassend und kohärent begründet wird. Die Autoren argumentieren dabei zum einen politisch-normativ. Zum anderen wollen sie eine vermeintlich »realistische« Perspektive auf Migration aufzeigen, die einer als gesinnungsethisch denunzierten Position (»no-border-Position«) entgegengestellt wird.
Auf beides gehen wir ein. Dabei möchten wir aufzeigen, dass der vermeintliche Realismus sowohl auf falschen Annahmen, als auch auf einem falschen politischen Verständnis der Funktion und der Wirkung von Migrationsregulierung beruht. Die Autorinnen und Autoren arbeiten an zentralen Stellen mit Auslassungen und Suggestionen. Damit aber schaden sie ihrem selbst gesteckten Ziel, die migrationspolitische Debatte innerhalb der politischen Linken zu versachlichen. Auch die Bezeichnung abweichender Positionen als »surreal«, »kurzschlüssig und weltfremd« ist dafür nicht hilfreich.
Ein eingeschränktes Verständnis von Not
»Der Schutz von Menschen in Not, die vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen kennt keine Einschränkungen« steht gleich zu Beginn des Thesenpapiers (1). Die Autorinnen und Autoren leiten daraus die Forderung nach einer »Wiederherstellung des Asylrechts für politisch Verfolgte« (1) und einem »umfassenden subsidiären Schutz für Flüchtende, deren Leben durch Kriege in Gefahr ist« ab (1). Unter Wiederherstellung des Asylrechts verstehen die Autorinnen und Autoren dabei insbesondere die Abschaffung des Dublin- und Schengen-Regimes und die Umsetzung des »Nichtzurückweisungsprinzips an den Grenzen« (1). Diese konkreten Forderungen begrüßen wir.
Doch lebt bereits dieser erste Abschnitt, von einer weitreichenden Setzung durch Auslassung: Die Autorinnen und Autoren postulieren ein sehr beschränktes Spektrum von Not als Not, die »keinerlei Einschränkung« kennt. Menschen, die z.B. vor den Folgen des von den Industriestaaten verursachten Klimawandels fliehen – sei es, weil Hochwasser ihre Lebensgrundlagen vernichtet oder eine Dürrekatastrophe ihre Ernten zerstört – sollen sehr wohl Einschränkungen unterliegen. Diese Notlagen sind weder durch das deutsche Asylrecht noch von den Schutzrechten nach der Genfer Flüchtlingskonvention (»subsidiärer Schutz«) gedeckt.
Zu verstehen, wie dieser Umstand der politisch-normativen Debatte durch geschickte Auslassung entzogen wird, ist zentral, um die gesamte Argumentationsweise des Textes zu verstehen. Der gesamte Text basiert auf der bürgerlich-liberalen Trennung der politischen und der wirtschaftlichen Sphäre.
Obergrenzen: Keine linke Forderung
Nachdem die Einschränkung des Schutzes von Menschen in Not durch die wortreiche Behauptung des Gegenteils eingeführt wurde, wird im Folgenden durchaus Tacheles geredet. Noch auf der gleichen Seite wird eine Obergrenze für die die Opfer wirtschaftlicher Verheerungen gefordert. Sie wird als solche aber nicht benannt, sondern als Entlastung von »Drittstaaten« die in »Fällen existenzieller wirtschaftlicher Not (etwa bei Klima- oder Hungerkatastrophen)« (1) durch »kontingentierte (sic!) Aufnahme von Flüchtlingen« (1) bezeichnet.
Die Autorinnen und Autoren klammern damit systematisch aus, dass ein wesentlicher Pushfaktor für Migration wirtschaftliche Not ist und wiederholen damit ein klassisch konservatives Motiv vom »Wirtschaftsflüchtling«, der »lediglich ein höheres Einkommen erzielen oder einen höheren Lebensstandard genießen möchte« (2). In diesen Fällen haben nach Auffassung der Autorinnen und Autoren »die Aufnahmeländer das Recht zur Regulierung der Migration« (2). Seltsam wird die Position, wenn sie mit Bezug auf die UN-Menschenrechtscharta feststellt, dass zwar ein Recht auf Auswanderung, jedoch kein Recht auf Einwanderung besteht (2). Freizügigkeit besteht damit lediglich in dem Recht, vor Not zu flüchten, nicht aber in dem Recht auf Schutz für Flüchtende. Sie unterliegt damit ökonomischen Möglichkeiten und steht nicht allen zu.
Der Abschnitt zeigt, wie sehr sich in dieser Frage die Verhältnisse bereits nach rechts verschoben haben. Denn in der Tat würde die Umsetzung der Forderungen der Autorinnen und Autoren eine klare Verbesserung der Lage von Geflüchteten gegenüber dem Status quo darstellen. In diesem Sinne sind sie zu begrüßen. Neben den oben bereits genannten Forderungen treten die Autorinnen und Autoren für das Recht ein, Anträge auf Asyl und subsidiären Schutz auch außerhalb des Ziellandes stellen zu können. Die richtigen Forderungen gegenüber einem schlechten Status quo nutzen die Autorinnen und Autoren jedoch gleichzeitig dafür, eine politisch-normative Setzung einzuführen, die auf einer bürgerlich-liberalen Trennung der wirtschaftlichen und der politischen Sphäre beruht und für wesentliche fluchtverursachende Notlagen Obergrenzen bei der Aufnahme fordert. Die Setzung von Obergrenzen trägt aber die Forderung nach Ausgrenzung und damit Selektion in sich. Als eine linke gesellschaftstheoretische Perspektive ist sie damit für uns nicht haltbar.
»Unbegrenzte« Einwanderung, Sozialstaat und die »weniger privilegierten Teile der Gesellschaft«
Das Papier ist in diesem Punkt in sich widersprüchlich. Der Subtext des Thesenpapiers unterstreicht das Angstbild, daß offene Grenzen zu einem »unbegrenzten« Zuzug nach Deutschland führen würden (dazu unten mehr). Zugleich wird behauptet, unregulierte Arbeitsmigration »läuft faktisch auf die Privilegierung kleiner mobiler Minderheiten« hinaus (5).
Die Autoren sehen durch Zuwanderung verschiedene Gefahren für das nationale soziale Gefüge: Sie fürchten, dass die Zuwanderung einer »große(n) Zahl von Geringqualifizierten … die Konkurrenz und den Lohndruck im entsprechenden Segment des Arbeitsmarktes« (5) erhöht. Sie fürchten deshalb, dass unregulierte Migration der »’Internationalen‘ des Kapitals zugute« (4) komme. Eine Politik der offenen Grenzen nehme die »Destabilisierung der Gesellschaft und eine Schwächung der Kampfbedingungen der Arbeiterklasse durch Migration billigend in Kauf« (5)
Sie fürchten darüber hinaus, dass die »aktuell tatsächlich verfügbaren und immer begrenzten ökonomischen Ressourcen und Kapazitäten, die aus inländischen Steuern und Abgaben bestehen« (6) überfordert werden könnten. Neben dieser »objektiven« Seite verweisen sie insbesondere auf die »subjektive« Seite dieser vermeintlichen »Effekte«. Sie unterstreichen die Behauptung, dass eine Politik der offenen Grenzen der »breiten Bevölkerung, insbesondere den abhängig Beschäftigten und den weniger privilegierten Teilen der Gesellschaft« (4) nicht vermittelbar ist. Eine mögliche Solidarisierung der Lohnabhängigen untereinander und über Herkunft hinweg wird abhängig Beschäftigten damit abgesprochen. Die Perspektive gemeinsamer Kämpfe wird ohne Begründung negiert.
Sommers der Migration und die soziale Infrastruktur
Objektiv ist festzustellen, dass die wesentlichen Schleifungen der sozialen Infrastruktur sich zu Zeiten abgespielt haben, als die Migrationszahlen in der Bundesrepublik einen absoluten Tiefpunkt erreicht hatten. Der desolate Zustand der sozialen Infrastruktur wurde unter dem Eindruck des Sommers der Migration 2015 nur besonders augenfällig. Es ist eine nicht nachzuvollziehende politische Vorstellung, dass es eine quasi objektiv feststehende Ressourcenausstattung für die soziale Infrastruktur unter den »aktuellen politischen Kräfteverhältnissen« (6) geben würde, die sich die »Einheimischen« mit potentiellen Neuankömmlingen teilen müssten. Im Gegenteil sind z.B. in den Jahren 2015/16 Gelder aus den Überschüssen des Bundes in die Unterstützung der Kommunen geflossen, die sonst aller Wahrscheinlichkeit nach in die Schuldentilgung geflossen wären. Dieses Beispiel verweist auf die politische Einsicht, die die Autorinnen und Autoren schlicht wegwischen: Dass die Frage, wie viel verteilt werden kann, eine Frage danach ist, ob eine Umverteilung gesellschaftlicher Reichtümer durchgesetzt werden kann. Eine zentrale Frage linker Politik.
Die Autorinnen und Autoren halten es für »Wunschdenken«, dass wir bei den »aktuellen Kräfteverhältnissen (…) unbegrenzt finanzielle Mittel mobilisieren könnten«. Die demagogische Absicht des Satzes wird schon durch das Wörtchen »unbegrenzt« markiert. In einer begrenzten Welt kann gar nichts unbegrenzt mobilisiert werden. Die Formulierung führt dazu, das Bild »unbegrenzter« Zuwanderung aufzurufen, ohne dies auch nur einmal im Text ausdrücklich formulieren zu müssen. Zum anderen weist der Satz in eine politische Sackgasse. Seit Jahren wehren die Finanzpolitiker von Bund, Ländern und Kommunen berechtigte Forderungen mit dem Hinweis ab, dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden könne. Eine politische Linke, die den aktuellen Verteilungsspielraum als gegeben voraussetzt, kann in keinem Feld mehr solidarische Perspektiven formulieren. Das aber ist ihre Aufgabe im politischen Raum. Statt dieser Aufgabe nachzukommen und dafür zu argumentieren, greifen die Autorinnen und Autoren auf die neoliberalen Spaltungsszenarien zu, die sich problemlos weiterdenken lassen: »Ihr wollt mehr sozialen Wohnungsbau? Dann wird das wohl nichts mit der besseren Bezahlung der Kita-Beschäftigten! (Argument gegen den Mietenvolksentscheid in Berlin 2015) Bessere Bezahlung in der Altenpflege? Das wird aber teuer für die Hilfebedürftigen! Denn dass sich das exportorientierte Kapital einen höheren Sozialversicherungsbeitrag abringen lässt glaubt ihr ja wohl selber nicht – unter den aktuellen politischen Kräfteverhältnissen! (Kernthema des schwarz/roten Koalitionsvertrags 2018)«
»Gastarbeiteranwerbung« und die Haltung der Gewerkschaften
Historisch verkürzt und geschichtspolitisch fatal ist der Hinweis der Autorinnen und Autoren auf die Zeit der sog. »Gastarbeiteranwerbung« und die Haltung der Gewerkschaften dazu. (4) Allen Ernstes paraphrasieren die Autorinnen und Autoren kommentarlos die Hoffnung der Arbeitgeber auf »unorganisierte, fügsame Arbeitskräfte« und erwecken damit den Anschein, dass diese Hoffnungen sich erfüllt hätten. Wie zur Bestätigung weisen sie dann noch auf die entsprechend abwehrende Haltung der Gewerkschaften gegenüber den Anwerbeabkommen hin. Mit keinem Wort erwähnen sie den Umstand, dass eben jene »fügsamen Arbeitskräfte« ein wichtiger Motor waren bei der Entwicklung der Arbeitskämpfe spätestens seit Ende der 60er Jahre. Mit keinem Wort erwähnen sie die z.T. problematische Haltung der Gewerkschaften, die es nicht nur bei einer Ablehnung der Abkommen beließen, sondern auch z.B. beim Streik bei Ford Köln 1973 gegen die radikalen Forderungen und neuen Kampfformen der migrantischen Beschäftigten vorgingen. Kein Wort z.B. über den Streik in Pierburg im gleichen Jahr, wo es durch eine integrative Politik zunächst des Betriebsrats und später auch der IG Metall gelang, aus der Neuzusammensetzung der Klasse Stärke zu entwickeln. Die Autorinnen und Autoren argumentieren nicht aus der Perspektive kämpfender Belegschaften, sondern aus einer paternalistischen Haltung der Hoffnungslosigkeit eines engen nationalen politischen Handlungsraums.
Dabei müssen die Forderungen nach Regulierung an der Frage ansetzen, wie Solidarisierung und gemeinsame Organisierung gefördert und Unterschichtung des Arbeitsmarktes (de.wikipedia.org/wiki/Unterschichtung) verhindert werden kann. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es wäre zu fordern, dass Gewerkschaften Zugang zu Integrationskursen für Geflüchtete ermöglicht wird. Bei den nun verstärkt anlaufenden Integrationsmaßnahmen der Arbeitsagenturen im Rahmen von Praktika muss durchgesetzt werden, dass beteiligte Betriebe Mindeststandards erfüllen (Tarifverträge, Mitbestimmung). Gewerkschaften und Betriebsräte müssen Konzepte entwickeln, wie die Integration von Geflüchteten in die Betriebe zusätzlich durch tarifvertragliche oder mitbestimmungsrechtliche Maßnahmen abgesichert werden kann. Selbstverständlich wird das Kapital versuchen, die potentielle Spaltung von Geflüchteten und Beschäftigten mit deutschem Pass zu nutzen, wie es auch jede andere Spaltungslinie versucht, zu nutzen. Zu der in der Tat ganz aktuell brennenden Frage, wie Regulierung die Bedingungen für gemeinsame Organisierung der in den letzten Jahren neu Angekommenen und der deutschen Beschäftigten verbessern kann, sagen die Autorinnen und Autoren in ihrem Papier bezeichnenderweise kein einziges Wort.
Offene Grenzen = »unbegrenzte« Einwanderung?
Die Argumentation der Autorinnen und Autoren beruht auf der unterschwelligen Annahme, dass offene Grenzen zu einer »unbegrenzten« Einwanderung führen, die das deutsche Sozialsystem überlasten würde und das die einzige (vermittelbare) Antwort dann sein könne, die Grenzen zu schließen. Diese Annahme widerspricht allen Kenntnissen der kritischen Migrationsforschung. Erstens: Wenn die Push- und die Pull-Faktoren zu groß werden, setzen sich die Menschen in Bewegung. Dann können sie auch nicht von Grenzen gestoppt werden. Obergrenzen, Grenzregime und Einwanderungsgesetze etc. hielten in solchen Zeiten ohnehin nicht stand. Dann entstünde die Frage, die sich 2015 stellte: Kommt es zu gewaltförmigen Grenzkämpfen oder schaffen Menschen solidarische Auffangstrukturen? Die aktuellen Migrationsprozesse vollziehen sich aber zweitens v.a. als Binnenmigration innerhalb der Länder oder innerhalb der Regionen. Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, dass die Verteilung der Mittel innerhalb Deutschlands an ihre Grenzen stößt. Erst gegen Ende des Textes sprechen die Autorinnen und Autoren an, was Ausgangspunkt von progressivem Internationalismus sein muss: die Notwendigkeit konsequenten Eintretens für gute Lebensverhältnisse überall. Dies ist jedoch kein Argument gegen offene Grenzen. Auch hier zeigt sich umgekehrt: dass sich die Herrschenden überhaupt das Thema »Fluchtursachen« auf die Agenda gesetzt haben, ist ein Ergebnis des Sommers der Migration 2015, in dem sich gezeigt hat, dass die Folgen der globalen Verwerfungen – für die deutsche Politik und deutsche Unternehmen mit verantwortlich sind – sich nicht aussperren lassen.
Viele der Argumente zielen v.a. darauf ab, deutlich zu machen, dass die Sorgen zum Thema Migration bei der »breiten Bevölkerung« berechtigt seien und die Politik der Linken die Sorgen deshalb ernst nehmen müsse. Es ist kein Geheimnis, dass diese Einschätzung vor dem Hintergrund des Aufstiegs der AFD zu sehen ist. Hätte diese das flüchtlingspolitische Thema nicht so erfolgreich besetzen können, die Passagen zu offenen Grenzen würden im Parteiprogramm der LINKEN noch immer ein unbeachtetes Schattendasein fristen. Ängste aber werden nicht dadurch kleiner, dass man sie stützt, sondern indem man ihnen begegnet und Menschen handlungsfähig macht. Es wäre die Aufgabe der politischen Linken, den falschen Zahlen, den falschen Spaltungen und den verlogenen Behauptungen, ohne Migration ginge es den Einheimischen besser, sachlich zu begegnen. Das ist ungleich aufwendiger, als zu versuchen, den Angstmachern ihre Argumente abzunehmen und das Terrain der Angst von »links« zu besetzen.
So ist auch Herangehensweise der Autorinnen und Autoren als Antwort auf dieses Problem nicht schlüssig. Sie setzt voraus, dass rassistischen Angstbildern und Projektionen von Missachtungserfahrungen auf die Migrationsfrage überhaupt auf dem Feld der Migration begegnet werden kann. Selbst diese (falsche) Annahme vorausgesetzt, kann das Papier der Autorinnen und Autoren keine Antwort auf den (Wieder)Aufstieg der AfD im Zuge des Sommers der Migration 2015 sein. Denn mit der von den Autorinnen und Autoren verlangten Wiederherstellung des Rechts auf Asyl und subsidiären Schutz wären die Migrationszahlen in dieser Zeit kaum geringer gewesen und die Zahl der Abschiebungen wäre um einiges niedriger. Die AfD hätte das Thema Migration also in der gleichen Art und Weise bedienen können – durch das Schwadronieren von den »Kulturbereicherern« oder das obsessive Zelebrieren jedes Vorfalls, in den ein Nicht-Deutscher verwickelt ist. All das hätte auch so seine Wirkung getan. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Interpretation der eigenen sozialen Situation mittels Abwertung und Ausgrenzung des vermeintlich Fremden etwas mit konkreten Erfahrungen mit Migrantinnen und Migranten zu tun haben muss. Die Angstbilder von den Migrantinnen und Migranten, die »uns« die Arbeitsplätze wegnehmen, waren mobilisiert, noch bevor der erste syrische Bürgerkriegsflüchtling eine Arbeitserlaubnis bekommen hat.
Die Autorinnen und Autoren fallen damit hinter Standards der kritischen Sozialforschung der letzten Jahre zurück, die gezeigt hat, dass »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« sich vor allem im Zuge der Entsicherung der Lebensverhältnisse entwickelt hat (Heitmeyer: »Deutsche Zustände«) und aufs engste mit der Ohnmachtserfahrung im (Arbeits-)-Alltag zusammenhängt (u.a. Sauer et al: Rechtspopulismus und Gewerkschaften). Selbst Spiegel-Online hat für wichtige AfD-Hochburgen zeigen können, dass die Chance, dort auf Geflüchtete zu treffen im Promillebereich liegen (Spiegel: Kaum Ausländer in AfD-Hochburgen, 2017). Die ganze Diagnose lebt von der Scheinevidenz jener Ereignisse, die von einem Medienfuror erster Ordnung als Ausweis schwerwiegender Probleme durch Migration hochgejazzt wurden (Sylvester Köln, Kandl, Cottbus, etc.). Sie geht damit einer zentralen Öffentlichkeitsstrategie der Rechten auf den Leim.
Falsches Verständnis der Wirkung von Migrationsregulation
Fatal ist das falsche politische Verständnis der Wirkung von Migrationsregulation. Die Autorinnen und Autoren zeichnen eine Welt, in der Restriktionen beim Aufenthalt ohne direkte oder indirekte Zwangsmaßnahmen durchsetzbar wären. Die Autorinnen und Autoren wollen die unerwünschten Migrantinnen und Migranten nur im ideellen Durchschnitt außer Landes schaffen, aber nicht den einzelnen Menschen: »Es geht nicht darum, ohne Rücksicht auf Verluste jeden Einzelfall unerwünschter Migration zu verhindern, sondern um die Regulierung der Quantität in einem Maße, dass das Umschlagen in problematische Qualität mit entsprechenden Folgen vermieden werden kann.« (8)
Einer derart verschleiernden Sprache muss sich bedienen, wer nicht zuzugeben möchte, dass man Abschiebungen in die Hungerregionen der Welt befürwortet (zumindest, wenn dort nur Dürre herrscht aber kein Bürgerkrieg). »Regulation« von Migration bedeutet entweder den Zutritt zum eigenen Territorium zu behindern, oder den Aufenthalt auf dem eigenen Territorium zu beenden, bzw. zu erschweren. Letzteres bedeutet Entzug der elementaren sozialen Rechte (Recht auf Arbeit, Einkommen, Gesundheitsversorgung, etc.) und wird mit Gewalt durchzusetzen sein. Soweit die normative Dimension.
Aus einer klassenpolitischen Perspektive bleibt unterbelichtet: Migrationspolitik ist immer auch Arbeitsmarktpolitik: Schon immer war eine wesentliche Wirkung restriktiver Migrationspolitik die Prekarisierung des migrantischen Teils der Arbeiterklasse. Aufenthaltsrecht ist ein Mittel zur Prekarisierung von Lohnarbeit. Insbesondere in wenig kapitalintensiven Bereichen, wie personennahen Dienstleitungen (Pflege/Betreuung), auf dem Bau und in der Landwirtschaft, wird illegalisierte Arbeit eingesetzt, um Löhne zu drücken. In globaler Perspektive wird dies v.a. mit Blick auf die Niedriglohnbereiche an den südlichen Rändern der Industriestaaten sichtbar. Illegalisierung und Abwehr führt hier nicht zu Begrenzung, sondern vor allem zur Entrechtung des migrantischen Teils der arbeitenden Klasse. Das Aufenthaltsrecht wird eingesetzt, um ausländische formale Qualifikationen zu entwerten. Die Bundesregierung hat zwischenzeitlich den Chef der Arbeitsagentur an die Spitze des Bundesamts für Migration und Flucht gesetzt und damit unmissverständlich klargemacht, dass sie Migrationspolitik als integralen Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik betreibt.
Die Erfahrungen mit den Hartz-Reformen haben gezeigt, wie die Radikalisierung von »Bewährungsproben für die Unterschicht« (K. Dörre) eine Entsicherung und Verunsicherung bis weit in die Kernbelegschaften hinein produziert hat. Die Koppelung von Aufenthaltsrechten an eine »gelungene Arbeitsmarktintegration« wird diese Tendenz noch verschärfen. Denn damit entscheiden die Erlangung und der Erhalt des Arbeitsplatzes über die konkrete Bleibeperspektive. Arbeitsplatzverlust bedeutet nicht nur soziale Ausgrenzung, sondern bringt die unmittelbare Drohung der Abschiebung mit sich. Die Bewährungsproben an Hand von Kriterien der wirtschaftlichen Nützlichkeit erhalten damit für Migrantinnen und Migranten eine noch weit existenziellere Bedeutung, als für Menschen mit gesichertem Aufenthaltsstatus unter Hartz IV.
Für eine offensive Perspektive eines universellen Bleiberechts
Ein unabhängige klassenpolitische Perspektive eröffnet dagegen einen emanzipatorischen Blick auf die Migrationsfrage jenseits von Liberalismus und restriktiver Staatsgläubigkeit. Eine offensive Perspektive des universellen Bleiberechts ist die einzige politisch sinnvolle Antwort auf die aktuelle Situation. Jede Perspektive einer Begrenzung von Zuwanderung spielt jenen in die Hände, die die Zuwanderung an Hand wirtschaftlicher Nützlichkeit betreiben und damit ein prekäres Arbeitsmarktsegment etablieren. Es stärkt diese Position, weil die Betonung der wirtschaftlichen Nützlichkeit sich als Vermittlung zwischen verstärkten unrealistischen Abschottungswünschen und der Anerkennung der Realität Migration präsentieren kann. Angela Merkel verkörpert diese Diskursstrategie: Das moralische Kapital, das ihr der Satz »Wir schaffen das« eingebracht hat, nutzt sie seitdem, um eine Politik zu betreiben, die sowohl auf rigide Abschottung setzt als auch die Pläne für ein Einwanderungsgesetz vorantreibt, welches Aufenthaltsrecht nach den Interessen des Kapitals vergibt. Eine universalistische Bleiberechts-Perspektive muss dagegen aus der Perspektive der Universalität der Menschenrechte formuliert werden. Klassenpolitisch muss sie eine Prekarisierung an den »Rändern« des Arbeitsmarktes verhindern, um die Entsicherung des Arbeitsmarktes insgesamt zu bekämpfen. Sie erkennt damit zugleich strategisch an, dass die Regulierung von Arbeitsmärkten in einer globalisierten Welt nicht mehr durch ihre nationale Begrenzung zu organisieren ist, sondern nur durch die Universalisierung der sozialen und politischen Rechte für Alle, die Zugang zu diesem Arbeitsmarkt haben können – die Drohung mit Abschiebung bei Arbeitsplatzverlust ist das Ende jeder Klassensolidarität.
In dieser Situation besteht die zentrale politische Aufgabe darin, die noch immer aktiven Initiativen der Geflüchtetenunterstützung zusammen mit Kämpfen um Wohnraum, sichere Arbeitsverhältnisse und ein solidarisch finanziertes Sozialwesen als politisch wirksame Bewegung zu organisieren und mit der Verteilungs- und Eigentumsfrage zu verknüpfen.
Im Umgang mit den Geflüchteten stellen sich zentrale Fragen gesellschaftlicher Macht- und Reichtumsverteilung wie unter dem Brennglas. Wird der vorhandene gesellschaftliche Reichtum so umverteilt, dass eine soziale Infrastruktur für alle hier lebenden Menschen finanziert werden kann? Aus dem Verteilungskonflikt innerhalb der Unter- und Mittelschicht muss ein Verteilungskonflikt zwischen Oben und unten werden. Diese politische Perspektive kann nur ernsthaft eröffnet werden, wenn sie von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis formuliert wird. Damit werden die gesellschaftlichen Probleme, die wir aktuell erleben, aus dem viel zu engen Korsett des »Flüchtlingsproblems« befreit. Die Präsenz der Geflüchteten wirft die grundsätzliche Frage der Perspektive des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf. Es ist unsere Aufgabe, sie aus einer solidarischen Perspektive zu beantworten.
Linke Migrationspolitik hat damit die Aufgabe, den Menschen – und zwar über die Grenzen hinweg im Sinne eines gemeinsamen Kampfes der abhängig Beschäftigten – in den Mittelpunkt von konkreten Maßnahmen zur Sicherung der Garantien des Lebens für alle zu stellen. Dazu gehört die Forderung nach einer Reichensteuer, Mindestlöhnen, einer sanktionsfreien Mindestsicherung, individuellen Bildungsräumen, sozialen Zentren, sozialem Wohnungsbau in öffentlicher Hand, der Abschaffung sachgrundloser Befristungen u.v.m.
Die Aufgabe der Linken muss sein, solidarische Strukturen vor Ort und im parlamentarischen Raum zu schaffen. Wer diesen Schritt nicht wagt, landet unvermeidbar in einer Logik der Konkurrenz der Menschen untereinander, die einhergeht mit brutalen Kämpfen an den Grenzen der reichen Länder und auf den Wegen dorthin – so wie wir es bereits erleben. Sie ist die Fortführung der Spaltung der Lohnabhängigen hin zu einem Kampf der Stärkeren gegen die Geschwächten.
Oliver Barth, Max Bitzer, Tanja Chawla, Slave Cubela, Florian Dallmann, Ulrike Eifler, Ivo Garbe, Tim Graumann, Stefan Jagel, Thilo Jahn, Romin Khan, Marc Kappler Andreas Köppe, Kalle Kunkel, Gisela Neunhöffer, Julia Niekamp, Volker Nüsse, Gabriel Riesner, Katharina Schwabedissen, Jana Seppelt, Max Stempel, Patrick von Brandt, Jan von Hagen
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner sind Gewerkschaftssekretärinnen und Gewerkschaftssekretäre in verschiedenen DGB-Gewerkschaften mit und ohne Mitgliedschaft in der Partei DIE LINKE.
Schlagwörter: Arbeitsmarkt, Asyl, Bleiberecht, Einwanderung, Flucht, Fluchtursachen, Gewerkschaft, Gewerkschaften, Migration, Obergrenzen