»La France Insoumise« ist in aller Munde: Nicht nur Sahra Wagenknecht beruft sich positiv auf die neue Sammlungsbewegung aus Frankreich. Doch was ist das eigentlich für eine Formation? Ein Insiderbericht über Stärken und Schwächen einer Partei, die keine sein will. Von John Mullen aus Paris
Die Wurzeln der 2016 gegründeten radikalen linken Bewegung La France Insoumise (FI, deutsch etwa: Frankreich in der Revolte) liegen im gleichen Zorn, der auch zum Aufstieg von Bernie Sanders in den USA, Podemos in Spanien oder Jeremy Corbyn in Großbritannien führte. Ihre Besonderheiten sind jedoch ein Produkt der spezifischen Geschichte der französischen Linken. Im Gegensatz zu Podemos ist ihre bekannteste Führungsfigur, Jean-Luc Mélenchon, seit vielen Jahren in der Politik tätig. Im Gegensatz zur Corbyn- oder Sanders-Bewegung entstand die neue Formation nicht innerhalb der Strukturen einer etablierten Partei.
Ist La France Insoumise eine Partei?
Eigentlich ist La France Insoumise überhaupt keine richtige Partei, sondern eher eine Art Bewegung. Ihre Anhängerinnen und Anhänger zahlen keine regelmäßigen Beiträge und gelten nicht als Mitglieder, sondern als Unterstützer. Nach einer beeindruckenden Serie von Massenkundgebungen, zu denen bis zu 100.000 Menschen kamen, stimmten etwa sieben Millionen Menschen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2017 für Jean-Luc Mélenchon. Sie taten es, weil sein Programm versprach, den Neoliberalismus in großem Stil zurückzudrängen. Mit 19,5 Prozent verpasste Mélenchon nur knapp den Einzug in die zweite Runde. Besonders erfolgreich war er unter jungen Wählerinnen und Wählern sowie unter Arbeitslosen, von denen er jeweils etwa 30 Prozent der Stimmen holte. 24 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter stimmten für ihn sowie 22 Prozent der Angestellten.
Das Manifest von La France Insoumise
Das Manifest der FI beinhaltet radikale Reformvorschläge. Um nur einige Elemente zu nennen: eine grundlegende Verfassungsänderung, Verstaatlichungen, die Besteuerung der Reichen, den Umbau der Energieerzeugung hin zu einhundert Prozent erneuerbaren Energien sowie ein Ende der Kernenergie, die Schaffung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, die Festlegung eines Höchstgehalts, ein kostenloses Gesundheitswesen, einen massiven Investitionsschub für den ökologischen Landbau, eine Gefängnisreform, eine kürzere Arbeitswoche, Ruhestand mit sechzig Jahren, den Bau von einer Million bezahlbaren Wohnungen, den Ausstieg aus der NATO, kostenlose Schulkantinen und kleinere Schulklassen.
Es ist ein reformistisches Programm, denn obwohl im Material der FI von einer »Bürgerrevolution« die Rede ist, ist das Ziel nicht die Zerschlagung des Staats und die Vergesellschaftung des gesamten Großkapitals, sondern die Wahl einer neuen Regierung. Dieser Ansatz entspricht jedoch auch dem Bewusstsein der unter Druck stehenden französischen Arbeiterklasse: Sie will die Regierung von Macron loswerden, die brutale Angriffe auf Gewerkschaften, öffentlichen Dienst und Arbeitsbedingungen durchführt. Zugleich erinnern die Leute sich daran, dass in der Vergangenheit zuweilen umfassende positive Reformen von den Regierungen durchgeführt wurden – meist unter erheblichem Druck von unten.
Wie La France Insoumise entstanden ist
Der Raum für den Aufstieg von La France Insoumise ist durch den Zusammenbruch des Parti Socialiste (PS) entstanden. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stürzte der PS von 28 Prozent von der vorigen Wahl auf nur noch 6 Prozent der Stimmen. Einen Monat später verloren nach der Parlamentswahl 249 Abgeordnete ihren Arbeitsplatz und seither sitzen nur noch 30 Mitglieder des PS in der Nationalversammlung. Die verheerende Politik unter Präsident François Hollande, insbesondere die Rentenkürzungen, die noch weit über das hinausgingen, was konservative Regierungen je gewagt hatten, zerstörte jede Glaubwürdigkeit des PS. Sein Zustand ist mittlerweile so desolat, dass der gesamte Jugendverband die Partei verlassen hat.
Bei der Parlamentswahl im letzten Jahr erhielt La France Insoumise zweieinhalb Millionen Stimmen im ersten Wahlgang und konnte 17 Wahlkreise und damit ebenso viele Abgeordnetenmandate gewinnen. Die sieben Millionen Stimmen bei der Präsidentschaftswahl und ihre Präsenz im Parlament verleihen der FI die Legitimität, den Kampf gegen Macron und seine Regierung zu führen. Im letzten Jahr hat die FI eine neue Art von politischer Organisierung aufgebaut, die die katastrophale Politik der Kompromisse durchbrechen will, welche der Parti Communiste Français (PCF) in lokalen Regierungen mit dem PS verfolgt. Gleichzeitig versucht die FI mit Erfolg, die Marginalisierung und Isolation der radikalen Linken in Frankreich zu beenden. Ihr erklärtes Ziel ist es, den PS zu ersetzen, eine Mehrheit zu gewinnen und eine Regierung zu bilden. Was ursprünglich eine Bewegung zur Durchführung einer Wahlkampagne war, hat sich mittlerweile jedoch zu einer Organisation mit vielen dutzenden lokalen »Aktionsgruppen« entwickelt, die öffentliche Versammlungen, Filmvorführungen oder Infostände organisieren und sich lokalen Kampagnen gegen Kürzungen anschließen.
La France Insoumise im Parlament
Ihre 17 Abgeordneten, die praktisch alle neu im Parlament sind, haben von Beginn an ihre parlamentarische Tätigkeit mit der Unterstützung für außerparlamentarische Kämpfe kombiniert. Umfragen zeigen, dass die FI bei weitem als die glaubwürdigste Opposition gegen Macron angesehen wird. Die Unterstützung der Streiks der Eisenbahner, die entschlossene Kritik der Polizeigewalt und die Forderung nach einem neuen »Mai 1968«, treffen den Nerv von Millionen. Der PS weiß sich nicht anders zu helfen, als der FI vorzuwerfen, sie würde die Streikbewegung »übernehmen«.
In den Medien und im Parlament treten die Abgeordneten der FI sehr kämpferisch auf. Als ein Abgeordneter von Macrons »En Marche«-Bewegung Studierende verspottete, die gegen eine Kürzung der Sozialleistungen um fünf Euro protestierten, brachten FI-Abgeordnete eine Tüte mit Lebensmitteln ins Parlament, um den Schnöseln um Macron zu zeigen, was man für fünf Euro alles kaufen kann. Danièle Obono, eine junge schwarze FI-Abgeordnete, ist zum Gesicht des radikalen Antirassismus geworden. Und auch die Gesundheitsarbeiterin Caroline Fiat, die zur FI-Abgeordneten gewählt wurde und seither im Parlament die schlechten Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern anprangert, ist in der Bevölkerung sehr beliebt.
Die Kampagnen von La France Insoumise
Die Bewegung hat bereits zwei große politische Kampagnen durchgeführt. Die erste richtete sich gegen die Kernenergie, die in Frankreich fast 80 Prozent der Stromerzeugung ausmacht. Die FI startete eine Informationskampagne und eine »Bürgerwahl«, bei der 82 000 Menschen in den Wahlkampfzentren und 230 000 online abgestimmten. Die zweite Kampagne richtet sich gegen Steuerhinterziehung und Steueroasen und wird in Zusammenarbeit mit Podemos in Spanien und anderen Partnern durchgeführt.
»Politik anders machen« ist eine Forderung der FI, die sich aus der Enttäuschung der Menschen über die bestehenden politischen Parteien speist, und es gibt eine Reihe von Konzepten, mit denen die FI anstrebt, eine neue Art politischer Organisation zu bilden: Sie zielt darauf ab, »pragmatische« Allianzen in lokalen und regionalen Regierungen zu vermeiden, um nicht wie der PCF ihre linken Ideale zu verraten.
Der Einfluss der Führung von La France Insoumise
Viele Entscheidungen werden auf den Versammlungen der FI getroffen, die sich aus Anhängerinnen und Anhängern zusammensetzen, die mithilfe einer Lotterie unter den Freiwilligen ausgewählt werden. Das Manifest der FI wurde nicht von Mélenchon allein, sondern von zahlreichen Aktiven geschrieben. Es gibt eine Tendenz innerhalb der FI, Entscheidungen im Konsens zu treffen und wenig Raum für fraktionelle Einflussnahme zu lassen. Das Ziel dahinter ist es, mit der Tradition der internen Streitigkeiten und innerparteilichen Fraktionsbildung zu brechen, die schon lange einen Großteil der radikalen Linken in Frankreich plagt und zu einer starken Innenwendung geführt hat. Der Nachteil dieser Ausrichtung ist, dass die nationale Führung einen überwältigenden Einfluss haben kann, weil es in Wirklichkeit wenig strategische Grundsatzdebatten in der Organisation gibt.
Auch auf andere Weise versucht La France Insoumise, anders zu sein. Viele Mitglieder sind Marxistinnen und Marxisten, aber sie bilden keine Mehrheit. Die Führung möchte sich von den Symbolen der sozialistischen und kommunistischen Tradition lösen, wie etwa der roten Fahne, der »Internationale« oder dem 1. Mai. Auch die sehr populäre Forderung nach einer großen Anti-Macron-Demonstration am 5. Mai kann in diesem Zusammenhang gesehen werden, ebenso wie die Wahl des griechischen Buchstabens Phi als Parteisymbol und nicht eines Logos, das mit der Geschichte der Arbeiterbewegung verbunden ist.
La France Insoumise und der linke Populismus
Diese Ausrichtung kommt nicht von ungefähr, sondern folgt den postmarxistischen Theorien von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die für einen linken Populismus eintreten und auf die sich Teile der Führung der FI und insbesondere Mélenchon positiv beziehen. Letztes Jahr haben Chantal Mouffe und Mélenchon eine gemeinsame Vortragsveranstaltung mit dem Titel »Die Zeit des Volkes ist gekommen« abgehalten. Auch in der politischen Ansprache gibt es eine klare Tendenz, Appelle an das »Volk« zu richten und die Traditionen »Frankreichs von unten« und der Französischen Revolution zu preisen. Das Ergebnis ist wenig Klarheit über den französischen Imperialismus, auch wenn die FI-Führung bei konkreten Fragen, wie etwa der Bombardierung Syriens, eine gute Position bezieht.
Gleichzeitig bleibt die Sprache des Klassenkampfs sehr präsent, und wiederholt oft, dass »das Einzige, was die Ausbeutung begrenzen kann, der Widerstand ist«. Die Radikalität und die Kampfbereitschaft der FI sind sehr zu begrüßen. Mit ihr wurde eine lockere Struktur geschaffen, die es Menschen mit unterschiedlichen Ideen erlaubt, in ihr zusammenzuarbeiten. Revolutionäre haben allen Grund, die FI mit aufzubauen, ohne natürlich auf eine unabhängige Stimme zu verzichten.
Die Schwächen von La France Insoumise
Denn trotz vieler Stärken hat La France Insoumise auch gravierende Schwächen. Ihre Führung ist an eine Tradition des linken Patriotismus gebunden, die davon ausgeht, dass Frankreich eine positive Rolle als Weltmacht spielen kann. Das Programm fordert also nicht, dass Frankreich seine Atomwaffen aufgibt, sondern dass es diplomatische Initiativen zur Aushandlung einer Atomwaffenabrüstung organisiert. Auf symbolischer Ebene versucht die FI-Führung die »Marseillaise«, die französische Nationalhymne, aufgrund ihrer revolutionären Geschichte zurückzuerobern. Dabei ignoriert sie jedoch, dass diese auch den schrecklichen französischen Imperialismus repräsentiert. Außerdem ist die FI, wie alle Organisationen der französischen Linken, sehr schwach in der Frage der Islamfeindlichkeit.
Wie andere linke Parteien versucht die FI, das Problem der Islamfeindlichkeit zu umschiffen. Die Linkspartei, Parti de Gauche, aus der Mélenchon kommt, hat eine sehr schlechte Bilanz in dieser Hinsicht: Sie hat die traditionellen antireligiösen Vorurteile der Linken stets reproduziert, etwa mit Kampagnen gegen das Kopftuch oder gegen muslimische Bereiche auf städtischen Friedhöfen. Es gibt jedoch immerhin eine Debatte in der FI über diese Fragen. Mélenchon hat antimuslimische Vorurteile vielfach angeprangert, aber auch sehr schlechte Erklärungen abgegeben. Als etwa rechte Bürgermeister Ganzkörper-Badeanzüge an Stränden verbieten wollten, kritisierte er sowohl die Bürgermeister als auch die Hersteller dieser sogenannten Burkinis, die, wie er behauptete, einen politischen Standpunkt vertreten würden. Unter den Abgeordneten, die auf einem FI-Ticket gewählt wurden, ist mit Danièle Obono jedoch auch eine Frau, die seit vielen Jahren gegen Islamfeindlichkeit kämpft. Das zeigt, dass eine gewisse Chance auf Veränderung besteht. Auch scheint es keinen allzu großen Druck auf Abgeordnete zu geben, ihnen die Linie der Führung aufzuzwingen. Was die Einwanderungspolitik im Allgemeinen betrifft, so ist die Position der Führung der FI eine klassisch reformistische. Sie unterstützen nicht die vollständige Abschaffung von Einwanderungskontrollen, fordern aber, dass mehr Flüchtlinge aufgenommen werden. Das Programm fordert Papiere für alle in Frankreich lebenden Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Außerdem fordert die FI die Schließung von Haftanstalten für illegale Einwanderer.
Das Sektieretum der radikalen Linken
Im Moment ist das Problem des Sektierertums gegen die FI noch nicht gelöst. Der PCF, der sehr besorgt darüber ist, als linker Pol in den Institutionen ersetzt zu werden – er hat immer noch 12 Abgeordnete in der Nationalversammlung und 1600 Gemeinderäte -, und die radikale Linke, von der ein großer Teil glaubt, dass es einen Aufstieg des linken Reformismus eigentlich gar nicht geben kann und dass Mélenchon die Arbeiterklasse verraten wird, verteidigen ihn nicht gegen die verleumderischen Medienkampagnen. Für die verständliche Begeisterung für Mélenchon in Teilen der Arbeiterklasse, haben viele Linke leider nur Spott übrig.
Wie weit die FI mit ihrem Projekt, die nächste linke Regierung zu stellen, kommt, bleibt abzuwarten, aber das Ziel ist glaubwürdig und die Bewegung die vielversprechendste der französischen Linken seit langem. Es sind viele entscheidende Debatten zu führen. Sollte die FI in die Lage kommen, eine Regierung zu bilden, würde die herrschende Klasse ihre gesamte Macht nutzen, um sie daran zu hindern, ihr Programm durchzuführen. Es ist nicht zu früh, schon jetzt darüber zu sprechen, was wir dann tun sollten. Momentan beginnt eine neue Generation von Werktätigen den politischen Kampf zu erlernen. Wir müssen an ihrer Seite stehen, auch wenn der Reformismus uns auf längere Sicht nicht den Weg weisen wird, den wir gehen müssen.
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Schlagwörter: Analyse, Islamfeindlichkeit, Jean-Luc Mélenchon, marx21, Parti Socialiste, Populismus