Bei der türkischen Parlamentswahl erreichte Recep Erdogan und seine AKP in Deutschland 56 Prozent der abgegebenen Stimmen. Viel Schuld daran tragen die deutschen Eliten. Ein Kommentar von Hans Krause
Viele Menschen sind zu Recht wütend über Erdogans autoritären Kurs, seinen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden und seine unsoziale Politik. Auch viele Politikerinnen und Politiker zeigten sich nach den Wahlen am 24. Juni erschrocken: Erdogan hatte in Deutschland mit 66 Prozent ein besseres Ergebnis erzielt als mit 53 Prozent in seinem Heimatland. Auch bei der Parlamentswahl war Erdogans Partei AKP hier mit 56 Prozent stärker als in der Türkei mit 43.
Zielscheibe der Kritik
Zielscheibe der Kritik waren jedoch nur manchmal die türkische und fast nie die deutsche Regierung, sondern meistens die Türken in Deutschland selbst. Am übelsten schimpfte der frühere Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir, die Erdogan-Wähler drückten »ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus. Wie die AfD eben«. Wie falsch und rassistisch diese Behauptung ist, zeigt die Studie »Deutsche mit Migrationshintergrund bei der Bundestagswahl 2017« der Universitäten Duisburg-Essen und Köln. Danach gaben null (!) Prozent der Menschen türkischer Abstammung der AfD ihre Stimme, jedoch 13 Prozent den Grünen, 16 Prozent der LINKEN und 35 Prozent der SPD. Ein ebenso rassistisches Vorurteil ist übrigens, dass Deutsche mit russischem Migrationshintergrund größtenteils rechtsradikal seien. Laut der Studie wählten von ihnen 15 Prozent die AfD und 21 Prozent die LINKE.
29 Prozent für Erdogan
Das hohe Wahlergebnis für Erdogan hat vielmer verschiedene politische und einige nicht politische Gründe und muss differenziert betrachtet werden. So beantragen zum Beispiel überdurchschnittlich viele links und sozialdemokratisch eingestellte Türken und Kurden die deutsche Staatsbürgerschaft. Das rassistische deutsche Recht zwingt einen meist, dann die türkische Staatsangehörigkeit abzugeben. Und so steigt der Anteil der AKP-Anhänger unter den Türken in Deutschland statistisch, auch wenn es tatsächlich nicht mehr werden. Die Zahl der Türken in Deutschland ist heute die niedrigste seit den 70er Jahren. Vor allem aber unterstützen deutlich weniger Erdogans Politik, als das Wahlergebnis vermuten lässt. In einer Umfrage unter türkischstämmigen Menschen in Deutschland im Dezember stimmten 29 Prozent seiner Politik zu, 27 Prozent lehnten sie ab. Doch in derselben Umfrage halten 44 Prozent die Kritik an Erdogan für falsch und nur 12 Prozent für gerechtfertigt.
Erdogan, die AKP und Propaganda
Ein Grund ist die Propaganda der AKP auch in Deutschland. Aber die stellvertretende Vorsitzende der LINKE-Fraktion Sevim Dagdelen macht einen Fehler, wenn sie als Hauptursache für das Wahlergebnis »die intensive Wühlarbeit des AKP-Netzwerks an der Basis der türkischen Mitbürger« sieht. Wäre das richtig, hieße es, dass die AKP auf die politische Meinung der Türken in Deutschland größeren Einfluss hätte als in der Türkei selbst. Und das, obwohl Erdogan dort dutzende kritische Internetseiten verboten hat und die staatlichen Medien reine Propaganda-Instrumente des Präsidenten sind.
Auch dass Türken in Deutschland die Türkei nur aus dem Urlaub kennen und die Verbrechen Erdogans deshalb nicht sehen würden, wie es zum Beispiel der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Deutschland Gökay Sofuoglu behauptet, unterstellt den Menschen ein allzu kindliches Gemüt und wurde zudem in derselben Wahl widerlegt: So erreichte die AKP beispielsweise in Italien nur 29 Prozent, in Großbritannien 18 und in Spanien 15 Prozent der Stimmen.
Erst Panzer liefern, dann Krieg ablehnen
Der Grund warum Türken ausgerechnet in Deutschland die Kritik der Eliten an Erdogan ablehnen ist einfach: Sie ist rassistisch und verlogen. Einerseits werfen sie Erdogan vor, die Menschenrechte zu missachten, anderseits schließt die deutsche Regierung mit ihm ein Abkommen, damit möglichst viele Geflüchtete in der Türkei bleiben und nicht nach Deutschland ziehen. Einerseits verurteilen sie Erdogans Kriege in Türkisch- und Syrisch-Kurdistan, andererseits hat schon die Regierung aus SPD und Özdemirs Grünen 2005 dem Verkauf genau der Panzer an die türkische Armee zugestimmt, mit denen jetzt unschuldige Zivilisten ermordet werden.
Manche Deutsche pfeifen Özil aus
Auch hinter der berechtigten Ablehnung von Erdogans verbrecherischer Regierung verbergen sich bei deutschen Politikern oft rassistische Vorurteile gegen alle Muslime und Türken. Das wurde erst im Mai wieder deutlich, als die türkischstämmigen, deutschen Fußballnationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan den türkischen Präsidenten getroffen haben. Auch Kanzlerin Merkel kritisierte die Fußballer dafür, obwohl sie Erdogan nicht nur mehrfach getroffen, sondern auch Wirtschaftsverträge mit ihm abgeschlossen hat. Bei den folgenden Spielen der Nationalmannschaft pfiffen deutsche Zuschauer, sobald Özil oder Gündogan den Ball hatten.
Die teuflische Verkörperung Recep Erdogan?
2016 behauptete der deutsche Islamwissenschaftler Ralph Ghadban: »Deutschland ist zu lasch und lässt Erdogan über Ditib hierzulande Macht ausüben. Erdogan betrachtet Deutschland vermutlich als Kolonie«. Ditib ist der Verband der türkischen Moscheen in Deutschland. Ähnlich wie den Juden in den 20er Jahren in Deutschland, wird den Muslimen und als deren angeblich teuflische Verkörperung Recep Erdogan heute angedichtet, sie würden in Deutschland Macht ausüben, Parallelgesellschaften gründen und die Deutschen verachten und ausnutzen. Weit mehr als die ebenfalls undemokratisch-diktatorischen Regierungen in Polen und Ungarn, wird Erdogan hierzulande von rechten Politikern, Medien und Wissenschaftlern zum allmächtigen Bösewicht aufgebauscht und die Türken in Deutschland als seine angeblichen Helfer in den Dreck gezogen.
Das Establishment schockieren
Wie die Wähler von Donald Trump in den USA haben sich viele Türken gefragt, welches Wahlergebnis das deutsche Establishment am meisten schockieren würde. Leider war die Antwort: Ein Sieg Erdogans. Solch plumpe, rassistische Vorurteile mögen einem weißen Deutschen, der nie wegen seiner Herkunft benachteiligt wurde, lächerlich erscheinen. Man könnte meinen, es sei möglich, sie zu ignorieren und dass man deshalb niemals einen Politiker wie Erdogan wählen würde.
Erdogan »bringt Stolz zurück«
Doch all dies passiert heute in einer Gesellschaft, in der Türken in Westdeutschland schon seit 50 Jahren unterdrückt und als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, wie es der Journalist Can Merey in seinem neuen Buch »Der ewige Gast« beschreibt. Darin schildert er, wie sein türkischstämmiger Vater jahrzehntelang beruflich diskriminiert wird und sich dann für Erdogan begeistert, »weil er mir meinen Stolz zurückgibt«. Ein weiteres Land, in dem Türken seit Jahrzehnten in die Ecke gedrängt und heute wieder die Hauptbetroffenen der rassistischen Hetze der konservativ-rechtsradikalen Regierung sind, ist Österreich. Und auch hier haben 63 Prozent die AKP gewählt.
Deutsche und Türken in einer Bewegung
Wer Erdogan wählt, stimmt für marktliberalen Kapitalismus, Krieg, Rassismus gegen Kurden und gegen soziale Gerechtigkeit. Unter seiner Regierung werden Rechtsstaat und Meinungsfreiheit zerstört und auch der wirtschaftliche Aufschwung steht vor dem Ende. Doch wir werden den Einfluss Erdogans nicht zurückdrängen, wenn sich hinter unserer Kritik mal versteckt, mal überdeutlich antimuslimischer Rassismus verbirgt.
Wichtig sind viel mehr Demonstrationen gegen Rassismus wie »We’ll Come United!« am 29. September in Hamburg. Denn Deutsche müssen mit Türkinnen und Türken, Kurdinnen und Kurden, gläubigen Muslimen und nicht religiösen Menschen eine gemeinsame Bewegung gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit, Waffenlieferungen und Krieg aufbauen, mit der wir gemeinsam gegen die Herrschenden in Deutschland kämpfen. Denn nur in einer solchen Bewegung haben wir die Chance, darüber zu sprechen, warum Recep Tayyip Erdogan für die Menschen in der Türkei und in Deutschland ein schlechter Präsident ist.
Foto: World Humanitarian Summit 2016
Schlagwörter: AKP, Antimuslimischer Rassismus, Bundesrepublik Deutschland, marx21, Rassismus