Palästinensische und israelische Akademiker liefern in einem neuen Sammelband alternative Perspektiven auf den Nahostkonflikt, aber keine Ansätze zu dessen Lösung. Von David Paenson
»Zu beiden Seiten der Mauer« ist ein Sammelband mit Beiträgen von 13 palästinensischen und israelischen Akademikern. Sie trafen sich ab 1997 monatlich und starteten das Projekt PALISAD, Palästinensische und israelische Akademiker im Dialog. »Wir alle teilten den Glauben, dass eine alternative historische Perspektive des Konflikts benötigt wurde, die die beiden nationalen Darstellungen mit ihrer ethnozentrischen und segregationistischen Ausrichtung überbrücken könnte«, schreiben die Herausgeber Jamil Hilal und Ilan Pappe.
Das Ergebnis, ein 440-seitiger Sammelband mit 14 Beiträgen von 13 Autoren, ist jetzt auf deutsch erschienen und für die kundige Leserschaft durchaus mit Gewinn zu lesen. Es fehlt allerdings eine Gesamtorientierung.
Hierarchie unter Israelis
Da findet sich beispielsweise Oren Yiftachels »Ethnokratie«, in dem er nachweist, dass die systematische Unterdrückung der Palästinenser auch eine Hierarchie unter den jüdischen Einwanderern je nach Herkunftsland bedingt – den privilegierten europäischen Juden gegenüber den unterprivilegierten Juden aus arabischen Ländern, wobei letztere oftmals noch nationalistischer sind. Das erinnert an Marx‘ Analyse der Armen Weißen in den Südstaaten der USA, denen es nicht viel besser erging als den ehemaligen schwarzen Sklaven.
In einem weiteren spannenden Beitrag Musa Budeiris über die Geschichte der palästinensischen Befreiungsbewegung und ihrer Organisation PLO wird deutlich, wie wenig sie auf Befreiung von unten ausgerichtet war. Hier fehlt allerdings eine Alternativerzählung: Musste es so sein? Sehr lesenswert ist Rema Hammanis Beitrag, in dem sie die das »Fehlen der palästinensischen Frauen in der Darstellung der Erinnerungen an 1948« beschreibt.
Palästinensern fehlt Anerkennung
Gegen das zionistische Narrativ, das die Existenz einer palästinensischen Identität leugnet und damit die Palästinenser einfach zu »Arabern« abstempelt, die genauso gut anderswo als in Palästina leben könnten, ist der Beitrag von Issam Nasser ein gutes Gegenmittel. Er weist nach, dass es schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein zusammenhängendes Palästina – unter osmanischer Herrschaft – gab.
Ehud Adiv zeichnet in seinem Beitrag über die »Nation« die Geschichte des Zionismus als Antwort auf die Pogrome in Russland Ende des 19. Jahrhunderts nach. Sein Begründer, Theodor Herzl, wandte sich an den Sultan des Osmanischen Reiches mit den Worten: »Für Europa werden wir dann ein Bestandteil des Walls gegen Asien sein. Wir werden Pioniere der Zivilisation gegen die Barabarei sein.« Hier wird, zusätzlich zum klassisch eurozentristischen Rassismus, der imperialistische Kontext der zionistischen Bewegung sichtbar.
Westliche Hilfe für Israel
Im Gegensatz zur im Westen üblichen Darstellung des Konfliktes als eines zwischen gleichberechtigten Nationen über ein Stück Land, wird hier der »Konflikt« zwischen beiden Seiten als einer zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten dargestellt. Der koloniale Charakter Israels wird klar benannt.
Allerdings fehlt in der Darstellung, dass die Privilegien der jüdischen Israelis weitgehend der materiellen Unterstützung durch die USA und die EU zu verdanken sind. Insgesamt fehlt die internationale Einordnung des Konfliktes, zum Beispiel die Tatsache, dass Israel die Mittel zur Unterdrückung der Palästinenser nur durch Hilfe von außen erhält. Oder die geopolitische Rolle, die Israel im Gegenzug ausfüllt: Rivalen westlicher Vorherrschaft in der Region, sei es durch arabische Nationalbewegungen oder Staaten wie Iran, zu bekämpfen.
Frommer Wunsch nach Versöhnung
Beschränkt auf die Binnensicht des Konfliktes bleibt den Autoren nur eine Perspektive: Es müsse zu einer »Versöhnung« zwischen den Konfliktparteien kommen. Angesichts der enormen Machtdifferenz der Parteien bleibt Versöhnung ein frommer Wunsch. Pappe spricht sich für einen gemeinsamen Staat aller Bewohner aus, aber in einem dermaßen pessimistischen Ton (»Auch hier sind die Aussichten auf den ersten Blick nicht sehr ermutigend […]«), dass er es gleich lassen könnte, während Uri Davis sich unsicher ist, ob es ein einheitlicher oder ein föderaler binationaler Staat sein sollte. Beide weisen keinen Weg dahin.
Die Zusammenkünfte im Rahmen von PALISAD blieben bald aus, nachdem die israelische Mauer den Weg versperrte. Zwischen den Zeilen wird aber noch eine anderen Mauer spürbar: Die Uneinigkeit unter den Autoren angesichts der BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestition, Sanktionen). Aber ohne eine internationale Kampagne wird es für den derart von internationalen Faktoren beeinflussten Konflikt keine Lösung geben können. Für eine internationalistische, panarabische Lösung hat keiner aus der Gruppe argumentiert. Die arabische Revolution spielt keine Rolle.
Weiterlesen:
Ilan Pappe / Jamil Hilal (Hg.)
Zu beiden Seiten der Mauer
Laika Verlag
2013
443 Seiten
29 Euro
Mehr auf marx21.de:
- Ilan Pappe über den Nahostkonflikt: Zu Gast beim Kongress MARX IS MUSS 2013: Der israelische Historiker Ilan Pappe. Sein Thema – »Israel/Palästina: Plädoyer für einen gemeinsamen weltlichen Staat«. Aus diesem Anlass veröffentlicht marx21 erneut ein Interview mit ihm
Schlagwörter: Bücher, Gaza, Ilan Pappe, Israel, Kultur, Kunst, Nahostkonflikt, Palästina, Palästinenser, PLO, Zionismus