Nach der Absetzung von Präsident Mursi durch das Militär in Ägypten änderte sich vieles. Der Aktivist Sameh Naguib berichtet über die schwierigste Zeit für die Linke seit Beginn der Revolution vor drei Jahren
Interview: Rana Nessim und Rosemary Bechler
Es ist viel passiert, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben. Wie ist es dir ergangen und wie steht es um die Revolutionären Sozialisten in Ägypten?
Es ist schwieriger als jemals zuvor. Eine der größten Schwierigkeiten besteht darin, dass die Mehrheit der linken und liberalen Intellektuellen Ägyptens Militärführung hundertprozentig unterstützt.
Eine ungewöhnliche Koalition…
Ja, das ist eine eigenartige Definition von Liberalismus. Das sind Leute, die eigentlich von sich behaupten, links zu sein – und ich spreche nicht nur von organisierten Gruppen wie der Kommunistischen Partei, sondern auch von Schriftstellern wie Sonallah Ibrahim, von Intellektuellen, berühmten Dichtern, bekannten Figuren mit einer langen Geschichte des Kampfes für Demokratie und Menschenrechte. Sie alle singen sie ein Loblied auf General Al-Sisi.
Hat die Unterstützung durch die liberalen Intellektuellen und Künstler dazu geführt, dass auch die Bevölkerung den Militärherrschern vertraut?
Sie konnten einen Großteil der Menschen überzeugen, aber die Lage ist kompliziert. Nicht alle sind mit an Bord. Das Problem ist aber, wenn wir jetzt eine Demonstration organisieren würden, würden wir innerhalb weniger Minuten von Schlägertrupps angegriffen, egal, wo wir demonstrieren.
Lehnen inzwischen auch die ganz normalen Leute die Proteste ab?
Die Reaktionen der einfachen Leute sind unterschiedlich. Es gibt diese Angst: Wir wollen das nicht mehr, das ist zu gefährlich. Andere sagen: »Hört damit auf, überlasst die Situation dem Militär. Wir haben von all dem genug.« Manche passive Beobachter zeigen eine Art widerwillige Zustimmung. Aber im Großen und Ganzen wagen es heute außer den Muslimbrüdern nur noch erfahrene Aktivisten, sich an öffentlichen Protesten zu beteiligen.
Wie ist euer Verhältnis zu den Anhängern der Muslimbruderschaft?
Auch das gestaltet sich schwierig. Wir beteiligen uns nicht an ihren Demonstrationen, das können wir nicht. Nicht nur wegen des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte, sondern auch weil die Slogans der Muslimbrüder so sektiererisch sind und sie weiterhin für Mursi als Präsidenten eintreten. Diese Forderung unterstützen wir nicht.
Wie es aussieht, hat das Regime die gesamte erste und zweite Riege der Muslimbruderschaft inhaftiert.
Die Muslimbruderschaft wird das überleben. Sie ist so groß und so tief verwurzelt, dass sie diese Angriffe wegstecken kann. Wir könnten das nicht. Wenn die Reste der organisierten Linken in dieser Weise angegriffen würden, wären wir für Jahre von der Bildfläche verschwunden. Die Positionen, die wir vertreten, finden bei den jungen Anhängern der Muslimbrüder Anklang. Das kann man zum Beispiel an ihren Kommentaren auf Facebook erkennen. Wie man sich vorstellen kann, fragen sie uns aber, warum wir nicht mit ihnen zusammen auf die Straße gehen.
Gleichzeitig werden wir von den Leuten, die das Militär unterstützen, als Teil einer Verschwörung der Muslimbruderschaft verleumdet. Wir befinden uns also in einer sehr isolierten, einsamen Lage. Wir werden von allen Seiten angegriffen. Es ist äußerst schwierig, in dieser Situation eine unabhängige Linie zu verfolgen und die Menschen für den Kampf zu mobilisieren.
Was ist aus der Gewerkschaftsbewegung geworden?
Der Vorsitzende der Föderation unabhängiger Gewerkschaften, Kamal Abu Eita ist jetzt Arbeitsminister und einer der überzeugtesten Vertreter des Militärregimes. Das ist ein gewaltiger Schlag ins Gesicht der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung.
Eine eigenartige Definition von »unabhängig«.
Es ist tragisch. Die Gewerkschaftsbewegung war eine ernstzunehmende und unabhängige Bewegung, die während der Massenstreiks aus Streikkomitees entstand. Abu Eita war einer der wichtigsten Anführer dieses Kampfes. Was aus ihm geworden ist, zeigt das enorme Ausmaß des Verrats, der in Ägypten stattgefunden hat.
Gibt es außer von den Muslimbrüdern keinen Widerstand gegen die Regierung?
Von außen betrachtet entsteht der Eindruck, als gäbe es eine überwältigende Zustimmung zu Al-Sisi und sonst nichts. Wenn man sich die Unterstützer von Al-Sisi aber genauer anschaut, zeigt sich, dass sie ein sehr widersprüchliches Bewusstsein haben und sehr unterschiedliche Gründe für ihre Unterstützung haben – von ihren Hoffnungen gar nicht zu reden. Und ihre Erwartungen werden nicht erfüllt.
Der Staatsstreich dauert jetzt vier Monate und der Tourismus in Ägypten hat sich noch nicht wieder erholt. Das Eisenbahnnetz, das während der britischen Besatzungszeit gebaut wurde, ist zum ersten Mal in seinem 150-jährigen Bestehen außer Betrieb. Daher fahren dieses Jahr nicht einmal zu den großen Festtagen Züge. Die Stilllegung der Bahn kommt viele Menschen teuer zu stehen. Jeden Tag pendeln drei Millionen Menschen aus Banha oder Tanta und all den Kleinstädten im Nildelta nach Kairo. Sie sind nun auf Sammeltaxis oder andere private Transportmittel angewiesen, müssen für die Fahrt doppelt so viel Zeit aufbringen und das Drei- oder Vierfache zahlen. Man kann sich ausrechnen, dass die große Unterstützung für Al-Sisi und seine neuen »Erlöser« über kurz oder lang wegbrechen wird.
Unter Mursis Präsidentschaft hätte es in diesem Fall doch eine Welle von Protesten gegeben. Warum reagieren die Menschen jetzt anders?
Noch sind die Menschen im Zweifelsfall für das Regime. Hier kommen die vom Militär kontrollierten Medien ins Spiel. Die haben eine massive Kampagne losgetreten, in der sie Al-Sisi mit Nasser vergleichen. Sie sprechen andauernd von der nationalen Aufgabe der Armee, der Rolle des Militärs bei der Modernisierung des Landes, der zentralen Bedeutung des Militärs. Es ist eine außergewöhnliche Leistung des Militärs, alle auf Linie zu bringen – aber ich glaube nicht, dass das lange funktionieren wird.
Sollte man nicht hoffen, dass General Al-Sisi zum Präsidenten gewählt und dann in der Öffentlichkeit ebenso kritisch behandelt wird wie Mursi? Al-Sisi wird genauso wenig wie Mursi die Forderungen der Revolution nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit erfüllen, also was gäbe es zu verlieren?
Wir brauchen unbedingt einen Kandidaten für die Führung, der sich nicht ans Militär verkauft hat, aber auch kein Islamist ist. Selbst wenn dieser Kandidat nur einen kleinen Stimmenanteil bekäme, könnten wir der Oppositionsbewegung einen gewissen Schwung sichern. Deshalb arbeiten wir mit der »Front des revolutionären Weges« zusammen, die im Grunde genommen eine kleine Minderheitenposition vertritt, indem sie versucht, in dieser Lage eine unabhängige dritte Stimme zu organisieren. Die Schriftstellerin Ahdaf Soueif und einige andere bekannte Leute gehören der Front an. Sie vereinigt Organisationen wie die Bewegung des 6. April, die Revolutionären Sozialisten, Teile der Partei des Starken Ägypten, eine linke Partei, deren Basis vor allem aus jungen ehemaligen Islamisten besteht, unabhängige junge Gewerkschaftsaktive, Anarchisten und alle möglichen nichtorganisierten Leute. Außerdem beteiligen sich ein paar Intellektuelle, die sich nicht ans Militär verraten haben.
Die Front des revolutionären Weges versucht, die gegenwärtige Spaltung der Opposition zu überwinden. Wie passen die Muslimbrüder in dieses Bild? Sie leisten Widerstand gegen die Militärherrschaft, aber die Opposition kann sich nicht auf ihre Seite stellen, denn, wie du sagst, wäre das zu gefährlich…
Zunächst einmal geht es nicht nur um die Risiken. Es geht auch darum, dass die Muslimbrüder eine sektiererische, konservative Politik verfolgen. Man kann sich nicht einfach Leuten anschließen, die unter solchen Slogans demonstrieren. Sie fordern Mursis Rückkehr. Wir haben uns an den Demonstrationen gegen Mursi beteiligt, wir wollen nicht, dass er zurückkommt.
Aus unserer Sicht richtete sich der Militärstreich gegen die Revolution und deren Forderungen. Aus Sicht der Muslimbrüder richtete er sich gegen den rechtmäßig gewählten Präsidenten Mursi. Zwischen diesen beiden Positionen besteht ein erheblicher Unterschied. Gegen Mursi gab es eine wirkliche Massenbewegung, nicht nur Demonstrationen, sondern auch Streiks. Und einige Generäle haben diese Massenbewegung benutzt, um Mursi loszuwerden und gleichzeitig die Uhr der Revolution zurückzudrehen.
Was die enttäuschten Anhänger Mursis angeht, so haben die Unterdrückungsmaßnahmen sie sicherlich zusammengeschweißt. Ihre gesamte Führung sitzt hinter Gittern, Tausende wurden umgebracht. Daher gibt es in ihrem Lager keine großen internen Auseinandersetzungen. Aber natürlich werden alle möglichen Fragen diskutiert. Zum Beispiel haben die Revolutionären Sozialisten durchgängig argumentiert, dass die Revolution niedergeschlagen würde, wenn wir nicht den Staat auseinandernehmen. Darauf antworteten sie damals, das würde bedeuten, den Staat zu verraten, und das Militär müsse vereint bleiben. Von einer Entmachtung des Staates wollten sie nichts wissen. Sie standen uns sehr kritisch gegenüber und wollten uns für diese Position sogar ins Gefängnis bringen. Mittlerweile geben uns einige der jüngeren Mitglieder der Muslimbrüder Recht und sagen: »Der Staat hat uns zerschlagen, und wir haben das zugelassen, weil wir nicht versucht haben, ihn zu zerschlagen.« Inwieweit das repräsentativ für die Muslimbrüder insgesamt ist, kann ich nicht einschätzen.
Werden sie sich fragen, ob sie einen großen Fehler begangen haben, als sie sich auf die Seite des Militärs und der Polizei stellten?
Da bin ich sicher. Es ist nur logisch: diese Frage muss aufkommen. Die Muslimbrüder lobten Al-Sisi, die Generäle und die Polizei so lange, bis diese sie zerschlugen. Diese Strategie hat offensichtlich Schwachstellen gezeigt. Unter den jetzigen Umständen aber wird niemand einen internen Aufstand vom Zaun brechen.
Werden die Muslimbrüder bei den nächsten Wahlen eine Rolle spielen?
Im Moment sind sie damit beschäftigt, dem Militär Zugeständnisse abzuringen, um wenigstens ihre Führung aus dem Gefängnis zu bekommen und ein wenig politischen Spielraum zurückzugewinnen. Mursi soll am 4. November vor Gericht gestellt werden. Aber ein Telefonat genügt, und sein Termin kann um mehrere Monate verschoben werden (der Prozess wurde nach dem ersten Verhandlungstag auf Januar verschoben, Anm. d. Red.). Das ist nur Teil der Show, denn alles hängt davon ab, wie die Verhandlungen sich weiter entwickeln.
Die Muslimbruderschaft weiß, dass das Land nicht lange ohne Eisenbahnverkehr und ähnliches auskommen kann. Es wird gesagt, die Mitglieder sollen Geduld haben und den Druck aufrechterhalten. Sie wissen, dass das System sich so nicht halten kann und sich etwas ändern muss.
Dieser Druck führt zu Meinungsverschiedenheiten unter den Generälen. Die fragen sich, ob sie mit den Muslimbrüdern Gespräche aufnehmen oder einige von ihnen in die Freiheit entlassen sollten.
Wenn die Muslimbruderschaft den alltäglichen Druck aufrechterhalten kann, werden sie früher oder später Zugeständnisse machen müssen.
Die Muslimbruderschaft war schon früher verboten. Aber sie ist Teil der ägyptischen Gesellschaft und hat mehr als eine Million aktive Mitglieder. Die kann man nicht alle einsperren. Und dazu kommen zehn Millionen Wähler und Unterstützer. Die Muslimbrüder gibt es seit achtzig Jahren und sie werden sich nicht einfach auflösen.
Demnächst soll der Entwurf einer neuen Verfassung vorgestellt werden. Darüber soll es eine Volksabstimmung geben und dann Wahlen. Wird sich die Opposition daran beteiligen? Bei früheren Wahlen sind viele Menschen den Wahlurnen ferngeblieben, weil sie vermuteten, dass die Wahlen ohnehin gefälscht würden, wenn das Militär alles in der Hand hat und keine internationalen Beobachter zulässt.
Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob ein Boykott sinnvoll wäre oder nicht. Ich glaube, eher nicht. In dieser besonderen Situation wird sich die Opposition an den Wahlen beteiligen müssen, um all den enttäuschten Menschen eine Alternative anzubieten, all den Menschen, die bis dahin tiefe Zweifel entwickelt haben. Wohin sollen die sich wenden? Wenn wir uns nicht an den Wahlen beteiligen, werden die uns fragen, was wir ihnen noch zu sagen haben und ob alles vorbei ist.
Das wäre gefährlich und deshalb muss die Opposition sich an den Wahlen beteiligen. Aber alles kommt auf den weiteren Verlauf der Dinge an. Wenn vor jedem Wahllokal Panzer aufgefahren werden und Schlägertrupps die Straßen unsicher machen, dann werden wir uns das nochmal überlegen müssen. Es hängt davon ab, wie schlimm die Lage bis dahin sein wird.
Ist es für euch wichtig, dass die Augen der Welt in diesem Prozess auf Ägypten gerichtet sind?
Nun, das ist eine zweischneidige Sache. Auf der einen Seite, ja, selbstverständlich. Wir brauchen so viel internationale Solidarität für die ägyptische Revolution wie möglich. Aber dieser Unterstützung wird in hysterischer Weise unterstellt, dass es eine ausländische Verschwörung sei, die Pläne zur Zerstörung des ägyptischen Staates hege.
Wir müssen vor allem im Kopf behalten, dass wir ihnen helfen würden, den ganzen Sieg davonzutragen, wenn wir uns jetzt demoralisieren lassen. Und ganz haben sie noch nicht gewonnen. Aber dieses Gefühl, dass die Revolution schon vorbei ist, müssen wir überwinden.
Die Symbolik der ganzen Sache ist nie so deutlich gewesen. Der Tahrir-Platz ist zu einem Friedhof geworden. Er ist zu einem Parkplatz für Panzer verkommen. Für Menschen auf der ganzen Welt war Tahrir das Symbol der Revolution, von Wandel und Demokratie. Zu sehen, wie diese Hoffnung in einen gigantischen Parkplatz für etliche Dutzend Panzer, gepanzerte Armeefahrzeuge mit Mauern und Stacheldraht verwandelt wurde, auf dem keine Menschenseele mehr zu sehen ist – das ist, gelinde gesagt, demoralisierend.
Aber das bedeutet nur, dass wir uns den Tahrir-Platz zurückerobern müssen. Wir stehen jetzt an einer Wegscheide, wo es keinen anderen Ausweg gibt. Die ägyptische Revolution kann nur wiederbelebt werden, wenn wir sie uns wieder aneignen. Die anstehende Schlacht wird um den Tahrir-Platz ausgefochten werden. Deshalb hat die Muslimbruderschaft am 6. Oktober versucht, ihn zu besetzen. Und genau deshalb hat die Armee scharf geschossen und mehr als 50 Menschen umgebracht, obwohl sie friedlich versuchten, zum Tahrir-Platz zu marschieren. Die Armee weiß, dass sie wieder große Probleme bekommt, wenn sie diesen Platz verliert. Und alle in der Muslimbruderschaft und alle in der Linken wissen: Wenn wir diesen Platz nicht zurückerobern… stecken wir in ernsten Schwierigkeiten.
Dieses Interview ist eine stark gekürzte Version eines Artikels, der am 8. November 2013 auf Open Democracy veröffentlicht wurde. Das Interview erschien außerdem in der letzten Ausgabe des marx21-Magazins .