Die türkische Besatzung von Afrin zeigt die wachsende Gefahr für die Kurdinnen und Kurden in Syrien. Der kurdischen Bevölkerung muss die Solidarität aller Linken gelten – aber eine kritische Analyse der der Politik der PYD ist nötig. Von Joseph Daher
Der Ausbruch des Volksaufstands in Syrien im März 2011 ermöglichte die Konstituierung der kurdischen nationalen Frage auf eine Art und Weise, wie sie in der Geschichte des Lands in vielerlei Hinsicht neu ist. Der Aufstand bot der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), die eng mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei verbunden ist, die Gelegenheit, zum dominanten kurdischen politischen Akteur in Syrien aufzusteigen.
Die PYD und der Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen
Die PYD begann im Norden von Syrien mit dem Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen, die sicherstellen sollten, dass im Bürgerkrieg alle Bewohnerinnen und Bewohner mit dem zum Überleben Notwendigsten versorgt werden. Doch die PYD wollte mehr als nur eine Notstandsverwaltung. Nach den Vorstellungen der Partei sollte in Rojava das Konzept des »Demokratischen Konföderalismus« in die Praxis umgesetzt werden. Dieses hat Abdullah Öcalan, der in der Türkei inhaftierte Führer der PKK, in seinen Schriften entwickelt. Ziel ist eine kommunale, selbstverwaltete und ökologisch aufgebaute Ökonomie, in der Männer und Frauen gleichberechtigt zusammenleben können. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und religiösen Minderheiten sollen gemeinsam die Region verwalten, Stadtteilräte und Kooperativen das Rückgrat einer basisdemokratisch aufgebauten Gesellschaft bilden. Dennoch gibt es deutliche Widersprüche zwischen Theorie und Praxis. Einige Entwicklungen, die die PYD in Rojava angestoßen hat, sind begrüßenswert, insbesondere in Bezug auf die Rechte von Frauen, die Säkularisierung des Rechtswesens und der Institutionen, und bis zu einem gewissen Grad auch auf die Partizipation ethnischer und religiöser Minderheiten.
Wie war der »Erfolg« der PYD möglich?
Viele auf der Linken verstehen nicht, dass der »Erfolg« der PYD von der Dynamik der ursprünglichen demokratischen Oppositionsbewegung der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime abhängt. Die autonome Selbstverwaltung in Rojava wäre ohne die massenhafte spontane Bewegung, in der die arabische, die kurdische und die syrische Bevölkerung gemeinsam gegen das kriminelle und autoritäre Regime Assads kämpfte, nie zugelassen worden. Doch die anfängliche Zusammenarbeit zwischen arabischen und kurdischen Gruppen und Aktivistinnen und Aktivisten in der Protestbewegung gegen das Regime Assad nahm immer weiter ab. Der Hintergrund für die zunehmende Isolation der kurdischen Volksbewegung innerhalb der syrischen Protestbewegung ist meiner Meinung nach das Ergebnis zweier Faktoren:
Erstens verfolgte die PYD eine Politik der Stärkung ihres politischen Einflusses durch ihre eigenen Streitkräfte. Es ging der Partei darum, die kurdische Mehrheit der bewohnten Gebiete zu kontrollieren, eine Form der kurdischen Autonomie durchzusetzen und so zu versuchen, die Kantone von »Rojava« geographisch zu verbinden. Nach Vorstellung der PYD waren diese Ziele am besten zu erreichen durch eine konfrontationsfreie Haltung sowie taktische und punktuelle Verständigung mit dem Regime.
Das Regime war damit beschäftigt, an anderen Fronten zu kämpfen und sah den wachsenden Einfluss der PYD als Werkzeug, um die Türkei unter Druck zu setzen. Die Präsenz der PYD an der türkisch-syrischen Grenze hat in einigen Gebieten auch syrisch-arabische bewaffnete Oppositionskräfte – die mehrheitlich die nationalen kurdischen Forderungen ablehnen – von ihren Stützpunkten und Versorgungslinien in der Türkei abgeschnitten. Allerdings: Die PYD schreckte ebenfalls nicht davor zurück, andere kurdische politische Akteure und Aktivisten zu unterdrücken, um ihren politischen Alleinvertretungsanspruch für die syrischen Kurden durchzusetzen und verstieß auch gegen die Rechte arabischer Syrer und anderer Teile der Bevölkerung. Als die PYD mit Unterstützung russischer Kampfflugzeuge im Februar 2016 in Afrin eine Anzahl arabisch dominierter Städte unter ihre Kontrolle brachte, die von der Opposition kontrolliert worden waren, führte dies zur Vertreibung eines großen Teils der arabischen Bevölkerung.
Die PYD und die syrische Oppositionsbewegung
Der zweite Faktor ist die politische Schwäche von Teilen der syrischen Oppositionsbewegung. Teile der syrisch-arabischen Opposition im Exil, aber auch im Land selbst, vertraten gegenüber den Kurden eine feindselige politische Haltung. Diese Position vertrat vor allem der Syrische Nationalrat und an zweiter Stelle die Syrische Nationale Koalition (SNC). Die SNC wird von der syrischen Muslimbrüderschaft, Konservativen und Liberalen dominiert und ist mit der türkischen AKP-Regierung verbündetet. Sie richtet sich gegen die politischen Forderungen des kurdischen Volkes in Syrien. Die Organisationen der SNC unterstützten auch die bewaffneten Angriffe der Türkei und von bewaffneten oppositionellen Gruppen gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Sie förderten einen arabisch-chauvinistischen Diskurs gegen die Kurden und lehnten Forderungen kurdischer politischer Parteien, etwa nach Föderalismus, ab. Sie schlugen kein Programm vor, das die kurdische Bevölkerung oder andere gesellschaftliche Gruppen hätte integrieren können. Sie unterstützten sogar die türkische Invasion in Afrin. Dies führte zu einer Zunahme und Vertiefung der ethnischen Spannungen zwischen Arabern und Kurden. Diese Situation machte die PYD für immer mehr junge Kurdinnen und Kurden zur einzigen Alternative.
Die PYD und die Zusammenarbeit mit den Großmächten
Ihre regionale Isolation führte dazu, dass die PYD und die YPG jede Unterstützung durch Stationierung und Eingreifen westlicher und russischer Truppen auf ihrer Seite als einen Weg zur Erfüllung ihres Ziels begrüßten. Ab Mitte 2016 gerieten die PYD-Kantone jedoch zunehmend unter den Druck politischer Veränderungen auf der internationalen und regionalen Bühne, vor allem nach dem gescheiterten Putsch eines Teils der türkischen Armee gegen die AKP-Regierung, der erneut zu drastischen autoritären Maßnahmen in der Türkei, insbesondere gegen Kurden, führte. Letzteres hatte Auswirkungen auf die von der PYD gehaltenen Gebiete und die Annäherung zwischen Ankara und Moskau.
Die Siegesserie der syrischen Pro-Regime-Truppen in den nördlichen Regionen 2016 und 2017 erhöhte den Druck auf die PYD, denn der Aufstand gegen Assad hatte das Regime überhaupt erst veranlasst, zeitlich und räumlich begrenzte Vereinbarungen mit der PYD zu schließen. In dem Maße jedoch, in dem die Stärke des Assad-Regimes durch die Rückeroberung oppositioneller Gebiete wuchs, nahm die Gefahr durch den Aufstand ab. So konnte das Regime nun seine Kräfte erneut gegen die kurdischen Regionen wenden und mit Zustimmung und Unterstützung regionaler und internationaler Akteure jede Form von Autonomie in kurdisch bewohnten Regionen verhindern.
Die türkische Militäroperation gegen Afrin und das jüngste gescheiterte Unabhängigkeitsreferendum im irakischen Kurdistan haben gezeigt, dass internationale und regionale Mächte nicht bereit sind, kurdische nationale oder autonome Ziele zu verwirklichen. Es ist unübersehbar: Die frühere Unterstützung der YPG durch Moskau und Washington und die Unterstützung der YPG für die russische Luft- und Militärkampagne an der Seite des Assad-Regimes Ende September 2015 hat die militärische Aggression Ankaras gegen Afrin nicht verhindert. Nach der Besetzung von Afrin erklärte Erdogan, dass seine Truppen ihre Offensive gegen die YPG entlang der Grenzen zur Türkei, und wenn nötig auch im Nordirak, fortsetzen werden. Die Kurdinnen und Kurden wurden schon in der Vergangenheit von autoritären Regimen und imperialistischen Akteuren für ihre Interessen benutzt, bevor sie dann geopfert wurden, wenn diese Interessen sich änderten. Das wird höchstwahrscheinlich wieder geschehen.
Recht auf nationale Selbstbestimmung
Die Kollaboration einiger kurdischer Kräfte mit imperialistischen Mächten rechtfertigt jedoch keine Ablehnung des kurdischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Aus sozialistischer Perspektive ist die Einheit und Unabhängigkeit der breiten Bevölkerung und der Arbeiterklasse ohne jegliche Diskriminierung, beispielsweise auf Grund von Ethnie, Religion oder Geschlecht, in der Region der einzige Weg zur Befreiung und Emanzipation aller.
Arbeitskämpfe allein reichen nicht aus, um die Arbeiterklasse zu vereinen. Sozialistinnen und Sozialisten in diesen Kämpfen müssen sich für die Befreiung aller Unterdrückten einsetzen. Das beinhaltet die Forderung nach gleichen Rechten für Frauen, religiöse Minderheiten, LGBT-Gemeinschaften und unterdrückte ethnische Gruppen. Jedes Zurückweichen von diesen Forderungen wird die Linke daran hindern, die Arbeiterklasse für den radikalen Wandel der Gesellschaft zu vereinen. Das bedeutet auch, das Recht auf Selbstbestimmung der kurdischen Bevölkerung in der gesamten Region zu unterstützen. Die Unterstützung des Rechts auf Selbstbestimmung (welches Formen wie Unabhängigkeit, Föderalismus oder Anerkennung des kurdischen Volkes als gleichberechtigte Einheit innerhalb eines Staates annehmen kann) bedeutet nicht Kritiklosigkeit gegenüber der Politik der verschiedenen kurdischen Führungen, des Barzani-Clans, der PKK/PYD oder anderer kurdischer politischer Parteien und auch nicht das Gutheißen der Kollaboration mit imperialistischen Ländern.
Die PYD und die Niederlage des syrischen Aufstandes
In einem weiteren Sinne spiegelt die von der Türkei geführte Operation in Afrin die Schwäche aller demokratischen und fortschrittlichen Akteure angesichts der Zerstörung der syrischen Revolution durch das Assad-Regime in Syrien und die damit verbundene Wiederbelebung der Macht dieses Regimes wider. Eine Niederlage des syrischen Aufstands bedeutet wahrscheinlich auch das Ende des Rojava-Projekts und die Rückkehr zu einer Ära der Unterdrückung für die Kurdinnen und Kurden in Syrien. Das Assad-Regime und die reaktionären Kräfte, die heute weite Teile Syriens beherrschen, werden keine Entwicklung eines politischen Versuchs zulassen, der im Widerspruch zu ihrem Autoritarismus steht. Wir müssen uns allen Formen von Sektierertum und Rassismus widersetzen. Unser Slogan muss lauten: »Unsere Schicksale sind miteinander verbunden.«
Generell müssen wir den Aufstand in Syrien wieder mit den Aufständen in anderen Ländern der Region in Zusammenhang setzen. Nur dadurch erkennen wir die Zusammenhänge zwischen unseren Kämpfen und begreifen, dass jede Niederlage von Menschen in Kämpfen für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit eine Niederlage für alle ist. Despotische und autoritäre Regime lernen aus ihren Repressionserfahrungen und teilen sie mit ihren Verbündeten. Das ist Realität, und deshalb brauchen wir mehr Zusammenarbeit zwischen den fortschrittlichen Kräften in der gesamten Region, um dem unsere Kraft entgegen setzen zu können.
Foto: Kurdishstruggle
Schlagwörter: Kurden, Kurdistan, PYD, Rojava, Syrien