Der Neofaschist Jair Bolsonaro zieht in Brasilien als Favorit in die Stichwahl für das Präsidentenamt. Lucas Orlando über die Ursachen seines Aufstiegs und die Perspektiven des antifaschistischen Widerstands
Vor einer Woche fand in Brasilien die erste Runde der nationalen Wahlen statt. Mit 46 Prozent der Stimmen konnte sich der Neofaschist Jair Bolsonaro klar gegen Fernando Haddad von der »Partido dos Trabalhadores« (PT, deutsch: Arbeiterpartei) durchsetzen. Letzterer kam auf lediglich 29,3 Prozent der Stimmen. Damit erhält Bolsonara noch einmal starken Aufwind für den zweiten Wahlgang am 28. Oktober und zieht nun als klarer Favorit in die Stichwahl um die Präsidentschaft im größten Land Lateinamerikas. Schon bald könnte ein Neofaschist im Palácio da Alvorada, dem Präsidentenpalast in Brasília, residieren.
Faschistische Schläger greifen an
Dies ist kein gewöhnlicher Wahlgang: Seit der Wiedereinführung freier Wahlen im Jahr 1989 wird die politische Auseinandersetzung in Brasilien in der Regel durch den Konflikt zwischen der PT und der neoliberalen »Partido da Social Democracia Brasileira« (PSDB, deutsch: Partei der brasilianischen Sozialdemokratie) bestimmt. Doch dieses Mal liefen die traditionellen Anhänger der PSDB massenhaft zum Faschisten Bolsonaro über.
Doch das ist nicht der einzige ungewöhnliche Aspekt dieser Wahlen: Sie sind geprägt von einem ungeheuren Ausmaß an politischer Gewalt. In vielen Städten kam es zu gewaltsamen Angriffen von Anhängern Bolsonaros auf Antifaschisten, Menschen mit dunkler Hautfarbe, Frauen, LGBTQ und Linke. In Gruppen von 20 bis 40 Personen machen faschistische Schläger Jagd auf Menschen. Leute wurden auf offener Straße verprügelt, nur weil sie ein rotes T-Shirt trugen. Es gibt Videoaufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie Bolsonaros Schlägerbanden in U-Bahn-Stationen Lieder grölen mit Texten wie: »Schwuchteln seid bereit – Bolsonaro kommt, um euch zu töten«. Menschen, die Opfer ihrer Angriffe wurden, berichten von Drohungen der Täter, dass sie nach dem Sieg von Bolsonaro zurückkommen werden, um sie zu holen.
In einem Land, in dem erst vor wenigen Monaten eine Stadträtin der radikalen Linken, Marielle Franco, brutal ermordet wurde, darf die politische Gewalt als eskalierender Faktor nicht länger ignoriert werden. Auch jetzt gab es bereits wieder Tote: Vor einigen Tagen wurde ein Capoeira-Lehrer erstochen aufgefunden. Zuvor hatte er öffentlich seine Stimme gegen Bolsonaro erhoben.
Der rasante Aufstieg eines Faschisten und die Explosion rechter Gewalt sind Ausdruck einer brandgefährlichen Entwicklung. Doch wie konnte die Lage in Brasilien so eskalieren?
Der Putsch 2016 und die Folgen
Als im Jahr 2016 ein Bündnis rechter Kräfte einen parlamentarischen Putsch gegen die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Roussef von der PT durchführte, glich dies dem Öffnen der Büchse der Pandora. Der Putsch war gut vorbereitet und mobilisierte große Teile der oberen Mittelschicht auf die Straße. Für die Anhängerinnen und Anhänger der Putschisten verkörpert die PT alles Böse in Brasilien. Die Rechte tat so, als wäre die längst gezähmte Arbeiterpartei im Begriff, eine »bolivarische Diktatur« zu errichten.
Hinter dem parlamentarischen Putsch stand die Idee, dass das Land eine radikale Sparpolitik durchlaufen müsse. Seither ist es der derzeitigen Regierung unter Michel Temer gelungen, eine ultraliberale Arbeitsreform durchzuführen, der zufolge private Verhandlungen zwischen Chefs und einzelnen Arbeitnehmern eine höhere Rechtsstellung haben als jegliche Art von Arbeitsschutzrecht. Außerdem ließ Temer alle Sozialinvestitionen für die nächsten 20 Jahre einfrieren. Seine Rentenreform konnte hingegen nach massivem Widerstand und einem Generalstreik im April 2017 gestoppt werden.
Die Unterstützung für Temer ist seither auf dem Tiefpunkt: Nur drei Prozent der Bevölkerung stehen Umfragen zufolge noch hinter seiner Politik. Die momentane Wirtschaftskrise gilt als die schlimmste in der brasilianischen Geschichte. Zwölf Millionen Menschen sind mittlerweile arbeitslos.
Der Putsch im Jahr 2016 weckte jedoch auch die konservativsten und reaktionärsten Kräfte des Landes. Hassreden und politische Gewalt breiteten sich aus wie ein Lauffeuer, das durch die Hetze Bolsonaros immer weiter angefacht wurde. Seine Anhänger sehen in ihm die politische Kraft, die die Linke zerschlagen und wieder »Ruhe und Ordnung« im Land durchsetzen wird.
Bolsanaro will zurück zur Militärdiktatur
Durch sein radikales Auftreten und seinen ständigen Attacken gegen die Linke gelingt es Bolsonaro die reaktionärsten Teile der Gesellschaft hinter sich zu scharen. Auch mit sexistischen und frauenverachtenden Anfeindungen sowie Hasstiraden gegen Homosexuelle macht er immer wieder Schlagzeilen. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen rechtfertigte er die niedrigeren Löhne von Frauen damit, dass diese nun einmal schwanger werden würden. Gegenüber einer Abgeordneten des brasilianischen Nationalkongresses meinte er, dass er sie nur deshalb nicht vergewaltigen würde, weil sie »zu hässlich« sei. Bei einer anderen Gelegenheit verkündete er voller Stolz, dass er lieber einen toten Sohn hätte als einen schwulen Sohn.
Auch aus seinem Wunsch nach einer Rückkehr zur Militärdiktatur macht Bolsonaro kein Geheimnis. Ihm zufolge lag der einzige Fehler der Diktatur, die in Brasilien von 1964 bis 1985 herrschte, nicht darin, dass Dissidenten gefoltert wurden, sondern darin, dass man sie nicht gleich alle umgebracht hat. Wenn er das Sagen gehabt hätte, hätten sie mindestens 30.000 von ihnen ermordet, so Bolsonaro.
Bolsonaro als der neue Pinochet?
Auch Bosonaros Vizekandidat Hamilton Mourão, ein pensionierter General der brasilianischen Armee, zieht einen Militärputsch als Möglichkeit in Betracht. Er sprach offen darüber, dass Brasilien einen Verfassungsgeber brauche, der nicht demokratisch gewählt werden müsse. Wie groß die Fraktion innerhalb der Streitkräfte ist, die bereit ist, einen solchen Schritt zu unternehmen, ist unklar. Allerdings hat der Oberste Befehlshaber der brasilianischen Armee sich in der letzten Zeit vermehrt über die Presse und in öffentlichen Erklärungen in die Politik eingemischt.
Wirtschaftspolitisch folgt Bolsonaros Programm dem historischen Vorbild von Chile unter Diktator Augusto Pinochet. Genau wie damals in Chile wurde auch Bosonaros Wirtschaftsprogramm von einem »Chicago Boy«, dem neoliberalen Ökonomen Paulo Guedes, entwickelt – von sich selbst sagt Bosonaro, dass er nichts von Wirtschaft verstehe. Das Programm sieht unter anderem die Privatisierung aller öffentlichen Unternehmen und das Ende des bezahlten Urlaubs für Arbeiterinnen und Arbeiter vor. An der Börse von São Paulo wurden die Vorschläge euphorisch gefeiert.
Niedergang der brasilianischen Arbeiterpartei
Die soziale Basis der Anhängerschaft Bolsonaros liegt im Kleinbürgertum und in der oberen Mittelschicht der brasilianischen Gesellschaft. Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass die brasilianische Mittelschicht fast die Hälfte der Bevölkerung umfasst. Tatsächlich ist es Bolsonaro gelungen, auch Anhänger in der Arbeiterklasse zu finden, die er vor allem über WhatsApp mit seiner Hetze und seinen Fake News erreicht. So sind auch ehemalige Wählerinnen und Wähler der PT zu ihm übergelaufen.
Noch im Jahr 2010, zum Ende der Regierungszeit von Lula da Silva, erreichte die brasilianische Arbeiterpartei Zustimmungswerte in der Bevölkerung von 86 Prozent. Seither hat die PT einen dramatischen Niedergang erlitten.
Der Grund für die massiven Verluste liegt auf der Hand: Einst angetreten, um das politische System Brasiliens zu bekämpfen, ist die PT über die Jahre selbst Teil dieses Systems geworden und spielt nach dessen Regeln. Anstatt die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, wollte sie »für alle« regieren, wodurch sie zunehmend den Kontakt zur Klasse und zu den sozialen Bewegungen verlor. Während die wirtschaftliche und soziale Lage im Land immer dramatischere Ausmaße annahm, wurde die PT durch Korruptionsskandale erschüttert, die zu einem weiteren Vertrauensverlust führten.
Die Aufgaben der Linken
Dennoch, gerade in den ärmsten Gebieten des Landes genießt die PT nach wie vor große Unterstützung. Und egal wie schwer ihr Verrat an der brasilianischen Arbeiterklasse wiegt, jetzt ist die Wahl ihres Kandidaten die einzige Chance, um die Gefahr eines Neofaschisten an der Spitze des Staats abzuwenden.
Die PT steht nun vor der Wahl zwischen zwei verschiedenen Taktiken: Die erste Taktik, die sie bereits anzuwenden versucht, besteht darin, näher an Mitte-rechts Parteien wie die PSDB zu rücken und zu einer demokratischen Volksfront gegen Bolsonaro aufzurufen. Ob dieser Plan aufgehen wird, ist jedoch mehr als fraglich. Die zweite mögliche Taktik für die PT besteht darin, ihre eigene soziale Basis und die unabhängigen sozialen Bewegungen zu mobilisieren und dazu aufzurufen, die faschistische Gefahr auf der Straße zu bekämpfen.
Dies ist der Weg, den auch die brasilianische Linkspartei, die Partido Socialismo e Liberdade (PSOL, Partei für Sozialismus und Freiheit), vorschlägt. Und tatsächlich ist in den letzten Wochen eine Straßenbewegung gegen Bolsonaro entstanden. Unter dem Motto #EleNão (#ErNicht) gingen insgesamt Hunderttausende in zahlreichen Städten und Gemeinden auf die Straße. In den letzten Tagen haben sich zudem in zahlreichen Betrieben, Nachbarschaften und Bildungseinrichtungen »Komitees für Demokratie« gebildet, um gegen Bolsonaro aktiv zu werden. Die Stärke dieser antifaschistischen Front wird darüber entscheiden, ob er noch gestoppt werden kann.
Die internationale Dimension des Problems
Brasilien ist bei weitem nicht das einzige Land, das in den letzten Jahren einen Aufstieg der Rechten erlebt. Überall in Lateinamerika befinden sich die linken Regierungsprojekte der Jahrtausendwende in der Krise oder sind längst gescheitert. Rechte Parteien und neofaschistische Kräfte sind weltweit auf dem Vormarsch.
Brasilien ist das größte, reichste und wichtigste Land Lateinamerikas. Zu einigen seiner Nachbarstaaten unterhält es subimperialistische Beziehungen. Eine faschistische Regierung wäre daher nicht nur für die brasilianische Arbeiterklasse eine immense Gefahr, sondern auch für die Menschen in vielen anderen Ländern.
Der Linken und allen Antifaschistinnen und Antifaschisten in Brasilien bleiben nun noch zwei Wochen, um die Stimmung im Land zu drehen und einen Wahlsieg Bolsonaros zu verhindern. In dieser Situation ist auch die internationale Solidarität gefragt. Dabei sollte es nicht bei Worten bleiben. Die Bekämpfung des Faschismus egal in welchem Land ist eine Möglichkeit, die Faschisten überall zurückzudrängen. Jede Niederlage, die wir ihnen zufügen, kann zur Inspiration für die fortschrittlichen Kräfte weltweit werden. Die Welle der Empörung, die sich im Jahr 2011 über mehrere Kontinente ausbreitete, hat gezeigt, dass auch der Gedanke der Solidarität ansteckend ist, nicht nur der des Hasses.
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