Der Umgang mit dem Islam ist in der Linken ein heikles Thema. In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime, das entspricht fünf Prozent der Bevölkerung. In diesen Milieus ist die Linke jedoch wenig erfolgreich. Denn sie ist säkular und teilweise antireligiös eingestellt. Einen anderen Ansatz verfolgten die russischen Bolschewiki. Von Dave Crouch
Auch über einhundert Jahre nach der Oktoberrevolution lohnt es sich, einen Blick auf die Religionspolitik der Bolschewiki zu werfen. Sie führten harsche Auseinandersetzungen über die Haltung zur Religion. Viele Bolschewiki, auch Angehörige der Führung, machten keinen Unterschied zwischen der Religion der Unterdrücker und der der Unterdrückten. Ihnen galt jede Religion als Feind. Lenin hielt dagegen, dass diese abstrakte Opposition gegen nationale und religiöse Rechte leicht in das Fahrwasser eines wiederauflebenden russischen Chauvinismus geraten konnte.
Ob Marxistinnen und Marxisten aktiv die Forderung nach Religionsfreiheit aufgreifen, hängt von den konkreten Umständen ab, nicht von abstrakten Parolen. Die vermeintliche Toleranz der Bolschewiki gegenüber dem Scharia-Gesetz war eine Anerkennung der Tatsache, dass der islamische Konservatismus nur dann zurückgedrängt werden konnte, wenn mit der großrussischen chauvinistischen Politik gebrochen wurde. Nur dann konnten die religiösen Eliten nicht mehr so leicht Menschen klassenübergreifend um die Moschee scharen, und die Klassenspaltungen in der muslimischen Gesellschaft konnten zu Tage treten.
Lenin wollte Gläubige gewinnen
Die Bolschewiki gingen davon aus, dass Menschen, die zum ersten Mal in Kontakt mit sozialistischen Organisationen treten, religiösen Überzeugungen anhängen, die sie nur verlieren würden, wenn sie sich ihrer eigenen Macht, die Welt zu verändern, gewiss werden.
Lenin meinte, es käme politischem Selbstmord gleich, darauf zu pochen, dass diese Menschen vor Eintritt in eine revolutionäre Partei ihre religiösen Ideen aufgeben. Er forderte im Gegenteil, Gläubige »zielstrebig« für die Partei zu gewinnen. »Wir sind unbedingt gegen die geringste Verletzung ihrer religiösen Überzeugungen«, schrieb er 1909.
»Die soziale Unterdrückung der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht gegenüber den blind waltenden Kräften des Kapitalismus, der den einfachen arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr der entsetzlichsten Leiden und unmenschlichsten Qualen bereitet als irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse wie Kriege, Erdbeben usw. – darin liegt heute die tiefste Wurzel der Religion.«
Die Bolschewiki erlebten auch, dass sich die Radikalisierung der Arbeiterklasse in ihren religiösen Anschauungen spiegeln konnte. In seiner Autobiografie erinnert sich Trotzki an die Streikwelle Ende der 1890er Jahre, als Arbeiterinnen und Arbeiter in der Ukraine mit der russisch-orthodoxen Kirche brachen und zu anderen Religionsgemeinschaften wie den Baptisten übertraten, die »einen Kampf mit der offiziellen orthodoxen Kirche« führten. Für sie bedeutete das oft »eine kurze Etappe auf dem revolutionären Weg«.
Nichtreligiös, aber nicht antireligiös
Als die Bolschewiki im Oktober 1917 an die Macht kamen, erklärten sie den Sowjetstaat für nichtreligiös, aber nicht für antireligiös. Die russisch-orthodoxe Kirche wurde entmachtet und verlor ihre Eigentumsrechte. Geburtsregister, Heirat, Scheidung und Bildung wurden zu Aufgaben des Staats erklärt. Kirchen wurden in Schulen und Wohngebäude umgewandelt. Gleichzeitig hatten religiöse Gruppierungen das Recht, Anträge auf die Nutzung eines beliebigen Gebäudes als Gebetshaus zu stellen.
Einige christliche Kirchen blühten unter den Bolschewiki sogar auf. Die Evangelikalen nutzten die in der sowjetischen Verfassung festgeschriebene Freiheit der religiösen Propaganda und missionierten umfangreich. Ein Grund für den Aufstieg des Evangelismus war die Entscheidung Trotzkis im Oktober 1918, dass Männer, die den Militärdienst wegen ihrer religiösen Überzeugung ablehnten, stattdessen medizinischen Ersatzdienst ableisten durften. Diese Anweisung kam gerade in dem Moment, als der Bürgerkrieg voll in Gang kam. Zahlreiche junge Männer traten den Evangelisten bei, um dem Militärdienst zu entgehen. Dennoch entschied sich die bolschewistische Führung, diesen Preis für die Aufrechterhaltung des Prinzips der Religionsfreiheit zu bezahlen.
Ein »islamischer Sozialismus« entsteht
Der Islam war auch unter dem Zarenreich kein einheitlicher Glaube. Die Tartaren und Kirgisen zum Beispiel kannten die Tradition der Verschleierung der Frauen nicht. In Mittelasien, wo es den Schleier und die Abschottung von Frauen gab, stammten diese Praktiken häufig aus der Zeit nach der russischen Kolonisierung. Eine intellektuelle Strömung innerhalb des Islams in Mittelasien, die Dschadiden oder »Erneuerer«, sollten für die Revolution von großer Bedeutung werden.
Diese antifeudalen Intellektuellen aus der Mittelschicht wollten die Religion aus dem Unterricht entfernen und Frauen eine viel aktivere Rolle in der Gesellschaft zuweisen. Die Dschadiden orientierten sich deshalb am anscheinend fortschrittlichen und modernen Westen und lehnten sich gegen die islamische Geistlichkeit auf, die ihrer Auffassung nach die muslimische Gesellschaft in Rückständigkeit hielt. Sie identifizierten sich mit dem russischen Liberalismus und begrüßten folglich den Krieg gegen den Zarismus.
Der Bolschewismus wurde zu einer anziehenden Alternative für viele Dschadiden, die »in die vom Sowjetregime aufgebauten neuen Organe der Regierung strömten«. Die Dschadiden waren nicht die einzigen muslimischen Gläubigen des einstigen Zarenreiches, die sich vom Bolschewismus angezogen fühlten. Es gab breite Diskussionen über die Ähnlichkeit islamischer Werte mit sozialistischen Prinzipien. Die Richtung des »islamischen Sozialismus« appellierte an Muslimas und Muslime, Sowjets zu bilden. Beliebte Parolen lauteten: »Religion, Freiheit und nationale Unabhängigkeit!« und »Lang lebe die Sowjetmacht, lang lebe die Scharia!«
Muslime gegen Imperialismus
Einen Einblick in die Vorstellungen jener Zeit gibt Mohammed Barkatullah, 1919 Berater der afghanischen Monarchie, die sich für einen Krieg gegen Großbritannien rüstete. Barkatullah bereiste weite Teile Mittelasiens (damals als Turkestan bezeichnet) und verbreitete seine Schrift »Bolschewismus und die islamische politische Welt«. Ein Exemplar fiel dem britischen Geheimdienst in die Hände. Es lohnt sich, etwas ausführlicher daraus zu zitieren:
»Nach der langen dunklen Nacht der zaristischen Selbstherrschaft geht die Morgendämmerung der menschlichen Freiheit am russischen Horizont auf, und Lenin ist die Sonne, die diesen glücklichen Menschheitstagen Licht und Glanz spendet. (…) Die Verwaltung der ausgedehnten Gebiete Russlands und Turkestans ist in die Hände der Arbeiter, Bauern und Soldaten gelegt worden. Unterscheidungen nach Rasse, Religion und Klasse sind aufgehoben. (…) Aber der Feind dieser reinen, einzigartigen Republik ist der britische Imperialismus, der darauf hofft, die asiatischen Nationen im Zustand ewiger Knechtschaft zu halten. Er hat Truppen nach Turkestan verlegt, um den jungen Baum vollkommener menschlicher Freiheit zu fällen, in dem Moment, da er Wurzeln schlägt und kräftig wird. Die Zeit ist für die Mohammedaner der Welt und die asiatischen Nationen gekommen, die hochherzigen Prinzipien des russischen Sozialismus zu verstehen und sie ernsthaft und mit Begeisterung anzunehmen.«
Wiedergutmachung für die Verbrechen des Zarismus
Religionsfreiheit war für die unterdrückten Völker der ehemaligen russischen Kolonien ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Freiheit. Das Ziel der bolschewistischen Politik bestand darin, so weit wie möglich Wiedergutmachung für die Verbrechen des Zarismus an nationalen Minderheiten und ihren Religionen zu leisten. Dabei ging es nicht nur um Gerechtigkeit und Demokratie, sondern auch darum, dass auf diese Weise die Klassenunterschiede unter den Gläubigen in den Vordergrund rücken konnten. Nationale Autonomie und Unabhängigkeit von Russland wurden so zu einem entscheidenden Bestandteil sowjetischer Politik. In einer Erklärung der jungen Sowjetregierung »an alle werktätigen Mohammedaner Russlands und des Ostens« vom 24. November 1917 hieß es:
»Muslime Russlands (…) ihr, deren Moscheen und Gebetshäuser von den Zaren und Unterdrückern Russlands verwüstet wurden, deren Überzeugungen und Sitten mit Füßen getreten wurden: Euer Glaube und eure Sitten, eure nationalen und kulturellen Einrichtungen sind für immer frei und unantastbar. Wisset, dass eure Rechte wie die aller Völker Russlands unter dem mächtigen Schutz der Revolution stehen.«
Ein umfangreiches Programm mit dem Titel »Korenisazija« (Einwurzelung) wurde aufgelegt, das man heute als »positive Diskriminierung« bezeichnen würde. Als Erstes wurden die russischen und kosakischen Kolonisten und ihre Ideologen in der russisch-orthodoxen Kirche kaltgestellt. Die Vorrangstellung der russischen Sprache wurde aufgehoben, und in den Schulen, Regierungen und Verlagen durften wieder Regionalsprachen benutzt werden. Einheimische nahmen führende Positionen im Staat und den kommunistischen Parteien ein und wurden bei Stellenbesetzungen vor den Russen bevorzugt. Universitäten wurden eingerichtet, um eine neue Generation nichtrussischer Führungskräfte auszubilden.
Scharia, Schleier und Befreiung
Die Einführung des Scharia-Gesetzes hatte während der Februarrevolution von 1917 zu den Kernforderungen der muslimischen Gläubigen gehört. Und als sich der Bürgerkrieg 1920/21 dem Ende näherte, wurde in Mittelasien und dem Kaukasus ein paralleles Rechtssystem geschaffen, in dem die islamischen Gerichte in Übereinstimmung mit den Scharia-Gesetzen neben den sowjetischen Rechtsinstitutionen Recht sprachen. Die Menschen sollten die Wahl zwischen religiöser und revolutionärer Gerichtsbarkeit haben. Einige Strafen, die als »Scharia-Strafen« wahrgenommen wurden, wie das Steinigen oder Handabschlagen, wurden jedoch verboten. Umstrittene Entscheidungen eines Scharia-Gerichts mussten durch höhere Justizorgane bestätigt werden. Ein paralleles muslimisches Bildungssystem wurde ebenfalls eingerichtet.
Einige Muslimas und Muslime zogen revolutionäre Schlussfolgerungen und traten kommunistischen Parteien bei. Trotzki stellte 1923 fest, dass in einigen Südrepubliken 15 Prozent der Parteimitglieder an den Islam glaubten. In bestimmten Gegenden Mittelasiens bestand die kommunistische Partei aus bis zu 70 Prozent muslimischen Mitgliedern. Sie brachten Reste ihrer religiösen Sitten und ihres Glaubens mit: Mitte der 1920er Jahre trugen sogar Ehefrauen hochrangiger kommunistischer Parteimitglieder in Mittelasien den Schleier.
Es hatte allerdings harter Arbeit bedurft, die russischen Chauvinisten in Mittelasien zu bekämpfen, die nach 1917 auf den revolutionären Zug aufgesprungen und unter Missbrauch der Parole »Arbeitermacht« gegen die örtliche, überwiegend bäuerliche Bevölkerung vorgegangen waren. Zwei Jahre lang war die Region durch den Bürgerkrieg von Moskau abgeschnitten, und diese selbst ernannten »Bolschewiki« hatten freie Hand, die einheimische Bevölkerung zu drangsalieren. Infolgedessen brach die Basmatschi-Bewegung aus – ein bewaffneter islamischer Aufstand. Lenin sprach von der »gewaltigen, gesamthistorischen« Bedeutung, die Angelegenheit zu regeln. Im Jahr 1922 wurden über 1.500 russische Mitglieder wegen ihrer orthodox-religiösen Überzeugungen aus der Partei in Turkestan ausgeschlossen, aber kein einziger Muslim.
Stalins Angriff auf den Islam
Die Bemühungen der Bolschewiki, Religionsfreiheit und nationale Rechte zu garantieren, wurden ständig durch die sehr schwache Sowjetindustrie – und folglich die Schwierigkeit, grundlegende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen – untergraben. Verzweifelte Armut drückte das Land nieder.
In dem Bemühen, Macht zu bündeln und die staatliche Kontrolle zu stärken, entdeckte die wachsende stalinistische Bürokratie, dass der russische Nationalismus bei Betonung der Kontinuität zwischen Stalinismus und den Zaren ein mächtiges Werkzeug sein konnte, die Arbeiter der größten nationalen Gruppierung, also der russischen, an das Regime zu binden.
Vor dem Hintergrund der Erstarkung dieser Tendenzen ab Mitte der 1920er Jahre beschloss die Fraktion um Stalin, einen Vollangriff auf den Islam einzuleiten. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen »Kriminalität auf Grund überkommener Sitten« stellten sie »Frauenrechte« in den Mittelpunkt ihrer Kampagne. Die Parole lautete »Hudschum«, was in den Sprachen Mittelasiens so viel wie »Angriff« oder »Sturm« hieß. Auf Großveranstaltungen wurden Frauen aufgefordert, den Schleier abzulegen: Kleine Gruppen einheimischer Frauen sollten zur Bühne gehen und ihre Schleier in Freudenfeuer werfen.
Noch im August 1925 porträtierte der Hauptredner einer allusbekischen Frauenversammlung die Entschleierung als eindeutig unbolschewistisch, er argumentierte, die »wirtschaftliche und materielle Sicherheit von Frauen ist der entscheidende Weg zur Lösung der Frauenfrage«.
Dagegen stellte Stalin die marxistische Praxis auf den Kopf: Statt Frauen zu ermutigen, ihre Unabhängigkeit zu erweitern, indem ihnen die Möglichkeit zu Studium, Arbeit und Leben außerhalb der althergebrachten Familie geboten wurde, war der Hudschum darauf angelegt, sie mittels hartnäckiger Propaganda zu überzeugen.
Von den Bolschewiki lernen
Unter Lenin und Trotzki stand die bolschewistische Führung zu ihrem marxistischen Verständnis, wonach die revolutionäre Partei vor allem in Worten, nicht aber in Taten atheistisch sein müsse. Dagegen hatte der Staat nichtreligiös, aber nicht antireligiös zu sein. Religionsgemeinschaften wurden mit der Revolution beachtliche Freiheiten gewährt, hingegen wurde der Handlungsfreiraum für die Religion des Zarenreiches wegen ihrer engen Bindung an die ehemalige herrschende Klasse stärker beschränkt. Gläubige, einschließlich Muslimas und Muslime, die sich selbst als Revolutionäre betrachteten, wurden gerne in die bolschewistischen Reihen aufgenommen. Nichtkommunistische Gläubige, die die Revolution unterstützten, besetzten Führungspositionen im Staatsapparat. Einige wichtige muslimische Organisationen traten als Verband den kommunistischen Parteien bei oder kamen den Bolschewiki bei der Verteidigung der Revolution zu Hilfe.
Der islamische Schleier war für die Bolschewiki unter Lenin kein Thema. Der Hauptangriff auf den Schleier wurde 1927 von den russischen Chauvinisten und Stalinisten geführt. Es war ein beängstigender Vorbote der Zwangskollektivierung einige Jahre später. Zwangsentschleierung war eine stalinistische Politik, die den Leninismus auf den Kopf stellte. Wenn Sozialistinnen und Sozialisten heute also für das Recht muslimischer Frauen in Europa eintreten, das Kopftuch zu tragen, wenn sie zusammen mit Muslimen gegen die Besatzung des Iraks, Palästinas und Afghanistans demonstrieren, wenn sie das Recht verteidigen, gegen diese Besatzung auch gewaltsamen Widerstand zu leisten, dann halten sie eine Tradition hoch, die auf Lenin, Trotzki und die Bolschewiki zurückgeht.
Bei dieser Text handelt es sich um eine gekürzte Version eines Artikels, der erstmals in im April 2006 in der englischsprachigen Zeitschrift »International Socialism« (Ausgabe 110) erschienen ist.
Übersetzung von Rosemarie Nünning und David Paenson.
Schlagwörter: bolschewiki, Islam, Kopftuch, Lenin, Muslime, Oktoberrevolution, Scharia, Sowjetunion, Stalin, Trotzki