Ohne ihn sind Filme, wie wir sie heute kennen, undenkbar: Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« schrieb Filmgeschichte. Von Robert Blättermann
Im Frühjahr 1924 stand ein junger Mann in einem Moskauer Gaswerk. Sergej Eisenstein, Assistent des berühmten Theaterregisseurs Wsewolod Meyerhold, wollte dort das Stück »Gasmasken« zur Aufführung bringen. Darin entscheidet sich ein Arbeiterkollektiv, unter Einsatz ihres Lebens ihre Fabrik zu retten. Kunst und Arbeitsleben sollten miteinander verschmelzen – das war zumindest die Idee.
Doch die Wirklichkeit des Gaswerks wirkte auf Eisenstein ungeheuer beeindruckend. Mickrig dagegen war seine Theaterbühne. Sie schien der Idee des Stücks im Weg zu stehen. Eisenstein stoppte die Inszenierung. Er besorgte sich die notwendige Ausrüstung und begann in derselben Fabrik und mit denselben Schauspielern mit den Dreharbeiten zu »Streik«, seinem ersten Film. Doch es war sein zweiter Film, der nur wenige Monate später im Jahr 1925 veröffentlicht wurde, der die Geschichte verändern sollte: »Panzerkreuzer Potemkin«.
Potemkin: Eine ästhetische Revolution
Potemkin ist ein besonderer Film. Ein Film, der eine ästhetische Revolution auslöste, welche die Bildsprache nachhaltig veränderte. Ein Film, der in Teilen der USA als »Blaupause für Meuterei« verboten war, dessen Kopien in Frankreich verbrannt wurden, der in Großbritannien bis 1954 illegal war und den indonesische Matrosen 1933 zum Anlass für einen Aufstand nahmen. Ein Film, dessen Aufführung in Berlin durch eine Demonstration erzwungen wurde, und von dem Bertolt Brecht berichtete, dass neben ihm »selbst die Ausbeuter ergriffen wurden von jener Bewegung der Zustimmung angesichts der Tat revolutionärer Matrosen«. Wie konnte ein Film eine solche Wirkung entfalten?
Der Film sollte anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der ersten Russischen Revolution des Jahres 1905 erscheinen und die revolutionäre Bewegung an verschiedenen Orten abbilden. Doch Eisenstein entschloss sich während der Dreharbeiten, den Matrosenaufstand in Odessa ins Zentrum zu stellen. Er wollte an einem Ereignis das Typische der gesamten Revolutionsbewegung fassen. Er filmte 4500 Meter Filmmaterial, schnitt dieses auf etwa 1400 Meter zurecht und klebte noch am Tag der Uraufführung mit seiner Spucke die letzten Szenen aneinander.
An den Masten flattern die roten Fahnen der Revolution
Angelehnt an die wahren Begebenheiten des Revolutionsjahres 1905 rebellieren im Film die Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin, weil sie nur verdorbenes Essen bekommen. Sie übernehmen die Kontrolle über das Schiff, wobei ihr Wortführer erschossen wird. Daraufhin wird dieser an der Küste Odessas aufgebahrt. Tausende Menschen ziehen zu seinem Sarg, um ihre Solidarität zu bekunden und die Matrosen mit Lebensmitteln zu versorgen. Doch die Truppen des Zaren marschieren im Hafen ein und metzeln die Bevölkerung nieder. Die Mannschaft des Panzerkreuzers feuert auf den Sitz des Generalstabs und der Terror hört zunächst auf. Am nächsten Tag erscheint ein zaristisches Geschwader, um die Potemkin zu vernichten. Doch auch auf den anderen Schiffen meutern und verbrüdern sich die Matrosen. An den Masten flattern die roten Fahnen der Revolution.
Bildgewaltiges Aufeinandertreffen der Klassen
Eisenstein inszeniert im ganzen Film ein bildgewaltiges und symbolisches Aufeinandertreffen der Klassen. Die bekannte »Treppenszene von Odessa« im 4. Akt ist ein einprägsames Beispiel dafür, wie ästhetische und politische Inszenierung sich verschränken. Allen voran beeindruckt sie durch die Bildmontage. Unter Einfluss Meyerholds entwickelte Eisenstein am Theater das Konzept der Montage der Attraktionen. Durch die geballte Aneinanderreihung von sensationellen Darbietungen und Schockelementen sollten sich die Zuschauer von überkommenen Darstellungsgewohnheiten lösen. Er übertrug dieses Konzept auf den Film, indem er Schnitttechniken benutzte, die die Sinne und das assoziative Denken der Zuschauer stimulieren sollten. In der Treppenszene verdichtet Eisenstein die Bewegung der Bilder derart, dass es auf den Betrachter wirkt, als würde die Handlung immer stärker beschleunigt, obwohl der eigentliche Vorgang zeitlich gedehnt wird. In der knapp sieben Minuten langen Sequenz schwankt die Dauer der Einstellungen zwischen 0,2 und 5 Sekunden, wobei kurzen Einstellungen vorherrschen.
Trommelschläge imitieren die Gewehrsalven
Zunächst herrscht im Hafen von Odessa ein Fest der Verbrüderung und Verschwesterung. Weite Teile der Bevölkerung, dargestellt durch die Typen »Student«, »Behinderter«, »Mutter«, »Lehrerin«, »Kind« und »Begüterter«, unterstützen den Aufstand der Matrosen und stehen symbolisch für gesellschaftliche Gruppen, die die Rebellion befürworten. Sie teilen ihre materiellen Güter, lachen und feiern die Solidarität. Das Wort »Plötzlich« erscheint im Bild. Panik und Chaos brechen aus. Die Menschen fliehen und rennen die riesige Steintreppe am Hafen hinunter.
Dann sieht man Soldaten. Menschen brechen auf der Treppe zusammen, bleiben liegen und werden überrannt. Das Chaos ihrer Bewegung geht über in den Rhythmus der gleichmäßig marschierenden Truppen, dargestellt durch Großaufnahmen ihrer Stiefel und Gewehre. Immer wieder wechselnd zeigen totale und halbtotale Einstellungen die Masse und Nahaufnahmen die Reaktionen Einzelner in der Menschenmenge. Die Kamerastandpunkte wechseln hin und her und bei den Totalen fährt die Kamera häufig parallel zum aufgenommenen Objekt und fängt dieses im Bildmittelpunkt ein. Die Steigerung des Bildtempos wird unterstützt durch eine stetig ansteigende Melodie, welche durch Trommelschläge die Gewehrsalven imitiert.
Innerhalb dieser Spannungskurve kommt es zum ersten Höhepunkt. Ein Junge wird von Gewehrsalven getroffen und stürzt. Wieder folgen Bilder des Chaos, den maschinenhaft mordenden Körpern der Soldaten gegenübergestellt. Dann wird die Steigerung des Tempos unterbrochen. Anklagend und stark, mit dem Körper ihres toten Kindes im Arm, steigt die Mutter langsam aufwärts den Soldaten entgegen. Ungerührt schießen sie. Am Boden versuchen mehr Soldaten, den Flüchtenden den Weg abzuschneiden.
Eine weitere Mutter mit Kinderwagen kommt auf der Treppe ins Bild. Sie wird getroffen. Ihre Hand gleitet symbolisch von ihrer Gürtelschnalle und der Wagen mit ihrem Baby rollt schutzlos hinab. Mit dem hinabrollenden Kinderwagen intensiviert sich der Rhythmus weiter. Nahaufnahmen des weinenden Babys im Wagen, Bilder mordender Soldaten und blutender Gesichter lösen sich ab. Nach einer anscheinend endlosen Fahrt sieht man den Wagen umstürzen und in den Sturz hinein schneidet Eisenstein drei Großaufnahmen eines Kosaken, der im Blutrausch mit seinem Säbel dreimal zuschlägt.
Das »schlafende« Volk ist »aufgewacht«
In jeder Sekunde wächst beim Betrachten die Anteilnahme mit der Bevölkerung und die Wut über die blinde Gewalt der Staatsmacht. Eine Antwort wird ersehnt. Dann dreht sich langsam das Geschützrohr des Panzerkreuzers – in starkem Kontrast zu den schnellen Massakerszenen – und das Schiff schießt zurück. Der Sitz des Generalstabs im Theater von Odessa wird getroffen. Rauch steigt auf. Zum Schluss der Szene sieht man die dynamische Montagesequenz von drei steinernen Löwen, einem schlafenden, einem erwachenden und einem brüllenden. Das »schlafende« Volk ist »aufgewacht« und begehrt gegen die Gräueltaten auf.
Übertragung der marxistischen Geschichtsphilosophie
Der Film strebte nicht eine exakte historische Darstellung an, sondern ist als revolutionäres Lehrstück mit emotionaler Überzeugungskraft angelegt. Dafür revolutionierte Eisenstein die Bildmontage und schuf den Film als solchen neu. Anders als die fließenden, kaum wahrnehmbaren Schnitte des Erzählkinos sind die Bilderwechsel deutlich wahrnehmbar. Nicht unbewusst, sondern aktiv sollten Zuschauerinnen und Zuschauer an der Geschichte teilnehmen und diese bewerten. Eisenstein bezeichnete die Montage als »das stärkste Kompositionsmittel für die künstlerische Realisierung eines Sujets«. Sie war für ihn ein Werkzeug, um die gezeigte Wirklichkeit zu vertiefen, denn ihre Dynamik speist sich aus der Gleichzeitigkeit von Entwicklung und Bewertung durch das Publikum.
Eisenstein inszeniert parteiisch, indem er das Publikum seine marxistische Interpretation der Ereignisse wahrnehmen lässt. Kontraste der Gefühle, Bewegungen, Blickwinkel, Farben, Mengen sind die Grundelemente seiner Montage: »Werden zwei beliebige Stücke aneinander gefügt, so vereinigen sie sich unweigerlich zu einer neuen Vorstellung, die aus dieser Gegenüberstellung als neue Qualität hervorgeht.« Die beiden Bildstücke A und B müssen dabei so aus denselben Wesenszügen des zu entwickelnden Themas entspringen, dass ihre Gegenüberstellung – und nicht etwa ein bloßes Aneinanderfügen – in der Wahrnehmung und im Gefühl des Zuschauers ein verallgemeinertes Bild des Themas auslöst.
Jeder Teil des Films enthält einen dialektischen Bruch
Das Ringen der Widersprüche in Form und Inhalt des Films, die in jeder Szene und jedem der fünf Filmakte stufenweise in eine neue Qualität übergehen, stellt eine Übertragung der marxistischen Geschichtsphilosophie dar. Marx verstand die Wirklichkeit als die »Einheit des Verschiedenen«. Die Gesellschaft ist bei ihm die Einheit von Gegensätzen. Es sind ihre Widersprüchliche, die zu Bewegung und zu gesellschaftlichen Veränderungen führen – was auch mit dem Begriff der Dialektik beschrieben wird. Eine Abfolge von Veränderungen in der Quantität bringen eine neue Qualität hervor.
So auch in der Treppenszene. Über die Treppenstufen von Odessa stürmt die Handlung des Films schwindelerregend abwärts, bis sie in die langsame Aufwärtsbewegung der Mutter umschlägt. Sie wird erschossen und plötzlich macht die Darstellungsmethode einen Sprung, indem der rollende Kinderwagen das bildliche Hinabrollen der Menge ins Faktische übersetzt. Die Bewegung wird wieder gesteigert, bis schließlich die drei Bilder des aufspringenden Löwen poetisch das neuerliche Aufbäumen der Klasse einleiten und der Panzerkreuzer zurückschießt. Die große Gegenbewegung hat damit begonnen. Jeder Teil des Films enthält einen solchen dialektischen Bruch. Dazu sagt Eisenstein: »Ich möchte betonen, dass dieser nicht als ein Stilisierungsmittel eingeführt wird, sondern dem Moment einer dialektischen Zuspitzung von Widersprüchen entspricht, die für unsere Epoche und jede ihrer einzelnen Situationen charakteristisch ist.«
Kunst der Russischen Revolution
Die überwältigende Wirkung seiner Komposition verdankt der Film einer Darstellung, die sich in ihren Formen an den Entwicklungsbedingungen der menschlichen Geschichte orientierte und diese selbst zu ihrem Gegenstand machte. Dazu Eisenstein: »Man könnte sagen, dass sich uns hier das Organische des Potemkin […] offenbart, denn der Sprung, der den Aufbau eines jeden Kompositionsgliedes und die Gesamtkomposition des Films charakterisiert, bedeutet die Durchdringung des Aufbaus der Komposition mit dem wichtigsten inhaltlich-thematischen Element – dem revolutionären Ausbruch, der ja einer der Sprünge ist, in denen sich die unaufhörlich vorwärtsschreitende bewusste gesellschaftliche Entwicklung vollzieht.«
Im Blockbusterkino eines Steven Spielberg oder George Lucas finden wir die Folgen von Eisensteins Montageelementen
Die Kunst der Russischen Revolution erzählt uns vom Potenzial der kreativen geistigen Produktivkräfte, das sich eruptiv entfaltete, als die Massen die Bühne der Geschichte betraten. In den wenigen Jahren des gesellschaftlichen Aufbruchs machten Malerei, Musik, Theater und Film ästhetische Sprünge, welche die Kunst der Welt nachhaltig prägten. Die Kunst der Revolution erzählt von der Befreiung unserer Klasse. Deshalb erzählt sie gleichzeitig von ihrer eigenen Befreiung. Die historischen Erfahrungen sind in den Kunstwerken gespeichert, deren Wirkung bis in unsere Gegenwart reicht und die immer wieder zur Aneignung einladen.
Deshalb hat fast 100 Jahre später »Panzerkreuzer Potemkin« nur wenig von seiner Wirkungskraft verloren, auch wenn der soziale Kontext heute ein anderer ist. Im Blockbusterkino eines Steven Spielberg oder George Lucas finden wir die Folgen von Eisensteins Montageelementen. Sie agitieren weiterhin die Sinne des Zuschauers – freilich völlig enthoben ihrer Entstehungsgeschichte und ihres dialektischen Potenzials. Dennoch geht einiges, was wir im modernen Film heute bestaunen, auf die Russische Revolution und jenen Film zurück, der Filmgeschichte schrieb, indem er menschliche Geschichte inszenierte.
Der Film:
»Panzerkreuzer Potemkin«
Jahr: 1925
Produktionsland: UdSSR
Regie & Schnitt: Sergej M. Eisenstein
Drehbuch: Nina Agadshabow-Schutko
Kamera: Eduard Tissé
Musik: Nikolai Krjukow, Edmund Meisel (Helmut Irmig)
Darsteller: Theaterschauspieler, Matrosen, Einwohner Odessas
Hier der gesamte Film auf Englisch.
Schlagwörter: film, Russische Revolution