Der brasilianische Marxist Valério Arcary über den politischen Charakter des angehenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro
Der gestern aus der Stichwahl als Sieger hervorgegangene brasilianische Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro wird oft mit Donald Trump verglichen – und das aus gutem Grund: Er ist ein rassistischer, frauenfeindlicher, homophober und antidemokratischer Provokateur, dessen Sieg die gefährlichsten Elemente der brasilianischen Gesellschaft stärken wird. Aber Bolsonaro ist nicht bloß ein widerwärtiger Politiker. Er hat eine Massengefolgschaft unter den Mittelschichten und auch unter Teilen der Armen Brasiliens – und das im Kontext einer dramatischen Wirtschaftskrise, großen sozialen Verwerfungen und einem schwindelerregenden Anstieg der Straßengewalt.
Doch die Situation ist nicht hoffnungslos. Anfang der 1980er Jahre gelang es den brasilianischen Arbeiterinnen und Arbeitern eine fast zwei Jahrzehnte lang währende Militärdiktatur durch Massenstreiks zu stürzen. Dieser Umsturz führte damals zur Bildung der Arbeiterpartei (PT). In den folgenden Jahrzehnten erlebte Brasilien einige der weltweit größten und radikalsten Massenbewegungen der Arbeiterklasse, der Jugend und Studierenden, der städtischen Armen und landlosen Bauern sowie gewaltige Proteste der feministischen und der LGBTQI-Bewegung, genau wie der indigenen und schwarzen Bürgerrechtsbewegungen.
Das Bruttoinlandsprodukt Brasiliens umfasst beinahe die Hälfte der Wirtschaftskraft von ganz Südamerikas. Was in Brasilien passiert, ist also von Bedeutung – ganz offensichtlich für die 210 Millionen Menschen, die dort leben, aber auch für das Schicksal der Arbeiterklasse und der Unterdrückten des ganzen Kontinents.
Hier veröffentlichen wir eine Analyse des politischen Charakters von Jair Bolsonaro und der von ihm ausgehenden Bedrohung, die von Valério Arcary, einem führenden Mitglied von Resistência, einer revolutionär-sozialistischen Strömung in der »Partei für Sozialismus und Freiheit« (PSOL), verfasst wurde. PSOL stellte in der ersten Wahlrunde eigene Kandidaten auf – Guilherme Boulos und Sônia Guajarara – und erhielt 617.000 Stimmen. In der Zweiten Runde unterstützte die Partei Fernando Haddad von der PT.
Der Artikel wurde von Todd Chretien aus dem Portugiesischen ins Englische übersetzt. Von ihm wurde auch diese Einleitung verfasst. Einde O’Callaghan hat den Artikel ins Deutsche übersetzt.
Nicht alle radikalen Rechten sind Faschisten
Seit Wochen tobt in Brasilien und darüber hinaus eine Debatte über die Frage, ob Jair Bolsonaro ein Neofaschist ist oder nicht. Dies ist keine akademische Frage, aber sie verlangt eine klare Antwort. Wer nicht weiß, gegen wen er oder sie kämpft, kann nicht gewinnen. Aber was sollten unsere Kriterien sein, um einen politischen Anführer als neofaschistisch zu klassifizieren?
Offensichtlich bedeutet die beiläufige Bezeichnung einer beliebigen politischen Strömung oder eines politischen Akteurs der radikalen Rechten als faschistisch, ein Urteil zu fällen, das im Allgemeinen nachlässig, historisch falsch und politisch fehlerhaft ist. Der Faschismus ist eine so gravierende Gefahr, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, wie wir ihn definieren und wen wir damit charakterisieren. Alle Rechtsradikalen sind gefährliche Reaktionäre, aber nicht alle Rechtsradikalen sind Faschisten. Es ist daher notwendig, unsere Feinde mit großer Vorsicht zu analysieren.
Um es vorwegzunehmen: Bolsonaro ist ein Neofaschist. Er ist ein Faschist, der aus unserem spezifischen Zeitalter entspringt – das heißt, nach der Restaurierung des marktwirtschaftlichen Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion und in China. Diejenigen, die glauben, das sei eine Übertreibung, täuschen sich. Auch wenn Bolsonaro noch keine landesweite faschistische politische Partei aufgebaut hat und obwohl die Mehrheit seiner Wählerinnen und Wähler selbst keine Faschistinnen und Faschisten sind, was zählt, ist die Tatsache, dass sich um Bolsonaro momentan der Kern einer faschistischen Führung mit Massenanhang herausbildet.
Die verschiedenen Gesichter des Faschismus
Selbstverständlich ist der heutige Neofaschismus keine exakte Kopie des historischen Faschismus. Für Marxistinnen und Marxisten war der Faschismus im Wesentlichen eine politische Form der Konterrevolution, die aus der Bedrohung einer europaweiten von der Russischen Revolution 1917 inspirierten Arbeiterrevolution entsprang. Alle faschistischen Parteien verteidigten die Notwendigkeit eines totalitären Regimes. Die Abschaffung der demokratischen Freiheiten, die mit gewählten Regierungen verbunden sind, war ein Instrument zur Zerstörung der Organisationen der Arbeiterklasse.
Trotzdem war der italienische Faschismus nicht mit dem deutschen Faschismus (mit seinem chronischen Antisemitismus) identisch, noch mit dem Franquismus in Spanien (der sich auf dem formalen Erhalt der Monarchie stützte) oder mit dem Salazarismus in Portugal (mit seinem fanatischen Katholizismus). Alle hatten ihre Eigentümlichkeiten. Aber trotz dieser Nuancen verdienen sie alle die Bezeichnung faschistisch.
Es ist klar, dass die Bedingungen heute nicht der Situation in den 1930er Jahren nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, dem Sieg der Russischen Revolution und der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre gleichen. Seit der Weltwirtschaftskrise von 2008 wiederholen wir nicht einfach die »1930er Jahre in Zeitlupe«. Es besteht zum Beispiel für das Kapital keine unmittelbare Gefahr einer neuen Oktoberrevolution. Nichtsdestotrotz haben wir im Laufe des letzten Jahrzehnts weltweit eine Stärkung der radikalen Rechten erlebt.
Neofaschismus in Brasilien
Der Neofaschismus in einem halbperipheren Land wie Brasilien kann nicht den gleichen Charakter annehmen, wie der Faschismus im Europa der 1920er und 1930er Jahre. Er entstand vielmehr aus der Erfahrung bestimmter Teile der Mittelschichten während der 14 Jahre der klassenkollaborierenden Regierungen der Arbeiterpartei, zuerst unter Lula da Silva und dann bis zu ihrer Amtsenthebung im Jahre 2016 unter Dilma Rousseff. Er wird angetrieben von der wirtschaftlichen Stagnation und dem sozialen Rückschritt, die die letzten vier Jahre in Brasilien charakterisieren.
Trotzdem bedeutet das nicht, dass die führenden Fraktionen der Bourgeoisie sich in Brasilien dem Faschismus zugewendet haben, um die Gefahr einer Revolution abzuwehren oder die Arbeiterklasse zu zerschlagen. Bis vor einigen Wochen unterstützte die überwiegende Mehrheit der Bourgeoisie noch Geraldo José Rodrigues de Alckmin Filho, den Präsidentschaftskandidaten der zentristischen und durch und durch kapitalistischen »Sozialdemokratischen Partei Brasiliens« (PSDB). Bolsonaros erfolgreiche Kandidatur ist vielmehr Ausdruck der Bewegung der reaktionärsten Teile der Mittelschichten, die von nur einer Minderheitenfraktion der Bourgeoisie unterstützt und von der Wirtschaftskrise angetrieben wird.
Um zu begründen, warum Bolsonaro als Neofaschist charakterisiert werden sollte, werden im Folgenden zehn Kriterien dargestellt, die hierfür als ausschlaggebend erachtet werden:
1. Soziale Herkunft
Die soziale Herkunft Bolsonaros ist kleinbürgerlich. Mit einer Karriere im Militär gelang ihm ein rascher sozialer Aufstieg – ein typischer Karriereweg für viele Generationen von Brasilianern europäischer Herkunft, auch weil er eine weit weniger anspruchsvolle akademische Leistung erfordert als eine Karriere als Mediziner, Jurist oder Ingenieur. Das Militär bietet Stabilität und von Beginn an ein vergleichsweise hohes Gehalt.
Bolsonaros Klassenherkunft liefert in Teilen auch eine Erklärung für einige seiner Obsessionen: den Rassismus, die sozialen Ressentiments, den erbitterten Antikommunismus, den Vorstadtnationalismus, die Faszination für die US-amerikanische Mittelschicht und den anti-intellektuellen Groll.
2. Politische Laufbahn
Bolsonaros Laufbahn war zunächst die eines widerspenstigen, aufsässigen Offiziers und dann die eines politischen Außenseiters mit marginalem Einfluss als Kongressabgeordneter. Bolsonaro war nie ein brillanter Kopf, sondern ein unverschämter Politiker – eigentlich ein Schwachkopf.
Die bedeutende politische Rolle, die Bolsonaro heute spielt, lässt sich nicht verstehen, ohne die Auswirkungen der großen Antikorruptionsuntersuchungen »Lava Jato«. Seit 2014 haben sich Teile der Bourgeoisie den Kampf gegen die Korruption auf die Fahne geschrieben. Das ist nichts Neues: Schon früher haben Fraktionen der brasilianischen Bourgeoisie in ihren internen Kämpfen das Thema für sich entdeckt. So etwa im Jahr 1954, um den damaligen Präsidenten Getúlio Vargas zu stürzen, im Jahr 1960, um Jânio Quadros zu wählen, um 1964 den Militärputsch zu legitimieren, 1989 Fernando Collor de Melo zu wählen und um 2016 die Amtsenthebung von Dilma Rousseff zu legitimieren.
Bolsonaro tauchte erst während der Mobilisierungen in den Jahren 2015 und 2016 für die Amtsenthebung Rousseffs aus der politischen Versenkung auf. Damals fand die Forderung nach einer militärischen Intervention Zehntausende Anhängerinnen und Anhängern unter den Millionen Menschen, die auf die Straße gingen.
3. Politisches Programm
Bolsonaro reagierte auf die Forderung nach einer starken Führung, angesichts der Korruption der Regierung, der Verschärfung der Krise der öffentlichen Sicherheit, der Unzufriedenheit mit der gestiegenen Steuerlast für die Mittelschichten, des Ruins zahlreicher Kleinunternehmer und der Verarmung durch Inflation und steigende Kosten für privaten Bildung, Sicherheit und das Gesundheitswesen. Im Angesicht der Wirtschaftskrise der letzten vier Jahre stand er für »Ordnung«, gegen Streiks und Demonstrationen, für klare Autorität, gegen die politische Lähmung und für einen übersteigerten Nationalstolz.
Bolsonaro gelang es, an die Unzufriedenheit am rechten Rand der aufgebrachten Mittelschichten anzuknüpfen, die sich nach »Ordnung« sehnten, die in ihren Köpfen durch die zwei Jahrzehnte Militärdiktatur verkörpert wird. Zudem gelang es Bolsonaro das Rampenlicht auf sich zu ziehen, indem er sich zur Stimme der Gegenreaktion gegen die sozialen Bewegungen der letzten Jahre machte – gegen den Feminismus, die Bewegungen der Schwarzen und der LGBT-Menschen sowie gegen Umweltaktivisten.
4. Politisches Projekt
Bolsonaros politisches Projekt zielt darauf ab, ein bonapartistisches Regime aufzubauen – ein Begriff, der sich auf das Regime des Kaisers Louis-Napoléon Bonapartes in Frankreich zwischen 1852 und 1870 bezieht — das heißt, ein autoritäres Regime, in dem die Präsidentschaft sich über alle anderen Institutionen wie Parlament oder Richterschaft erhebt und alle Macht im Namen der Verteidigung der Einheit der Nation konzentriert. Dies drückt sich auch in Bolsonaros Wahlkampfslogan »Brasilien über alles« aus.
Tatsächlich gibt es mehrere Formen des Bonapartismus. Bolsonaros Projekt wird unterstützt durch die Mobilisierung einer Massenbewegung aus verzweifelten Schichten der Gesellschaft und deutet auf den Aufbau eines autoritären Regimes hin, das je nach Entwicklung der sozialen und politischen Kämpfe einen zumindest halbfaschistischen Charakter annehmen könnte.
5. Beziehung zu den staatlichen Institutionen und zum politischen Regime
Bolsonaros Beziehungen zu den staatlichen Institutionen bestehen insbesondere in einem engen Verhältnis zu den Streitkräften und der Polizei. Dies wird sich auch in seiner Regierung widerspiegeln, in die er zahlreiche Militärs berufen will.
Er ist kein rechter Populist wie Trump, noch ist er einfach ein autoritärer Führer, der sich nach seinem Sieg über die PT leicht durch Druck aus den führenden Kreisen der herrschenden Klasse neutralisieren lässt. Stattdessen wird Bolsonaro nach einem Wahlsieg – der auch eine Mehrheit im Kongress einschließt, die es ihm ermöglichen wird, reaktionäre Verfassungsänderungen durchzusetzen – mit voller Unterstützung der Streitkräfte sein Mandat ausüben. Damit wird er eine Macht innehaben, wie kein anderer Präsident seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985.
6. Beziehung zur herrschenden Klasse und Verhältnis zur Arbeiterklasse
Bolsonaro konnte seit seinem Wahlantritt die Beziehungen mit der Großbourgeoisie ausbauen, indem er den Investmentbanker Paulo Guedes zum »Superminister« für Wirtschaft ernannte. Damit signalisierte er seine Absicht, eine ultraneoliberale Politik durchzuführen, mit Schwerpunkt auf beschleunigten Privatisierungen, radikalen Steuersenkungen und einem Frontalangriff auf die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern.
Seine Strategie besteht darin, Brasilien im Weltmarkt neben den USA und gegen China zu positionieren. Sein Ziel ist es, Investitionen aus den USA anzuziehen, um Brasilien aus der Stagnation zu retten. Diese Strategie entspricht auch den Plänen des mächtigsten Teils der Bourgeoisie, aber sie lässt sich nicht ohne scharfe soziale Konfrontationen in die Praxis umsetzen. Der Grund dafür ist, dass die Arbeiterklasse Brasiliens bislang noch keine historische Niederlage erlitten hat. Eine solche Niederlage würde bedeuten, dass eine ganze Generation ihr Selbstbewusstsein verliert und es viele Jahre braucht, bevor eine neue Generation den Kampf wiederaufnimmt.
Der Prozess zwischen in Jahren 2015 und 2016, der mit dem parlamentarischen Putsch gegen die Regierung von Dilma Rousseff endete, war eine heftige Niederlage für die Arbeiterklasse und die brasilianische Linke, aber es war keine historische Niederlage. Was wir erlebt haben, war eine Umkehrung der sozialen Kräfteverhältnisse, eine politisch-soziale Niederlage.
Diese Charakterisierung soll jedoch keineswegs die Gefahr hinter dem Aufstieg Bolsonaros herunterspielen. Wenn wir die gegenwärtige reaktionäre Dynamik nicht stoppen, ist die brasilianische Arbeiterklasse einer sehr ernsten Bedrohung ausgesetzt.
7. Charakter der politischen Partei bzw. Bewegung, die er aufbaut
Bolsonaro ist es nicht gelungen, eine gefestigte faschistische Partei aufzubauen. Vielmehr hat er die rechtskonservative »Sozial-Liberale Partei« (PSL) übernommen und zu seinem Instrument für seinen Wahlantritt gemacht.
Diese Schwäche konnte er jedoch weitgehend durch die Mobilisierung einer Massenbewegung auf den Straßen ausgleichen. Zudem sollte uns das Fehlen einer faschistischen Partei nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten. Auch nach seinem Wahlsieg kann Bolsonaro noch versuchen, eine solche Partei aufzubauen und sich dabei sogar noch auf die Kontrolle über den Staatsapparat stützen. Und tatsächlich hat er bereits eine Kampagne zur Mitgliedergewinnung für die PSL angekündigt, die das Ziel hat, zehn Millionen Mitglieder für die Partei zu gewinnen.
8. Soziale Basis seiner Unterstützer- und Wählerschaft
Was die soziale Basis seiner Unterstützer- und Wählerschaft betrifft, so sind selbstverständlich die überwiegende Mehrheit seiner Wählerinnen und Wähler keine Faschisten. Was jedoch an erster Stelle eine Bewegung definiert, ist die Richtung, in die sie sich bewegt. Und Bolsonaros größtenteils kleinbürgerliche Anhängerschaft bewegt sich in rasantem Tempo nach rechts. Zugleich ist die Bewegung hinter ihm sehr breit aufgestellt, umfasst Menschen aus allen sozialen Schichten und kann mittlerweile als größte politische Strömung Brasiliens bezeichnet werden.
9. Internationalen Kontakte
Auch Bolsonaros internationale Kontakte dürfen nicht unterschätzt werden. Es gibt eine internationale Rechte, auch wenn sie sich noch im Keimstadium befindet, die sich weltweit vernetzt und mit Geldmitteln von einigen mächtigen Wirtschaftsgruppen systematisch aufgebaut wird – so etwa von Fraktionen des US-Kapitals, die darauf abzielen, sich dem Aufstieg Chinas als neuer imperialistischer Macht zu widersetzen.
10. Finanzierung seiner politischen Arbeit
Die Finanzierung der Wahlkampagne Bolsonaros bleibt weitgehend im Dunkeln. Aber seine Reichweite und Präsenz sowie seine Sichtbarkeit in den sozialen Netzwerken deuten darauf hin, dass Teile des brasilianischen Kapitals ihn finanziell unterstützen – einige davon sind mittlerweile bekannt.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Esquerda Online und wurde von Todd Chretien für SocialistWorker.org ins Englische übersetzt. Die Übersetzung ins Deutsche für marx21.de stammt von Einde O’Callaghan.
Foto: Jeso Carneiro
Schlagwörter: Bolsonaro, Brasilien, Faschismus