Die gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Russland und der Nato erklären gar nichts. Die gegenwärtige politische Krise um die Krim ist die Folge eines Systems, in dem reiche Eliten ihre Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen versuchen, meint Stefan Ziefle
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete das Verhalten des russischen Präsidenten Putin als irrational. Dies ist Teil einer Sichtweise, in der „der Westen“ nur Demokratie und Menschenrechte im Blick hat, die es gegen Bedrohungen zu verteidigen sucht… notfalls mit Waffengewalt, wie in Mali, Libyen, Afghanistan, um nur die prominentesten Fälle der kürzeren Vergangenheit zu nennen.
„Die Anderen“, die Bedrohenden der Demokratie und Menschenrechte, sind in dieser Sichtweise immer irrational, irre Fanatiker, Terroristen, Islamisten oder „Sowiets“ – ein Wort, das im Zusammenhang mit Russland und Putin plötzlich wieder in Mode kommt. Russland wolle die Krim „sowjetisieren“, wie die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton kürzlich sagte.
Für Propaganda spielen Fakten keine Rolle. Spätestens seit 1992 gibt es keine Sowjets mehr in Russland, „Kommunismus“ hat aufgehört, dort als Staatsideologie zu dienen. Trotzdem klingt das in den Ohren vieler im Westen noch genauso gefährlich wie eh und je, und rechtfertigt somit einen Kurs, der Truppenverlegungen nach Osteuropa beinhaltet.
Verharmlosung des Nationalsozialismus
Spiegelverkehrt dazu spricht die russische Staatspropaganda von einem faschistischen Umsturz in der Ukraine. In dieser Lesart erscheint der Einsatz russischer Truppen auf der Krim in der Tradition des Kampfes der „Roten Armee“ gegen Nazideutschland. Hier schürt Putin Ängste, die auf den schrecklichen Erfahrungen deutscher Besatzung basieren. Aber erfunden hat er die Argumentation nicht, schließlich waren es Leute wie George Bush senior, Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die Kriege gegen Irak oder Serbien durch Vergleiche mit Hitler und dem NS-Regime rechtfertigten.
Auch das Völkerrecht muss für die Propaganda herhalten. Dabei dreht es jede Seite, wie sie es gerade braucht. Westliche Politiker, die noch kürzlich vehement für die Abtrennung Südsudans vom Sudan eintraten, beharren nun auf der „territorialen Integrität“ der Ukraine. Putin hingegen, der maßgeblich an zwei Kriegen beteiligt war, denen im Interesse der „territorialen Integrität“ Russlands Hunderttausende in Tschetschenien zum Opfer fielen, beharrt nun auf dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“.
Schröders Verdienst in der aktuellen Debatte ist, auf diesen Heuchelei hinzuweisen. Man dürfe Putin nicht Völkerrechtsbruch vorwerfen, denn er, Schröder, selbst habe im Falle des Kosovo-Krieges gegen das Völkerrecht verstoßen. Putins Verhalten jedenfalls sei nicht irrational, betont er. Der „lupenreine Demokrat“ versuche, auf „unerfreuliche Entwicklungen“ an den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion zu reagieren, er habe „Einkreisungsängste“.
Globales Schachbrett
Schröder spielt dabei auf die Politik der NATO der letzten zwanzig Jahre an, sich möglichst weit bis an die russische Grenze auszudehnen. Hintergrund ist eine Strategie, die der US-Außenpolitiker und ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski entwickelt hat.
Brzezinskis Kernerkenntnis ist, dass die globale Vorherrschaft der USA nur erhalten werden könne, wenn es gelänge, die Vorherrschaft in Eurasien, von Brzezinski als „das Große Schachbrett“ bezeichnet, zu erringen. Als Hauptkonkurrenten machte er damals Westeuropa und Russland aus. Der Kalte Krieg diente der US-Außenpolitik in zweierlei Weise: Erstens gelang es, Russland, beziehungsweise die damalige Sowjetunion, in einen ökonomisch selbstmörderischen Rüstungswettlauf zu zwingen. Und zweitens war für die Europäischen Staaten in dieser Polarisierung eine Unterordnung unter US-Führung alternativlos.
Diese Strategie hatte immer neben dem europäischen Kampffeld (Pershing II, NATO-Doppelbeschluss) das Ringen um den Nahen und Mittleren Osten: Washington schmiedete strategische Abkommen gegen die Sowjetunion, wie den Bagdad-Pakt mit Irak, Türkei und Israel, rüstete potenzielle regionale Verbündete wie Pakistan auf und finanzierte den Guerillakrieg der Mudschahedin in Afghanistan.
Neue Weltordnung
Der Zusammenbruch des Wahrschauer Paktes und der Sowjetunion hat an dieser Strategie nichts geändert. Kurzzeitig glaubten die US-Strategen, sie könnten nun direkter an die Neuordnung der Welt in ihrem Interesse gehen als bisher. Der Irak-Krieg von 1991 und die damit einhergehende Rethorik von der „einzige verbliebenen Supermacht“, dem „Weltpolizisten“ USA, waren Ausdruck davon.
Aber der wirtschaftliche Aufstieg der Konkurrenten des US-Kapitalismus seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, beziehungsweise der relative Niedergang der US-Wirtschaft, machen es für die US-Politik schwerer denn je, die Kontrolle über die Welt zu erringen/erhalten. Die EU ist wirtschaftlich gesehen dabei der größte Herausforderer der USA, kann sich aber bisher nicht als ein einheitlicher politischer Akteur etablieren, weil die Kapitalinteressen der Mitgliedstaaten zueinander in Widerspruch stehen.
Gleichzeitig bleibt Russland, in den letzten zwanzig jahren dank enormer Rohstoffexporte wirtschaftlich leicht erholt, mit seinem gigantischen Atomarsenal eine ernsthafte Bedrohung für die US-Dominanz. Und mit China wächst eine neue Herausforderung sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht heran.
Deswegen hat die Brzezinski-Strategie nichts an Aktualität verloren. Bush junior versuchte, durch die „Neuordnung“ des Nahen und Mittleren Ostens die Energiereserven, von denen hauptsächlich die Konkurrenten der US-Wirtschaft abhängig sind, allen voran Japan und Frankreich, zunehmend aber auch China, unter Kontrolle zu bekommen. Das Abenteuer ist bekanntermaßen gescheitert und Gegenspieler der US-Strategie sind gestärkt aus den Kriegen im Irak und Afghanistan herausgekommen.
NATO-Osterweiterung
Aber der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ hat zumindest den Vorwandt geliefert, einen Ring von Militärstützpunkten um China aufzubauen: Von Usbekistan über Afghanistan, Taiwan und die Philippinen bis nach Japan haben die US-Streitkräfte ihre Präsenz massiv verstärkt. Obama hat sich, nach dem Rückzug aus Irak, darauf festgelegt, diese Strategie verstärkt fortzusetzen und die Präsenz im Pazifik zu erhöhen.
Der andere Schauplatz der US-Strategie bleibt aber Osteuropa bis Zentralasien. Entgegen den Versprechen bei den Verhandlungen über die Vereinigung Deutschlands, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, sind nun mehrere Staaten des ehemaligen Wahrschauer Paktes in die NATO aufgenommen worden. NATO-Truppen stehen in Polen, auf dem Baltikum und Rumänien. Die NATO versuchte, sich über die GUUAM-Initiative durch Assoziierungsabkommen mit Georgien, Usbekistan, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien bis nach Zentralasien auszudehnen und damit Russland einzukreisen.
Gleichzeitig arbeiten die US-Streitkräfte daran, einen Atomkrieg mit Russland führbar zu machen. Dazu soll der Raketenschirm in Osteuropa dienen, ebenso wie die Modernisierung der strategischen Nuklearstreitkräfte, die unter dem Deckmantel der „Abrüstung“ vorangetrieben wird.
Merkels Dilemma
Die Politik der Bundesregierung ist getrieben von einem Dilemma: Einerseits würden sich signifikante Teile des deutschen Kapitals liebend gerne der US-Umklammerung entziehen. Es ist für deutsche Wirtschaft und Politik frustrierend, bei jeder Gelegenheit vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, wie gerade die Debatte um ein „No-Spy-Abkommen“ erneut gezeigt hat.
Andererseits weiß die deutsche Elite, dass sie auf die USA angewiesen sind, wenn es um die Aufrechterhaltung der Weltwirtschaftsordnung geht, auch im Interesse deutscher Unternehmen. Der „Zugang zu Märkten und Rohstoffen“ kann eben nicht von der Bundeswehr alleine, oder von der EU, gesichert werden. Ohne, oder gar gegen, die militärische Supermacht ist deutsche Außenpolitik machtlos.
Deswegen gibt es Aushandlungsprozesse zwischen Deutschland und den USA, bei denen für die deutsche Industrie genug abfällt, um sich letztlich „freiwillig“ der US-Dominanz zu unterwerfen. Die EU-Osterweiterung war ein solches Beispiel. Wirtschaftlich war das deutsche Kapital der größte Profiteur, aber politisch sind die USA die Gewinnen: Ohne die NATO, und in ihrem Kern die US-Streitkräfte, wäre die Expansion nicht möglich gewesen.
Deutsche Politik versucht seit den 1990er Jahren diesem Dilemma auf drei Ebenen entgegen zu wirken: Erstens die verstärkte „europäische Integration“, was in erster Linie der Versuch des Aufbaus gemeinsamer militärischer Kapazitäten sind, die politisch unter deutscher Kontrolle stehen würden. Zweitens der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee, um zumindest langfristig weniger auf US-Streitkräfte angewiesen zu sein. Und drittens wirtschaftliche und politische Kooperation mit Russland, um perspektivisch eine alternative Bündnisoptionen zur NATO entwickeln zu können. Niemand steht so offensichtlich für diese letzte Option wie Gerhard Schröder.
Krim-Krise
Die Verschärfung des Tons in der Krimkrise durch die Obama-Administration hat den, sicher nicht ungewünschten, Nebeneffekt, die deutsch-russische Annäherung zu erschweren. Bundesaußenminister Steinmeier hatte bis zuletzt versucht, einen Kompromiss in der Ukraine herzustellen, der für die EU und Russland tragbar wären. Wie immer bei imperialer Politik hat er dabei die Interessen der betroffenen Bevölkerung ignoriert. Große Teile der Ukraine, und sicherlich die überwältigende Mehrheit im westen des Landes, wollten einen Regierungswechsel auf jeden Fall durchsetzen – der Deal platzte.
Daraufhin eskalierte Putin den Konflikt über die Frage „des Schutzes russischer Minderheiten“ in der Ostukraine und vor allem der Krim. Tatsächlich hat Schröder recht, wenn er sagt, das sei eine rationale Reaktion auf Einkreisung durch die NATO. Zumindest aus der Perspektive des russischen Kapitals sind die Versuche, sich der Einkreisung zu entziehen verständlich. Die Aufrechterhaltung der Schwarzmeerflotte, der Bestand von „Pufferstaaten“ im Einflussbereich Russlands, die ökonomische Dominanz über die Peripherie sind rational im Interesse von russischen Kapitalisten und ihrer Profite – ebenso, wie die NATO-Osterweiterung rational im Interesse der US-Wirtschaft und deren Profite sind.
Diese „Rationalität“ hilft leider den betroffenen Menschen nichts. Die jeweiligen Strategien dienen nur den Interessen der jeweiligen Eliten. Leider glauben viele Menschen, es ginge um sie. Nationalismus ist eines der wesentlichen ideologischen Instrumente, mit denen Regierungen Widerstand gegen ihre Politik für Konzerne zu verhindern verstehen.
Im Interesse aller Menschen in der Krim, der Ukraine, Eurasien und der ganzen Welt wäre hingegen ein globales System, das nicht auf wirtschaftlicher Konkurrenz, und dementsprechend geopolitischer und militärischer Rivalität, basiert. Ein System, in dem die Menschen in ihrem eigenen Interesse entscheiden können, in dem es keine Eliten mit ihren Klasseninteressen mehr gibt.