Wohungspolitik und Gesundheit: Wie Wohnungsnot und steigende Mieten Menschen krank machen. Von Britta Grell, Franziska Paul, Kirsten Schubert und Tine Steininger
Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, bestimmen zu mindestens zwei Dritteln unsere Gesundheit und damit unsere Lebenserwartung. In vielen Ländern der Welt ist dieser Zusammenhang sehr direkt, z. B. dort, wo es etwa an Zugang zu sauberem Trinkwasser mangelt. In den hochentwickelten Industrieländern wird der Zusammenhang hauptsächlich wie folgt diskutiert: Menschen, die unter Stress und psychischen Problemen leiden, haben eine verkürzte Lebenserwartung.
Gesundheit und Wohnen
Doch welchen Anteil hat die gesundheitliche Ungleichheit daran? Seit einigen Jahren ist die Debatte darüber auch in Deutschland angekommen. So schreibt der Spiegel: »Wohnort entscheidet über Geburtsverfahren«, der Tagesspiegel: »Arme sterben in Deutschland früher als Reiche« und das Hamburger Abendblatt: »Zu geringe Budgets: Ärzte verlassen sozial schwache Stadtteile«.
Menschen mit hohem Einkommen leben länger
Untersuchungen zeigen, welche massiven gesundheitlichen Auswirkungen die Klassenzugehörigkeit hat. Demnach können Menschen mit hohem Einkommen mit einer bis zu neun Jahre längeren Lebensdauer rechnen als solche, die zu den Geringverdienerinnen und Geringverdienern gehören. In den USA – dem Land mit dem eindeutig teuersten Gesundheitssystem – beträgt diese Kluft bei Männern sogar ganze 20 Jahre, wie Sabine Sütterlin in ihrer Studie »Hohes Alter, aber nicht für alle« aufzeigt.
Gesundheit und Klassenzugehörigkeit
Mit niedrigem Einkommen steigt zudem das Risiko um das Zwei- bis Dreifache, chronisch zu erkranken, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden oder depressiv zu werden. In der Studie »Gesundheitliche Ungleichheit in verschiedenen Lebensphasen« von Thomas Lampert und anderen wird dargestellt, dass die gesundheitliche Ungleichheit zudem alle Altersgruppen trifft. Bei Kindern, die in Haushalten mit wenig materiellen Ressourcen aufwachsen, werden häufiger gesundheitliche Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten festgestellt. Ältere Menschen sind, wenn sie arm sind, doppelt so häufig in ihrer Alltagsgestaltung eingeschränkt wie solche mit hohen Rentenansprüchen und Vermögen, wie zum Beispiel Immobilienbesitz. Die Letzteren können im Schnitt länger selbständig und gut leben.
Welche Auswirkungen haben steigende Mieten auf die Gesundhei?
Dank des Engagements einer kritischen Gesundheitsbewegung wird heute kaum noch bestritten, dass soziale Lebensbedingungen die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen und die Lebenserwartung beeinflussen. Was bisher jedoch wenig bekannt ist: Welche Auswirkungen haben steigende Mieten eigentlich auf die Gesundheit und langfristig auch auf die Lebenserwartung? Oder anders gefragt: Über welche Mechanismen schlägt soziale in gesundheitliche Ungleichheit um und was kann dagegen im Sinne einer »Strategie kollektiver Risikominderung« unternommen werden? Wir meinen: Steigende Mieten und Verdrängungsprozesse im Zuge der Aufwertung und Gentrifizierung von Stadtteilen haben eine Reihe von negativen Auswirkungen, auch was die Gesundheit und die Gesundheitsversorgung der lokalen Bevölkerung angeht.
Gesundheit, steigenden Mietkosten und Einkommen
Bevor Menschen endgültig verdrängt werden und wegziehen müssen, vergehen meist Jahre. Viele versuchen sich möglichst lange an die schlechter werdenden Bedingungen anzupassen. Dies hat auch gesundheitliche Folgen: Die steigenden Mietkosten haben direkte Auswirkungen auf das verfügbare Einkommen. Es bleibt weniger Geld für gesundes Essen, Freizeitaktivitäten mit den Kindern, Sport, Kultur oder Reisen. In der Folge steigt die Bereitschaft, mehr zu arbeiten, um die »Verdrängung aus dem Lebensstandard« zu verhindern oder überhaupt die Miete zu bezahlen. Den daraus resultierenden Zeitmangel spüren Kinder, Partnerinnen und Partner, zu pflegende Angehörige und natürlich die Mieterinnen und Mieter selbst als Stress durch Mangel an Erholung und gemeinsamer Zeit, aber natürlich auch durch »gesundheitsschädliches Verhalten« wie, erhöhtem Konsum an Fertigprodukten, Genussmitteln und Mangel an Bewegung und Ausgleich.
Haushalte unter der Armutsgrenze müssen 39 Prozent ihres Einkommens für die Miete aufbringen
Wohnverhältnisse in Deutschland
Auch hier entscheidet die soziale Lage über das Ausmaß der Belastung. In der Studie »Wohnverhältnisse in Deutschland – eine Analyse der sozialen Lage in 77 Großstädten« von Henrik Lebuhn und Andrej Holm werden folgende Zahlen genannt: Während Haushalte in deutschen Großstädten durchschnittlich 27 Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens für die Miete ausgeben, geben Haushalte mit über 65-Jährigen oder mit Alleinerziehenden durchschnittlich über 30 Prozent aus. Haushalte unter der Armutsgrenze müssen sogar 39 Prozent ihres Einkommens für die Miete aufbringen.
Als unmittelbare Folgen für die Gesundheit zeigen sich neben Stress und Erschöpfung psychosomatische Erkrankungen wie Schmerzsyndrome (Rückenschmerzen, Kopfschmerzen), Reizdarm, Magenschmerzen und Schlafstörungen sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall). Das in Städten generell erhöhte Risiko für psychische Erkrankungen wird durch eine hohe Mietbelastung noch verstärkt.
Gesundheit und Überbelegungen von Wohnungen
Zudem nehmen Überbelegungen von Wohnungen zu. Das bedeutet, dass in einer Wohnung mehr Personen wohnen, als es Zimmer gibt. In Großstädten wie Berlin betrifft dies in einigen Bezirken 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung – wie zum Beispiel im neuen Szenestadtteil Nord-Neukölln. Hier wohnen Kinder oft mit ihren Eltern und Geschwistern in einem Zimmer. Es gibt keine Rückzugsräume zum Spielen, für Hausaufgaben, um Freunde zu treffen oder für Sexualität. Die Folgen sind Schlaf- und Konzentrationsstörungen, schlechte Leistungen in der Schule und bei der Arbeit, Depressionen und Angststörungen, mehr Infektionskrankheiten und eine erhöhte Unfallgefahr.
Feuchtigkeit, Schimmel oder Asbestbelastung führen zu Atemwegserkrankungen, Allergien und Asthma
Die Studie »Health impacts of rising rents and displacement« von Muntu Davis aus den USA weist die gesundheitlichen Auswirkungen von Überbelegung nach: Je mehr Menschen auf engem Raum wohnen, desto häufiger werden Rettungsstellen wegen Asthma aufgesucht. Ein weiterer Faktor: Oft werden niedrigere Wohnstandards in Kauf genommen. Feuchtigkeit, Schimmel oder Asbestbelastung führen zu Atemwegserkrankungen, Allergien und Asthma. Durch schlechte Isolierungen und hohe Heizkosten sind viele Wohnungen zu kalt und die Mieterinnen und Mieter leiden eher unter Herz- und Atemwegserkrankungen, rheumatischen und psychischen Erkrankungen. Verzögerungen von Reparaturen und Instandsetzung oder ausgedehnte Baumaßnahmen werden als Druckmittel genutzt, um die Mieterinnen und Mieter aus ihren Wohnungen zu vertreiben und erhöhen das Stresslevel zusätzlich.
Menschenrecht auf Wohnen
Menschen, die vor dieser Mehrfachbelastung flüchten oder sich die Miete schlicht nicht mehr leisten können, werden aus dem vertrauten Stadtteil verdrängt und verlieren ihr soziales Netzwerk aus Kita oder Schule, von Freundinnen und Freunden sowie Nachbarinnen und Nachbarn. Das Thema »Wohnen« spielt im subjektiven Empfinden von immer mehr Menschen eine große Rolle. Eine aktuelle Caritas-Studie mit dem Titel »Menschenrecht auf Wohnen« macht deutlich, wie bedrohlich und belastend die zunehmende Wohnungsnot (knapper werdender Wohnraum und steigende Mieten) für große Teile der Bevölkerung inzwischen ist.
Die Zahl der Zwangsräumungen betragen alleine in Berlin 20 pro Tag
Für fast 80 Prozent der Befragten stellen die zum Teil immens gestiegenen Wohnkosten ein erhebliches Armutsrisiko dar, drei Viertel der Befragten sehen die Entwicklung von Kindern beeinträchtigt und fürchten, dass die Kosten zu einer räumlichen Trennung von armen und reichen Menschen führen und sich die Gefahr von Obdachlosigkeit erhöht. Das vor sechs Jahren in Berlin gegründete »Bündnis gegen Zwangsräumungen« verweist auf die Dynamik der Entwicklung. Galt Wohnungslosigkeit lange Zeit als ein Problem von sozialen Randgruppen, ist es heute längst in »der Mitte« der Gesellschaft angekommen. Das Bündnis schätzt die Zahl der Zwangsräumungen allein für Berlin auf über 20 pro Tag. Immer mehr Menschen machen die Erfahrung, dass sie nahezu chancenlos auf dem Wohnungsmarkt sind.
Gesundheit und steigende Gewerbemieten
Auf der anderen Seite derselben Medaille stehen die steigenden Gewerbemieten. Viele soziale Träger, Beratungsstellen, gemeinnützige Vereine und Anbieter von betreutem Wohnen stehen ebenfalls vor dem Problem, dass sie die steigenden Mieten nicht mehr bezahlen können oder ihre Räume gekündigt werden, um sie an besser zahlende profitorientierte Unternehmen zu vermieten. Neue Projekte können in bestimmten Stadtteilen gar nicht erst entstehen, wie wir als Gesundheitskollektiv selbst feststellen müssen. Dies trifft wiederum diejenigen, die besonders auf Unterstützung oder kostenlose Angebote angewiesen sind – weil sie sozial benachteiligt sind, eine schlechtere Gesundheit haben und/oder stark von den steigenden Mieten betroffen sind.
Das Thema hat noch lange nicht die notwendige politische Brisanz. Es lohnt sich daher, die Frage von Gerechtigkeit bei der Debatte um »hohe Mieten« auch mit dem Thema Gesundheit zu unterfüttern. Hier kann die Kritik an dem Profitstreben der Immobilienwirtschaft erlebbar gemacht werden.
Das Leid sichtbar machen
Das Leid wird sichtbar, spürbar und kann anhand von Zahlen nachgewiesen werden. Besonders problematisch ist das Zusammenwirken von verschiedenen Faktoren der sozialen Ungleichheit: Menschen mit niedrigen Einkommen, Alleinerziehende, Ältere, Migrantinnen und Migranten oder Hartz-IV-Betroffene sind auf dem Wohnungsmarkt ohnehin schon benachteiligt und den Mietsteigerungen stärker ausgesetzt. Gleichzeitig haben sie häufig auch einen schlechteren Gesundheitszustand. Die schlechten Wohnbedingungen werden diese erhöhte Krankheitslast bei Geringverdienern und anderen sozial benachteiligten Gruppen noch weiter potenzieren.
Schlagwörter: Gentrifizierung, Gesundheit, Wohnungspolitik