Jenny Erpenbeck hat den Geflüchteten und den vielen, die ihnen helfen, mit ihrem 2015 erschienenen Roman »Gehen, ging, gegangen« ein Denkmal gesetzt. Von Jan Maas
Im Herbst 2015 lieferte Jenny Erpenbeck den Roman zu dem, was die Massenmedien bis heute meistens als »Flüchtlingskrise« bezeichnen. Bis Ende des Jahres waren gut eine Million Menschen nach Deutschland geflohen. Inzwischen hat der Erfolg der AfD die gesellschaftliche Stimmung nach rechts verschoben. Union und SPD wollen Einwanderung begrenzen. Die Willkommenskultur droht in Vergessenheit zu geraten. Dabei haben Schätzungen zufolge acht Millionen Menschen Geflüchteten geholfen.
Die Berliner Autorin Jenny Erpenbeck hat sowohl den Geflüchteten als auch ihren vielen Helferinnen und Helfern in ihrem Roman »Gehen, ging, gegangen« ein literarisches Denkmal gesetzt. Es geht darin um eine Gruppe von Geflüchteten, die im Herbst 2012 einen Platz und eine Schule in Berlin-Kreuzberg besetzen.
Geflüchtete demonstrieren
Die Rahmenhandlung ist wahr, die Figuren des Romans hingegen erdacht – aber gut recherchiert. Die Hauptperson heißt Richard. Er ist Berliner, Witwer, kinderlos und emeritierter Professor. Sein Abschied von Arbeitsleben, Büro und Kollegen ist ein Teil der Rahmenhandlung und spiegelt gleichzeitig die Schwierigkeiten der Geflüchteten wider, die gewohnte Umgebung aufzugeben und sich in einer unbekannten Situation neu zurechtzufinden.
Richard erlebt zufällig eine Demonstration der Geflüchteten mit, nimmt danach an einer Versammlung in der besetzten Schule teil und lernt nach und nach einzelne Personen kennen. Er besucht sie später in der neuen Sammelunterkunft, hilft ihnen im Deutschunterricht, lädt einzelne zu sich nach Hause ein, gibt einem Klavierstunden, begleitet sie bei Behördengängen und gewinnt so langsam ihr Vertrauen. Manche öffnen sich ihm gegenüber und erzählen ihm ihre Geschichte, andere bleiben verschlossen.
Glaubwürdige Figuren
Die Hauptfigur Richard ist ein nachdenklicher, aber eigentlich kein besonders politischer Mensch. Zunächst treibt ihn eine Mischung aus Neugier und Langeweile. Auf diese Weise macht die Autorin erlebbar und nachvollziehbar, wie Verständnis wächst und Solidarität sich entwickelt. Richard ist nicht frei von Vorurteilen und Fragen, die Menschen so haben, die der üblichen rassistischen Ideologie ausgesetzt sind. Doch er ist offen genug, sich auf die Menschen einzulassen, die ihm begegnen.
Auch die Figuren der Geflüchteten sind Jenny Erpenbeck sehr glaubwürdig geraten, sie treten nicht als gesichtslose Masse, sondern als Individuen mit unterschiedlichen Geschichten und Zielen auf. Was sie vereint, ist der Protest dagegen, wie sie in Deutschland insbesondere durch die Residenzpflicht drangsaliert werden, die ihre Bewegungsfreiheit einschränkt. Richard steht diesem Staat und seinen Institutionen zunächst neutral gegenüber. Doch seine Zweifel wachsen angesichts der Erlebnisse seiner Schützlinge.
Flucht nach Europa
Die leise, fast distanzierte Sprache Erpenbecks passt zur Geschichte wie zu den Figuren. Sie ist völlig frei von Agitation und Empörung und schafft es gerade dadurch, Mitgefühl und Wut zu wecken. Ein Buch, das sich zu lesen lohnt, und das sich vielleicht auch als Geschenk für Leute eignet, die sich fragen, was das für Menschen sind, die sich auf die beschwerliche Flucht nach Europa machen, und warum ihnen andere beim Ankommen helfen.
Bibliographische Angaben:
Jenny Erpenbeck
Gehen, ging, gegangen
Knaus Verlag
München 2015
352 Seiten
16 Euro (gebunden), 10 Euro (Taschenbuch)
Schlagwörter: Bücher, Deutschland, Flucht, Flüchtlingskrise, Geflüchtete, Kultur, Migration, Roman