Seit dem Militärputsch 2013 regiert der Armeechef Abdelfattah al-Sisi in Ägypten. Erstmals erhebt sich nun eine landesweite Protestwelle unter einem einheitlichen Aufruf, wenngleich dieser von einem der unwahrscheinlichsten Protagonisten kommt. Doch die Menschen feiern und rufen Anti-Sisi-Parolen auf den Straßen. Ein neues Selbstbewusstsein ist erwacht. Ein Bericht aus Kairo von Abu al-Henna
Ägypten war in der Nacht von Freitag auf Samstag letzte Woche von einer seit der Revolution 2011 beispiellosen Protestwelle gegen den diktatorischen Machthaber Abdel Fattah al-Sisi und das Militär ergriffen. Auslöser waren eine Reihe von Videos, die der ägyptische Tycoon, Bauunternehmer, Schauspieler und seit jüngstem auch Filmproduzent Mohammed Ali von seinem Exil in Katalonien aus über die sozialen Medien verbreitete und in denen er die massive Korruption der Regierung anklagte: die Veruntreuung und Verschwendung öffentlicher Gelder für den Bau von privaten Palästen, Hotels, Villen und öffentlichen Großbauprojekten der Regierung und Armeeführung, allen voran der »Neuen Hauptstadt« und der Erweiterung des Suezkanals. Mohammed Ali war als Bauunternehmer selbst in diese Machenschaften verstrickt, doch nachdem er wegen unbezahlter Rechnungen an ihn in Höhe mehrerer hundert Millionen ägyptischer Pfund mit der Regierung in Streit geriet, wurde er in seinem Exil in Katalonien zu einer Art Whistleblower. Unter dem Hashtag كفاية_بقي_ياسيسي (dt. »Es reicht, Sisi!«) rief er erstmals für den 20. September zu Protesten auf, der Hashtag verbreitete sich wie ein Lauffeuer. (Lies hier den Artikel über die Proteste 2016 in Ägypten: »Al-Sisi, hau ab!«)
Ägypten: Ein Skandal als Auslöser
Obwohl Ägypten bereits zwei historische, aus der Zeit der Khedivendynastie stammende Paläste als offizielle Wohnsitze für den Präsidenten in Kairo hatte, der Abdin Palast im Zentrum und der Qobbah Palast in Heliopolis, entschied Sisi, dass diese seinem Status nicht genügen. Mohammed Ali enthüllte, dass Sisi 2014, ein Jahr nach seinem Militärputsch, sechs Paläste in dem Areal des früheren britischen Camp Huckstep errichten ließ, die durch Untergrundtunnel miteinander verbunden sind. Fünf Paläste, darunter einer, der als geheime Residenz des Präsidenten dient, wurden im Stadtteil Fifth Settlement errichtet. (Lies hier den Artikel über Merkel, Al-Sisi und seine Terrorherrschaft in Ägypten)
Al-Sisis Größenwahn
Doch der größte Palast, den Sisi aktuell errichten lässt, befindet sich in dem Areal, dass er für den zukünftigen Verwaltungssitz al-aa:sima (»Die Hauptstadt«) vorgesehen hat, die dem NS-Größenwahn von der »Welthauptstadt Germania« in nichts nachsteht. Hier sollen inmitten der zu begrünenden Wüste, neben dem größten Palast mit einer Gebäudefläche von 50.000 Quadratmetern, zehn Mal so groß wie das Weiße Haus in Washington, und einer Gesamtfläche von knapp 2,5 Millionen Quadratmetern, auch der höchste Turm Afrikas und die höchsten Minarette von Moscheen und die größte Kirche des Ostens usw. entstehen. Ein einzelnes Stockwerk des bereits größtenteils fertiggestellten neuen gigantischen Palastes soll den Staat umgerechnet rund 138 Millionen US-Dollar kosten, genug um davon 125 Schulen oder 16 Krankenhäuser zu errichten. Präsident Sisi ist jedoch der Auffassung, dass Investitionen in Bildung in einem »verlorenen Land« unnütz seien. Auch Investitionen in Ägyptens marodes Bahnnetz hält Sisi für unnütz, er würde nach eigener Aussage die benötigten 10 Milliarden ägyptische Pfund (ca. 570 Millionen US-Dollar) lieber anlegen und davon Zinsen kassieren, und das trotz der zahlreichen Bahnunglücke, die in den vergangenen Jahren hunderte Menschen das Leben kosteten, darunter das schreckliche Unglück vom 27. Februar dieses Jahres, bei dem ein ungebremster Zug auf einen Prellbock des Kairoer Hauptbahnhofs Ramses stieß, der Benzintank explodierte und mindestens 25 Menschen in einer Feuerwalze qualvoll verbrannten, weitere 50 wurden verletzt.
Reich und Arm in Ägypten
Der Machthaber Sisi lässt keine Gelegenheit aus, den einfachen Ägypterinnen und Ägyptern zu signalisieren, dass ihr Leben ihm nichts bedeutet und sie die Kosten für seine Großbauprojekte zu tragen haben. Zugleich wurden staatliche Subventionen auf Wasser, Nahrungsmittel, Strom und Benzin gekürzt oder gänzlich abgeschafft, die Mehrwertsteuer angehoben. Die ersatzlose Streichung staatlicher Subventionen auf Brot, dem Grundnahrungsmittel eines Großteils der Bevölkerung, und auf die Metro und anderer öffentlicher Verkehrsmittel wurden von Sisi wiederholt angedroht und das obwohl bereits 32,5 Prozent der 100 Millionen Ägypterinnen und Ägypter laut der Zahlen des eigenen ägyptischen staatlichen Statistikamtes im Jahr 2018 unterhalb der absoluten Armutsgrenze von weniger als 1,45 US-Dollar am Tag leben, mehr als eine Verdopplung der Armutsquote gegenüber dem Jahr 2000.
Vom Skandal zum Protest
Sisi und seine Regierung hatten als Hauptverantwortliche für diese Veruntreuung staatlicher Gelder und die massive Korruption im Vorfeld der Proteste zunächst nicht zu den Vorwürfen des Bauunternehmers Stellung nehmen wollen. Die staatlich kontrollierten Medien berichteten zunächst nicht darüber, parallel dazu versuchte man über die sozialen Medien Mohammed Ali als »Frauenheld, Heroinabhängigen und Anhänger der Muslimbruderschaft« zu verunglimpfen. Nachdem die staatlich kontrollierten Zeitungen zunächst noch allgemein von »Verrätern und Klienten« sprachen, war nun die offizielle Strategie der Regierung auf die vermeintlichen »Gefahren in den sozialen Medien« hinzuweisen und Mohammed Alis Enthüllungen als »Fake News« zu brandmarken. Schließlich sah der Staatspräsident und Armeechef Abdel Fattah al-Sisi sich doch dazu gezwungen bei einem Auftritt auf einer Jugendkonferenz am Samstag, den 14. September zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen: »Ich schwöre bei Gott, das sind Lügen und Verleumdungen«, war seine Antwort, wie Kersten Knipp für die Deutsche Welle am 19. September 2019 berichtete.
Die Proteste vom vergangenen Freitag
Am frühen Freitagabend war die angespannte Stimmung in Kairo bereits zu spüren. An jeder Ecke in Downtown waren die blaugrauen Gefangenentransporter bereitgehalten, einige mutmaßlich festgenommene Protestierende wurden bereits darin abtransportiert. Die Regierung veranlasste die Nationale Polizei alle Cafés zu schließen, damit es dort keine Versammlungen im Vorfeld von Protesten geben könnte. Café-Besitzer, die dem nicht Folge leisten, riskieren, dass die Polizei ihren Laden dicht macht. Das Ausmaß dieser Reaktion zeigt unmittelbar, wie sehr die Regierung den Aufruf ernst nahm und einen Kontrollverlust befürchtete, denn gewiss hat diese Entscheidung für noch mehr Frustrationen gesorgt, angesichts des an diesem Abend stattfindenden Lokalderbys der Kairoer Fußball-Erzrivalen Ahly und Zamalek im ägyptischen Super Cup Finale.
Nieder mit der Militärherrschaft in Ägypten
Die Menschen in Kairo ließen sich allerdings nicht durch die quasi Ausgangssperre einschüchtern und sammelten sich binnen kürzester Zeit im Zentrum der Stadt auf dem Tahrir-Platz und auf dem gegenüberliegenden Abdel Munim Riad-Platz hinter dem Ägyptischen Nationalmuseum, die wichtigste Verkehrsader Kairos. Sie blockierten dort den Verkehr an den zahlreichen Brücken und Ausfallstraßen Richtung Zamalek und Giza. Die Polizei war bereits vor Beginn der Proteste mit einem großen Aufgebot präsent und rückte direkt nach Beginn an. Zahlreiche Demonstrierende am Tahrir und in den Nebenstraßen wurden verhaftet, doch die Menschen zogen immer wieder zu den beiden Plätzen. Auch rund um den berühmten Talat Harb-Platz sammelten sich Massen von Demonstrierenden, hier wurde wie auch auf dem Abdel Munim Riad-Platz von der Polizei Tränengas eingesetzt, um die Menschen auseinander zu treiben und die Kundgebung aufzulösen, was offenbar erst in den frühen Morgenstunden gelang. Auch in der ärmlichen, stark christlich bevölkerten Vorstadt Kairos Schobra al-Chaima gab es gewaltige Proteste, die Menschen feierten, es schien die jahrelange Angst vor der Repression des Staates auf einmal für einen Moment vergessen.
Überall in den Straßen waren an die Regierung und deren Sicherheitskräfte adressierte Rufe wie »Irhal, irhal, irhal« (»Haut ab!«) und »Irhal ya Sisi« (»Hau ab, Sisi!«) zu hören. Die Rufe der Revolution von 2011 wurden wiederbelebt, »yasqut, yasqut, hukm al-aaskar« (»Nieder, nieder mit der Militärherrschaft!«) und »asch-schaab yurid isqat an-nizam« (»Das Volk fordert den Sturz des Regimes!«).
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Wie der Protest ganz Ägypten erfasst
Doch nicht nur in Kairo kam es letzte Nacht zu massiven Protesten, vor allem in den mittelgroßen bis großen Städten des Nildeltas, in Alexandria, Mansura und Damiette, zogen die Menschen zu Tausenden auf die Straße. In beiden letzteren Städten wurden Propagandaplakate der Regierung mit dem Konterfei Sisis heruntergerissen, die Menschen sprangen und traten mit ihren Schuhen auf das darauf abgebildete Gesicht Sisis. Der Sender Al Jazeera zeigte in Multi-Live-Übertragung parallel die Bilder der Proteste in den verschiedenen Städten, zeitweise aus bis zu acht verschiedenen Orten. In den Industriestädten Mahalla al-Kubra und in Sues kam es zu gewaltigen Demonstrationszügen. Ein massives Aufgebot der Polizei und der berüchtigten Allgemeinen und Zentralen Sicherheitskräfte, eine paramilitärische Schlägertruppe, die der Nationalen Ägyptischen Polizei bei der Niederschlagung von Protesten attestiert, musste anrücken. Sie griffen wiederholt die Demonstrationszüge an und versuchten die Menschenmassen zurück zu schlagen. Zumindest in Damiette und Sues wurde dabei auch nachweislich mit scharfer Munition geschossen, auch auf ansonsten unbeteiligte Menschen, die aus ihren Wohnungen die brutale Niederschlagung der Proteste lediglich gefilmt hatten. Über 540 Menschen wurden bis zum Montag den 23. September von der Nationalen Sicherheit und Polizei verhaften.
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Wie wird es nun in Ägypten weitergehen?
Mohammed Ali meldete sich vergangen Montag den 23. September erneut aus seinem Exil zu Wort, sein Wohnort ist öffentlich bekannt, die kleine Küstenstadt Cabrera del Mar an der Costa Brava nordöstlich von Barcelona. Er berichtete, dass Offiziere aus Ägypten hinter ihm her seien, er verfolgt und mit dem Leben bedroht werde. Er rief zudem für den morgigen Freitag, den 27. September zu erneuten Protesten auf, zu einem »Protest der 1 Millionen«. Innerhalb der ägyptischen Armee gibt es Auflösungserscheinungen, eine Gruppe von Offizieren ließ ebenfalls am Montag verkünden, loyal hinter Sisis schärfsten regimeinternen Kontrahenten Sami Anan zu stehen, dem ehemaligen obersten Armeechef bis 2012. Sie kündigten an, Proteste der Bevölkerung wie 2011, als Teile der Armee sich weigerten gegen die Revolution vorzugehen, schützen zu wollen. Am Mittwoch den 25. September folgte daraufhin eine massive Verhaftungswelle innerhalb der Armee, die offenbar von Sisi angeordnet wurde.
Kommt eine Revolution?
Welchen Nachhall diese seit 2013 beispiellose landesweite Protestwelle in Ägypten haben wird, ob sie sich in neuerliche dauerhafte Massenkundgebungen weiter radikalisieren wird und ob sich der Aufstand vor allem in den Industriestädten Mahalla und Sues in die Produktionsstätten verlagert und von dort aus zu einer sozialen Revolution vertieft, bleibt zunächst noch abzuwarten. Die ägyptische Menschenrechtsanwältin und revolutionäre Sozialistin Mahienour El-Massry, die selbst am 22. September nach einem Besuch des Büros des ermittelnden Oberstaatsanwaltes in Kairo von Zivilbeamten der Nationalen Sicherheit in einem Minibus verschleppt und entführt wurde, schrieb noch zwei Tage zuvor auf ihrem Facebook-Profil »Über kurz oder lang, sein Ende ist nah. Das Problem ist, was kommt danach«.
Foto: Hossam el-Hamalawy حسام الحملاوي
Schlagwörter: Ägypten, Revolution