Die neu gegründete Republik Kosovo ist nicht viel mehr als eine neue »Kolonie« der Großmächte, meinen Klaus Henning und Max Steininger.
Seit fast neun Jahren steht Kosovo unter der Verwaltung der Vereinten Nationen (UN). Nach dem NATO-Krieg gegen Serbien 1999 bekam die Provinz den Status eines autonomen Territoriums innerhalb »Restjugoslawiens«. Die UN richtete die sogenannte Übergangsverwaltung UNMIK ein. Alle wichtigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen für Kosovo gingen seitdem von der UNMIK aus. Militärisch »begleitet« wurde die UN-Mission von den 16.000 Soldaten der KFOR-Truppe der NATO und 4000 UN-Polizisten. Sie sollten für »Frieden und Gerechtigkeit« sorgen. Doch das Gegenteil passierte. Nach 9 Jahren unter »UN-Kontrolle« liegt die Arbeitslosigkeit im Kosovo bei 57 Prozent, unter den jungen Menschen sogar bei über 70 Prozent. Der Durchschnittslohn beträgt 120 bis 200 Euro. Im öffentlichen Dienst, dem größten Arbeitgeber im Kosovo, wurde er in letzter Zeit sogar noch gesenkt. Ein Lehrer verdient beispielsweise 129 Euro im Monat, und Rentner müssen mit einer Mindestrente von monatlich 35 Euro auskommen. 64 Prozent der Kosovo-Albaner leben in extremer Armut.1
»Eine besondere Form des Kolonialismus«
Albin Kurti von der albanisch-nationalistischen Organisation Vetëvendosje (Selbstbestimmung) zieht Bilanz: »Die UNMIK, die uns Demokratie predigt, ist selbst eine undemokratische neokoloniale Institution. Sie vertritt keine demokratischen Prinzipien, sondern sie ist ein internationales Konstrukt, indem sich verschiedene mächtige Staaten mit ihrer jeweils besonderen Interessenlage tummeln. Sie (die Staaten) führen ihre Konflikte und ihre Experimente auf unsere Kosten durch. Die UNMIK hat die absolute Macht in Kosova, es gibt keine Institution, die nicht von ihr geschaffen und kontrolliert wird. Die Resultate sind klar, wir sind das ärmste Gebiet in Europa. Die UNMIK plündert unser Land aus und sie verweigert uns das Selbstbestimmungsrecht (…) Sie ist eine besondere Form von Kolonialismus«.2
Die jetzige »Unabhängigkeit« schließt an die bisherige Politik des Westens auf dem Balkan an. Aus dem »UNMIK-Protektorat« wird jetzt ein »EU-Protektorat«. Alle wesentlichen Entscheidungen müssen von der EU-Mission »EULEX« »genehmigt« werden. Das Mandat beinhaltet die Entsendung von fast 2000 Staatsanwälten, Richtern, Polizisten und anderen Beamten aus EU-Ländern mit exekutiven Funktionen.3 Die westlichen Befürworter der Unabhängigkeit sprechen von einer »bedingten Souveränität«. Dieser soll später eine »gelenkte Souveränität« folgen, um letztendlich mittels der Integration in die EU die so genannte »geteilte Unabhängigkeit« zu erhalten.4 Der ganze Vorgang wird von den USA und der EU bezeichnender Weise »kontrollierte Unabhängigkeit« genannt.5
Die Interessen des Westens
Die Behauptung, dass die EU den Menschen im Kosovo helfen und die serbische Minderheit schützen würde, hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Hinter der Politik der USA und der EU auf dem Balkan stehen geopolitische und ökonomische Interessen. Die Menschen bleiben dabei auf der Strecke.
Die USA wollen einen weiteren Stützpunkt für ihre Streitkräfte aufbauen, durch den sie »unsichere« Stützpunkte im Osten der Türkei (Incirlik) entlasten. Mit »Camp Bondstell« entsteht hier seit 8 Jahren schon die größte Militärbasis in Europa6, mit einem Flughafen, der auch im Irakkrieg eine wichtige Bedeutung hat. Und sie wollen einen weiteren zuverlässigen Brückenkopf im »Neuen Europa« haben, der als »Gatekeeper« die Option zukünftiger Bündnisse zwischen EU und Russland kontrollieren kann7.
Außerdem gibt es verschiedene Pläne des Westens, Pipelines über den Balkan zu verlegen, um dadurch das russische Monopol über den Transport kaukasischer und zentralasiatischer Rohstoffe zu brechen (Zum Beispiel Nabucco-Pipeline-Projekt, Ambo-Pipeline)8. Diese Pläne werden auch von der deutschen Bundesregierung unterstützt. Einen der wichtigsten Unterschiede in der Außenpolitik der Regierung Merkel gegenüber der alten Regierung Schröder stellt der Wechsel von einer »Russland-Präferenz« zur »Diversifizierung« der Lieferwege in der Energiepolitik dar.9 Im Mai 2007 wurden die USA und die Türkei zudem unter Druck gesetzt, nachdem die russische Transneft mit Bulgarien und Griechenland ein Abkommen zum Bau einer Pipeline um den Bosporus herum von der bulgarischen Schwarzmeerhafen Burgas zum Mittelmeerhafen Alexandroupolis in Griechenland geschlossen hatte.10
Schließlich hat Kosovo selbst auch Rohstoffe, für die sich westliche Konzerne interessieren. Dazu gehören unter anderem Steinkohle, Blei, Zink, Nickel und Eisen. Viele dieser Rohstoffe befinden sich im serbisch besiedelten Norden (Bergwerke von Trepça). Die Privatisierungspolitik der letzten Jahre lief darauf hinaus, die ehemaligen Staatsminen an ausländische Konzerne zu verkaufen. Diese verlangen aber »Investitionssicherheit«, und das heißt, Unabhängigkeit von Serbien, weil sie Angst haben, dass die serbische Regierung Ansprüche auf ihren »Besitz« anmelden könnte. Die EU und die deutsche Regierung treiben seit Jahren das Projekt einer »Mitteleuropäischen Freihandelszone« (CEFTA) voran, um ihre Dominanz abzusichern und transnationalen Konzernen die Möglichkeit zu geben, die Rohstoffe aus Kosovo in regionale Märkte zu exportieren.11 Deshalb sind die Europäische Union und die NATO auch nicht bereit, den Serben in den verbliebenen Enklaven das Selbstbestimmungsrecht zu geben.
Die EU bringt keinen Frieden
Die Besatzung des Kosovo 1999 durch die NATO und die UN hat den Nationalismus nicht geschwächt sondern gestärkt. Auf die Besatzung Kosovos folgten Sozialabbau, Privatisierungen, Lohnkürzungen und Entlassungen. Die von der UN unterstützte neoliberale Politik forcierte die Perspektivlosigkeit, die immer häufiger Gewaltausbrüche provoziert.12 Die soziale Katastrophe verschärft sich täglich, durch den Zuzug in Folge von Abschiebungen aus Deutschland und Europa. Gleichzeitig hat sich die ethnische Segregation der Bevölkerung unter der Besatzung dramatisch verschärft. Die serbische Minderheit lebt im Norden und in kleinen Enklaven. Die Bezirksstädte mit gemischter Bevölkerung (Zum Beispiel Mitrovica) wurden in serbische und albanische Teile geteilt. Das von der Besatzung installierte politische System baut auf ethnischen Trennlinien auf. Die Ethnisierung der Politik verwandelt politische Konflikte in ethnische und erschwert so einen gemeinsamen Kampf gegen die neoliberale Politik.
Die »Teile und Herrsche« -Politik der Vergangenheit wird von der EU fortgesetzt. Statt die ethnischen Spaltungen zu bekämpfen, treibt die EU diese mit der jetzigen Anerkennung Kosovos und ihrer Forderung nach dessen »Dezentralisierung« voran. Die führenden EU-Staaten halten nach wie vor am sogenannten »Ahtisaari-Plan« (siehe Stichwort) fest, obwohl dieser von den Serben wie den Kosovo-Albanern als gescheitert betrachtet wird.
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Der Plan soll nun ohne Zustimmung der Konfliktparteien durchgesetzt werden. Damit bestärkt die EU ihre Politik, die auf ein »neokoloniales Protektorat« hinausläuft. Sie trägt dazu bei, Millionen Menschen im Kosovo in Armut zu halten. Das öffnet dem Nationalismus Tür und Tor.
Forderungen der Linken
Innerhalb der Linken hat die Unabhängigkeitserklärung Kosovos kontroverse Diskussionen ausgelöst. Wie soll die Linke mit dem Wunsch der Menschen im Kosovo nach Unabhängigkeit umgehen? In der Debatte gibt es sowohl Stimmen gegen als auch für eine Lostrennung Kosovos von Serbien. Unserer Meinung nach sollte die Linke als erstes für den sofortigen Abzug der Bundeswehr und der NATO aus dem Kosovo und dem Balkan eintreten. Ihre Anwesenheit führt zu neokolonialen Abhängigkeitsverhältnissen und war in der Vergangenheit kein Schutz für nationale Minderheiten vor Tod oder Vertreibung.
Wir kritisieren die jetzige Unabhängkeitserklärung und die Annerkennung durch die deutsche Regierung. Sie dient vor allem den ökonomischen und geopolitischen Interessen der westlichen Staaten und heizt den Nationalismus an. Sie gibt den Serben im Kosovo nicht das Recht sich unabhängig zu erklären und bleibt damit Quelle neuer Unterdrückung.
Allerdings wäre es ein Fehler, den Kosovo-Albanern das Recht auf Selbstbestimmung (und damit das Recht auf eine einseitige Unabhängigkeitserklärung) zu verweigern. Denn die Linke würde damit den großserbischen Nationalismus unterstützen. Es war eine Schwäche des alten Jugoslawiens unter Tito und Milosevic, dass von allen großen Volksgruppen nur die Kosovo-Albaner nicht das verfassungsmäßige Recht auf Eigenstaatlichkeit besaßen. Die Kosovo-Albaner haben aus unserer Sicht auch das »Recht«, sich mit Albanien oder jedem anderen Land zu vereinigen, so sie es denn wünschen und in einem Referendum zum Ausdruck bringen. Aber das demokratische Prinzip auf Lostrennung umfasst (anders als die kosovo-albanischen Nationalisten behaupten) auch das Recht der Serben gegenüber der albanischen Mehrheit innerhalb des Kosovo. Diese Rechte werden von der EU und den USA abgelehnt.
Die Unterstützung für das Recht auf nationale Selbstbestimmung bedeutet jedoch nicht, dass Sozialisten deswegen die Perspektive der Gründung ethnisch definierten Kleinstaaten auf dem Balkan befürworten müssen. Im Gegenteil: Der Zerfall Jugoslawiens in mehrere Einzel- und Kleinststaaten stellt einen historischen Rückschritt dar. Diese Entwicklung hat verheerende Auswirkungen auf das Zusammenleben der verschiedenen Völker und Ethnien in der Region. Massenmorde, Massenvertreibungen, neue Unterdrückung von nationalen Minderheiten gehen einher mit sozialer Verelendung und kulturellem Niedergang. Im Kosovo trat an die Stelle der Unterdrückung durch die serbische Regierung die Unterdrückung durch die USA, die EU, und die mit ihnen verbündeten kosovarischen Eliten.
Der Perspektive ethnisch definierter Kleinstaaten auf dem Balkan setzten Sozialisten schon Anfang des 20. Jahrhunderts die Perspektive einer Einigung von unten durch gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus und die eigenen Herrscher entgegen. So schrieb der russische Marxist Leo Trotzki 1910: »Der einzige Ausweg aus dem nationalen und staatlichen Chaos und aus dem blutigen Durcheinander im Leben auf dem Balkan ist die Vereinigung aller Völker der Halbinsel zu einem wirtschaftlichen und staatlichem Ganzem auf Grundlage einer nationalen Autonomie der einzelnen Bestandteile.« Eine solche staatliche Vereinigung erklärte er weiter, könne nur »auf zweierlei Art geschehen: Entweder von oben, indem sich ein stärkerer Balkanstaat auf Kosten der schwächeren ausdehnt – dies wäre der Weg von Vernichtungskriegen und der Unterdrückung schwacher Nationen (…) oder von unten, indem sich die Völker selbst vereinigen – dies wäre der Weg von Revolutionen, ein Weg der den Sturz der Balkandynastien unter dem Banner einer föderativen Balkanrepublik bedeutet.«13
An der grundsätzlichen Politik der Großmächte hat sich seitdem wenig geändert. Der Balkan ist noch immer in ihrem Fadenkreuz. Die gerade auch von der deutschen Regierung vorangetriebenen neoliberalen Wirtschaftsprogramme, die Militärinterventionen und die einseitigen, an politischen und ökonomischen Interessen ausgerichteten Anerkennungen, sind keine Lösung. Sie haben die Armut in der Region und die Gewalt zwischen den Menschen forciert. Konkrete Forderungen sozialistischer Politik könnten sein:
- Sofortiger Abzug der Bundeswehr und aller Polizeieinheiten aus Kosovo
- Beendigung aller Instrumente und Programme, die das Ziel verfolgen, die Liberalisierung und ökonomische Ausbeutung des Kosovo voranzutreiben
- Sofortiger Schuldenerlass für Serbien und Kosovo
- Stopp und Rückzug der EU-Mission EULEX
- Sofortiger Stopp der Abschiebungen von Flüchtlingen aus Deutschland
- Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge
- Ablehnung der jetzigen Anerkennung durch die Bundesregierung
Zu den Autoren:
Klaus Henning ist aktiv in Die Linke.SDS Frankfurt/Main. Max Steininger ist aktiv in München und Mitglied im BundessprecherInnenrat von Linksjugend [’solid]
Anmerkungen:
2 Zit. n. Max Brym, Alban Kuti in Kline, online am 4. 4. 2008 unter http://www.hagalil.com/archiv/2005/08/kurti.htm
3 Vgl. Dušan Reljić, Bedrohliche Weiterung der Kosovo-Krise, in: SWP aktuell 2008/4, online am 4. 4. 2008 unter http://www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php?asset_id=4639
4 Vgl. Bericht der EU-Balkan-Kontaktguppe, The Balkans in Europe’s Future, April 2005
5 Siehe Protokoll des Treffens zwischen slowenischen EU-Vertretern und Vertretern des State Departments in den USA v. 24.12.2007, http://www.norman-paech.de/uploads/media/Protokoll_USA_Slowenien.pdf
6 Vgl. Chalmers Johnson 2004, Das Imperium der amerikanischen Militärbasen, in: Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie, S. 205 ff.
7 Vgl. Peter Gowan 2000; The Euro-atlantic origins of Nato´s attac on Yugoslavia; In: Ali, Tariq (Hrsg.) 2000; Masters of the universe? Nato´s Balkan Crusade
8 Franz-Lothar Altmann 2007, Südosteuropa und die Sicherung der Energieversorgung der EU, In: SWP-Studie 1/2007, online unter: http://www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php?asset_id=4639
9 Wagner, Jürgen 2007, Der Russisch-Europäische Erdgaskrieg – NABUCCO, die Gas-OPEC und die Konturen des Neuen Kalten Krieges, Studien zur Militarisierung EUropas 30/2007
10 Vgl. Steinbergrecherche online am 10. 3. 2008 unter: www.steinbergrecherche.com/energie.htm#russland
11 Vgl. Ministry of Trade and Industry of Kosova 2007, How can CEFTA be used as an instrument of economic growth for Kosovo?, www.mti-ks.org/?cid=2,16,308
12 Stefan Dehnert 2004, Unruhiger Kosovo: Konfliktstrukturen und Lösungsansätze, Analyse Friedrich-Ebert-Stiftung, intern. Politik
13 Vgl. Leo Trotzki: Die Sozialdemokratie und die Balkanfrage, in: Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-1913, Arbeiterpresse Verlag, S. 58