Vor 100 Jahren fand die blutigste Niederschlagung einer Demonstration in der deutschen Geschichte statt. Zugleich war es die Geburtsstunde vom Betriebsrätegesetz, das aus den Aufstandsorganen der Revolution ein sozialpartnerschaftliches Instrument machte. Von Arthur Radoschewski
Gegen Mittag stellen die Beschäftigten in fast allen Großbetrieben Berlins ihre Arbeit ein und versammeln sich vor den Werkstoren. Ob bei Siemens, Daimler, AEG, Schwartzkopff oder Knorr-Bremse: Nichts geht mehr. Auch bei den Eisenbahnen, Kraftwerken und Straßenbahnen der Stadt sowie in zahlreichen kleineren Betrieben folgen die Arbeiterinnen und Arbeiter dem Streikaufruf. In geschlossenen Protestzügen ziehen sie von den Betrieben aus in die Innenstadt. Als sich um 13 Uhr der heutige Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude zu füllen beginnt, wird das Ausmaß des Streiks sichtbar: Statt den erwarteten einigen Tausend, versammeln sich mehr als 100.000 Menschen auf dem Platz und in den Nebenstraßen.
»Zweite Revolution« lautet einer der zentralen Slogans. Und tatsächlich: Revolutionäre Stimmung liegt in der Berliner Luft. Rote Fahnen und Schilder mit Aufschriften wie »Hoch die Räteorganisation!« und »Her mit dem vollen Mitbestimmungsrecht!« ragen aus der Menschenmenge. Doch statt einer »zweiten Revolution« sollte sich an diesem 13. Januar im Jahr 1920 ein Blutbad ereignen.
Kampf gegen das Betriebsrätegesetz
Unter der Parole »Heraus zum Kampf gegen das Betriebsrätegesetz, für das Revolutionäre Rätesystem!« hatten die linken Oppositionsparteien USPD und KPD ebenso wie die Berliner Gewerkschaftskommission und die revolutionäre Betriebsrätezentrale zu der Kundgebung mobilisiert. Denn zeitgleich zu den Protesten vor dem Reichstag wurde von den Abgeordneten darin über ein neues Betriebsrätegesetz beraten, das den in der Novemberrevolution entstandenen Betriebsräten einen rechtlichen Rahmen und damit zugleich auch deutliche Grenzen setzen sollte.
De facto schrieb das Gesetz die Beschränkung der Räte auf soziale Fragen fest und räumte ihnen auch hier nur geringe Kompetenzen ein, ähnlich denen heutiger Betriebsräte. Damit sollte auch rechtlich die Möglichkeit der Rätemacht ausgeschlossen werden. Dem Entwurf der Mitbestimmung in sozialen Belangen stellten die Demonstrierenden die Forderung nach der »vollen Kontrolle über die Betriebsführung« entgegen.
Rechte Freikorps als Polizei
Dank der Errungenschaften der Revolution von 1918/19 konnte die Demonstration auch ohne Anmeldung legal stattfinden. Die von der SPD geführte Regierung hatte den extremen Andrang nicht erwartet. Zur Sicherung des Reichstags war die sogenannte Sicherheitspolizei abgestellt. Dabei handelte es sich um eine kasernierte, paramilitärische Truppe zur Aufstandsbekämpfung, ausgerüstet mit schweren Waffen wie Handgranaten und Maschinengewehren.
Die Sicherheitspolizei rekrutierte sich vornehmlich aus den rechtsradikalen Freikorps, die bereits im Vorjahr bei der Niederschlagung der Novemberrevolution eingesetzt worden waren. Viele ihrer Mitglieder machten später in SA und Gestapo Karriere, so etwa der spätere stellvertretende Stabschef der SA Walter Stennes. Nicht umsonst bezog sich die NS-Diktatur mit ihrer eigenen »Sicherheitspolizei« auf die Weimarer Organisation.
Blutbad vor dem Reichstag
Anfangs verläuft der Protest friedlich. Weder die Veranstalter noch die große Masse der Demonstrierenden haben ein Interesse an einer gewaltsamen Eskalation. Als es vor dem Westportal des Reichstags im Gedränge zu Handgreiflichkeiten mit der Sicherheitspolizei kommt, fallen aus der Menge zwei Schüsse in Richtung Reichstag. Mindestens einer der Revolverschützen wird jedoch sofort von Mitgliedern der Metallergewerkschaft entwaffnet und von der Demonstration entfernt. Doch wenig später spitzt sich die Situation vor dem Südportal am Tiergarten zu, als dort schwer bewaffnete Sicherheitspolizisten aufmarschieren.
Gegen 16 Uhr beginnt die Tragödie: Aus kurzer Entfernung eröffnet die Sicherheitspolizei das Feuer auf die Demonstrierenden. Mehrere Minuten schießt sie mit Maschinengewehren und Karabinern in die panische Menge. Handgranaten fliegen. Das Resultat: 42 Tote und über 100 teils schwer Verletzte. Damit sind die Ereignisse des 13. Januar 1920 die blutigste Demonstration in der Geschichte Deutschlands.
Umdeutung und Repression
Trotz der vielen Toten und Verletzten weigerte sich der SPD-Reichstagspräsident zunächst, die Sitzung zu unterbrechen. Später behauptete die Polizei, die Demonstrierenden hätten versucht, sich gewaltsam Zugang zum Reichstag zu verschaffen. Tatsächlich war eine Stürmung des Gebäudes aber weder geplant noch versucht worden.
Weder SPD noch die bürgerlichen Parteien Zentrum und DDP zeigten Willen, die reaktionären Truppen zu entwaffnen und für das Blutbad zu bestrafen. Die einzigen Schuldzuweisungen gegen Noske und die Generäle der Schutzpolizei bestanden darin, sie zu kritisieren, zu wenig Truppen eingesetzt zu haben. USPD und KPD wurden hingegen hart bestraft. 46 Zeitungen wurden Verboten, darunter auch die »Freiheit« der USPD und die »Rote Fahne« der KPD. Die KPD-Vorsitzenden Ernst Däumig und Paul Levi wurden verhaftet, genauso wie die an der Demonstration unbeteiligten Anarchisten Fritz Kater und Rudolf Rocker.
Ausnahmezustand und Betriebsrätegesetz
Am 14. Januar wurde in Brandenburg der Ausnahmezustand ausgerufen und alle Proteste und Demonstrationen Verboten. Trotzdem kamen etwa 10.000 Trauernde zur Gedenkfeier für die Opfer, die am 15. Januar auf dem Hermannplatz in Neukölln stattfand. Eine direkte Folge der Ereignisse war auch die Einführung der Bannmeile um den Reichstag. Die Annahme des Betriebsrätegesetzes wurde auf den 18. Januar vertagt. Am 4. Februar 1920 trat es schließlich in Kraft.
Die Sicherheitspolizei, deren »Verdienste für die Demokratie« der Reichskanzler nach der Niederschlagung des Protests noch ausdrücklich gelobt hatte, sollte nur zwei Monate später, während des Kapp-Putsches, zu den offen antidemokratischen, konterrevolutionären Kräften überlaufen.
Sozialpartnerschaft statt Rätemacht
Dennoch wurde in der öffentlichen Debatte und Geschichtsschreibung die Deutung des 13. Januar 1920 als legitime Verhinderung eines Sturms auf den Reichstag weitgehend übernommen. Dass die blutigste Demonstration in der deutschen Geschichte auch innerhalb der Linken allmählich in Vergessenheit geriet, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass SPD und Gewerkschaften sich zwar für die »Errungenschaften« des Betriebsrätegesetzes feiern, zum blutigen Preis dieses »Meilensteins« jedoch weitgehend schweigen.
Tatsächlich war das Betriebsrätegesetz von 1920 ein Mittel, um aus den Aufstandsorganen der Revolution ein sozialpazifistisches Instrument zu machen. So wurden die Betriebsräte verpflichtet, »für möglichste Wirtschaftlichkeit der Betriebsleistung zu sorgen und […] den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren«. Für die Rätebewegung war dies eine weitere Schwächung. Zugleich begründete das Gesetz die Tradition kooperativer Arbeitsbeziehungen, an die nach 1945 wieder angeknüpft wurde. Im Jahr 1952 kam es mit dem Betriebsverfassungsgesetz zu einer Neuauflage des Gesetzes, das die Betriebsräte verpflichtete, zum »Wohle des Betriebes« zu arbeiten.
Im »Roten Gewerkschaftsbuch«, das 1932 in Berlin veröffentlicht wurde, heißt es treffend: »Die Betriebsrätebewegung ist ein Kind der Revolution von 1918, jedoch ein von der Konterrevolution immer mehr zum Krüppel geschlagenes Kind.«
Foto: rls-history
Schlagwörter: KPD, Novemberrevolution, SPD