Mit »Wir sind die Welle« bringt Netflix den Stoff aus dem Jugendklassiker als Serie. Doch statt vor dem Faschismus, warnt die Serie vor linken Guerillas. Das geht gründlich schief. Von Jan Friedrichs
Mit »Wir sind die Welle« erscheint die mittlerweile sechste deutsche Serienproduktion auf Netflix. Wer nun vor dem Hintergrund einer global erstarkenden radikalen Rechten eine Neuauflage von Morton Rhues Schullektüre-Klassiker erwartet hat, wird enttäuscht. Während das fast gleichnamige Buch »Die Welle« aus dem Jahr 1981 das Entstehen des Faschismus begreiflich machen will, verdreht die sechsstündige Netflix-Version die Handlung des Originals in ihr Gegenteil: Es geht um die angebliche Gefahr von linken Bewegungen. Doch der Reihe nach.
Flache Charaktere, absurdes Drehbuch
Hauptschauplatz ist eine Kleinstadt in der deutschen Provinz. Das Stadtbild ist geprägt von rechter Vorherrschaft: Plakate für die neofaschistische Partei NfD hängen überall, und die Rechten versuchen, sich mit rassistischen und völkischen Parolen in der Stadt zu verankern. Die Parallelen zur AfD sind unübersehbar. Auch auf dem örtlichen Gymnasium, der Sophie-Scholl-Schule, haben die Rechten die Oberhand: Außenseiterinnen und Außenseiter werden ebenso gemobbt wie Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Die Hauptcharaktere der Serie bildet eine Gruppe von Jugendlichen um den »charmanten Rebell« Tristan: Die aus gutbürgerlichem Haus stammende Lea, aus gutbürgerlichem Haus stammend, Rahim, der aus dem Libanon stammt, Hagen, der auf einem Ökohof lebt, und die Außenseiterin Zazie.
Leider wird schon nach den ersten beiden Folgen deutlich, wie absurd das Drehbuch an vielen Stellen ist und wie die Charaktere völlig verflachen: Tristan, der neu auf das Gymnasium kommt, war mal in »der Antifa«, kann natürlich fließend arabisch, ist belesen, kann Schlösser knacken, Autos kurzschließen, Klavier spielen und ist auch sonst der absolute »Checker«. Der »Traumprinz« in St. Pauli-Shirt und Bomberjacke macht vor allem Eindruck auf Lea, die sofort mit ihrem (ebenfalls reichen) Tennistrainer Schluss macht und ihre Markenklamotten wegwirft. Gemeinsam mit den drei anderen, nicht weniger klischeehaften Charakteren gründen sie die »Welle« und beginnen den Kampf gegen das Böse in ihrem Wohnort. Im Fokus der Jugendlichen: Der Kampf gegen die Nazipartei NfD, Mietenwahnsinn und Immobilienhaie, Plastik und Markenklamotten, Glyphosat und Massentierhaltung, Sexismus und Rassismus, SUVs und Waffenproduktion. Kurz: Gegen das ganze verdammte System!
Gewalt, Terror und Individualismus
Doch die Serie erhebt schon recht schnell den moralischen Zeigefinger und innerhalb weniger Minuten wandeln sich die Charaktere von »frustrierten Teenies« zu »maskierten Linksterroristen«: Nach einigen spektakulären Guerilla-Aktionen im Mission-Impossible-Style inklusive Raub, Körperverletzung und Entführung lässt sich auch der Konflikt mit dem Staat nicht vermeiden. Die Radikalisierung nach links wird in der Serie gleichgesetzt mit Gewalt, Terror und Individualismus. Hauptkriterium des politischen Erfolgs: Klicks, Likes und Kommentare im Internet; denn jede Aktion wird gefilmt und live gestreamt. Hinter dem allzu pathetischen Idealismus der Gruppe stecken vor allem egoistische Motive: Rache, Selbstbestätigung, Anerkennung. Dass der »hypermännliche« Tristan Bezugs- und Ausgangspunkt für das Handeln der zwei weiblichen Hauptrollen darstellt, ist besonders nervig.
Auf Ansätze einer politisch-gesellschaftlichen Analyse warten die Zuschauenden vergeblich
In der Serie werden Motive und Sinn der »politischen Arbeit« der Jugendlichen wenig überzeugend dargestellt. So kommt der »hilfreichste« Tipp ausgerechnet vom ermittelnden »Nazi-Kommissar«, der den fehlenden Bezug zur Lebensrealität der arbeitenden Bevölkerung kritisiert. Auf Ansätze einer politisch-gesellschaftlichen Analyse warten die Zuschauenden vergeblich. Vorhandene Missstände werden zwar aufgezeigt; sie bleiben jedoch zusammenhanglos und eindimensional.
»Wir sind die Welle«: Anstrengend oberflächlich
So wird beispielsweise die Idee einer »Massenbewegung« schnell wieder verworfen, als fünfzig Teenies nach einer spontanen Rede von Lea marodierend in einen Schlachthof einfallen.
Am Ende klappt es mit der »Massenbewegung« dann irgendwie doch und die fünfzig Ex-Marodeure lassen sich innerhalb von Sekunden zu einer Besetzung der örtlichen Waffenfabrik überreden. Aktivistin Lea sagt, wo‘s lang geht – keine Zeit für Debatte und demokratische Entscheidungsfindungen. Gerade an solchen Wendepunkten der Serie ist die Oberflächlichkeit der Macherinnen und Macher besonders anstrengend.
Die Serie will Kritik an heutigen Protestbewegungen üben, kommt aber über Plattitüden nicht hinaus
Dass Netflix ausgerechnet jetzt eine solche Serie produziert, ist sicher kein Zufall. Mit mehr als 164 Millionen Nutzenden weltweit spielt das Streamingportal – besonders für Jugendliche – eine wichtige Rolle. Das Produktionsteam der Serie selbst hat aufgezeigt, welche Rolle Streaming und Social Media spielen – und im politischen Kontext spielen können. Doch Netflix als Institution moderner Kulturindustrie unternimmt hier eben keinen ernsthaften Versuch, die Protestbewegungen von heute abzubilden oder gar zu verstehen.
»Links-grün-versiffte Öko-Terroristen«?
Die Serie sei für die »Generation 2019« gemacht, sagt der ausführende Produzent Dennis Gansel und meint: »Mehr Zeitgeist geht nicht.« Doch das Autoren-Team lässt die »Jugend« zwar rebellieren, zeigt aber überhaupt kein Interesse für die wirklichen Probleme, Bedürfnisse und Fragestellungen junger, sich politisierender Menschen. Stattdessen gibt es Klischees, einfache Wahrheiten, unrealistische (Terror-)Szenarien. Die Oberflächlichkeit des Alltagsverstandes dominiert jegliches Politikverständnis. Die Serie will Kritik an heutigen Protestbewegungen üben, kommt aber über linksliberale Plattitüden wie »der Zweck heiligt nicht die Mittel« und »Gewalt war noch nie die Lösung« nicht hinaus. Ob die bereits angekündigte zweite Staffel daran etwas grundlegend anders machen wird, bleibt zu bezweifeln.
Mit der Grundaussage der Serie, der Warnung vor den »links-grün-versifften Öko-Terroristen«, haben sich die Macherinnen und Macher jedenfalls auf dünnes Eis begeben. Die Antwort des Head-Autors Jan Berger, es gäbe schon genug Filme über Faschismus in Deutschland, ist nicht nur vor dem Hintergrund der Zunahme von rechter Gewalt und Terror mehr als unverständlich. Eine wirkliche Neuauflage der »Welle« wäre in Deutschland nötiger den je.
Jan Friedrichs ist aktiv bei Die Linke.SDS und »Students for Future« in Hannover.
Foto: Netflix
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