Jürgen Wagner von der »Informationsstelle Militarisierung« hat mit marx21 über die aggressive Expansion der NATO, die Gefahr einer neuen Blockkonfrontation und über die große Bedeutung des Afghanistankrieges für das Militärbündnis gesprochen.
marx21: Im Vorfeld des NATO-Gipfels Anfang April in Bukarest hat es Streit zwischen den USA und einigen europäischen Staaten gegeben. Ist das Militärbündnis in der Krise?
Jürgen Wagner: Im Gegenteil. Im Vergleich zu den teils durchaus ernst gemeinten Versuchen Schröders und Chiracs, zusammen mit Russland einen Gegenblock zu den Vereinigten Staaten aufzubauen, sind ihre Nachfolger Merkel und Sarkozy mittlerweile voll auf US-Linie eingeschwenkt. So beteiligen sich beide Länder beispielsweise immer stärker am NATO-Krieg in Afghanistan.
Am deutlichsten zeigt sich diese transatlantische Annäherung daran, dass Frankreich angekündigt hat, sich nach mehr als 40 Jahren Abwesenheit wieder vollständig in die militärischen Strukturen der Allianz integrieren zu wollen.
Darüber hinaus wurden auf dem Gipfel verschiedene Entscheidungen getroffen, mit denen das Bündnis künftig wieder zum zentralen Instrument der Durchsetzung westlicher Interessen werden soll.
Was sind die wichtigsten Entscheidungen des Gipfels?
Drei Beschlüsse ragen meines Erachtens heraus. Zunächst einmal die Verabschiedung eines neuen Aufstands- und Besatzungskonzeptes, das jetzt implementiert und auf die Kriegsführung in Afghanistan übertragen werden soll. Des Weiteren noch die Entscheidungen bezüglich der weiteren Expansion der NATO und schließlich noch der Bereich der Raketenabwehr.
Gerade dieser letzte Punkt ist extrem weit reichend und wurde zumeist kaum wahrgenommen. Zwar wurde durchaus registriert, dass die NATO die US-amerikanischen Pläne, Teile ihres Raketenabwehrsystems in Polen (Abfangraketen) und der Tschechischen Republik (X-Band Radars) aufzubauen, trotz der massiven russischen Einwände vorbehaltlos unterstützte. Dass die Allianz jedoch gleichzeitig beschloss, bis 2009 die Pläne zum Aufbau eines eigenen, flächendeckenden NATO-Raketenabwehrschildes zu konkretisieren – wohlgemerkt zusätzlich zu den US-Installationen -, wurde kaum beachtet.
Diese Entscheidung wurde auf Grundlage einer von der NATO in Auftrag gegebenen Machbarkeitsstudie getroffen, mit deren Ausarbeitung ausgerechnet zahlreiche große Rüstungsfirmen betraut wurden. Die 2006 fertig gestellte, aber bis heute geheim gehaltene Studie kommt dann auch zu dem Ergebnis, eine NATO-Raketenabwehr sei prinzipiell technisch realisierbar.
Ein solches System würde immense Summen verschlingen. Die regierungsnahe »Stiftung Wissenschaft und Politik« spricht von »40 Milliarden Euro oder mehr«, die ein solches System kosten könnte. Hiermit wurde aber nicht nur die Entscheidung auf den Weg gebracht, der Rüstungsindustrie gigantische Summen für ein technisch fragwürdiges Projekt in den Rachen zu werfen, sondern zudem auch sehenden Auges in Kauf genommen, dass sich die Beziehungen zu Russland weiter verschlechtern werden.
Merkel behauptet »Die Nato ist gegen niemanden gerichtet«. Stimmt das?
Russland betrachtet die geplanten US-Raketenabwehrinstallationen in Osteuropa als direkte Bedrohung. Dies ist ungeachtet aller Lippenbekenntnisse durchaus plausibel. Zum Beispiel hat der renommierte Physiker Theodore Postol nachgewiesen, dass die einzige technische Begründung für das System in dem Bestreben liegen kann, damit das russische Raketenarsenal zu neutralisieren. Wenn nun die NATO auch noch beschließt, zusätzlich hierzu einen eigenen Schild zu entwickeln, sehe ich mich außer Stande zu verstehen, weshalb sich Russland hiervon weniger bedroht fühlen sollte. Zumal sich die NATO-Russland-Beziehungen in den letzten Jahren rapide verschlechtert haben.
Gleiches gilt für die nächste NATO-Erweiterungsrunde. Während der in Bukarest beschlossene Beitritt Kroatiens und Albaniens (Mazedoniens Beitritt scheiterte aufgrund des Namensstreits am griechischen Veto) weit gehend widerspruchslos erfolgte, stieß die von George W. Bush im Vorfeld des Gipfels vehement eingeforderte Aufnahme der Ukraine und Georgiens auf heftigen russischen Widerstand. Wladimir Kotenew, der russische Botschafter in Deutschland, gab diesbezüglich an: »Es ist das Problem des Heranrückens eines militärischen Blocks. Und da brauchen wir nicht miteinander zu tricksen, sondern müssen klar sehen, es geht nicht um eine Kirche oder friedensstiftende Glaubensgemeinschaft, sondern um eine militärische Allianz.«
Zwar konnte sich Washington mit seiner Maximalforderung, die Ukraine und Georgien schon 2009 aufzunehmen, auf dem Gipfel in Bukarest nicht durchsetzen, allerdings wurde der Beitritt beider Länder dort erstmals offiziell beschlossen: »Wir haben uns gestern darauf geeinigt, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden«, heißt es lapidar in der Gipfelerklärung. Somit dürfte das weitere Heranrücken des Militärbündnisses an Russlands Grenzen nur noch eine Frage der Zeit sein.
Wenn man sich beispielsweise das Konzept des geostrategischen Altmeisters Zbigniew Brzezinski betrachtet, der die NATO als zentralen US-Brückenkopf in Eurasien zur Eindämmung Russlands betrachtet, den es näher an dessen Grenzen heranzuschieben gelte, wird verständlich, weshalb sich Moskau zunehmend von einem feindlichen Militärblock eingekreist sieht. Gleichzeitig unternimmt die NATO in kaum einem Punkt Versuche, russische Bedenken ernsthaft zu berücksichtigen.
Im Resultat sieht sich Moskau dazu veranlasst, bestehende Rüstungskontrollverträge (etwa den KSE-Vertrag oder den INF-Vertrag) in Frage zu stellen und glaubt seinerseits aufrüsten zu müssen, um diesem aggressiven Vordringen begegnen zu können. So äußerte sich Wladimir Putin: »Es wurde bereits ein neues Wettrüsten entfesselt. Und wir waren nicht diejenigen, die angefangen haben. Die Nato expandiert. Wir gaben unsere Stützpunkte auf Kuba und in Vietnam auf. Und was bekamen wir dafür? Neue amerikanische Stützpunkte in Rumänien und Bulgarien. (…) Wir sind zu Vergeltungsmaßnahmen gezwungen. In den nächsten Jahren soll die Produktion neuer Waffensysteme aufgenommen werden, die den Verteidigungsmöglichkeiten anderer Staaten in nichts nachstehen und in einigen Fällen sogar noch besser sind.«
Wenn die NATO in dieser Form weiter die Interessen anderer Länder vollständig ignoriert, droht tatsächlich eine neue Blockkonfrontation. So haben Moskau und Peking erste Schritte in die Wege geleitet, um die so genannte Shanghaier Vertragsorganisation, ein Bündnis dieser beiden Länder mit vier weiteren Staaten der kaspischen Region, zu einem vollwertigen Militärbündnis, einer Art Anti-NATO, auszubauen. Solche Bestrebungen sind die direkte Folge der aggressiven NATO-Politik der letzten Jahre.
Wie beurteilst du das Verhältnis zwischen der EU und der NATO?
NATO und EU sind Brüder im Geiste. Letztlich zielen beide – ich sagte es Anfangs bereits – auf die Durchsetzung westlicher Interessen ab. Die Kooperation zwischen beiden Organisationen ist sehr eng. So kann die Europäische Union für ihre Kriegseinsätze im Rahmen des so genannten Berlin-Plus-Abkommens auf Strukturen der NATO zurückgreifen. Umgekehrt wird nun diskutiert, dass auch die EU künftig einen dauerhaften Zugang zu ihren »Krisenmanagementkapazitäten« ermöglicht. Dies betrifft Bereiche, in denen die NATO derzeit Defizite hat, beispielsweise paramilitärische Einheiten wie die »European Gendarmerie Force«, die für Besatzungsmissionen wie in Afghanistan gedacht sind und über die die NATO derzeit nicht verfügt.
Um nicht missverstanden zu werden: Das bedeutet nicht, dass die beiderseitigen Beziehungen jederzeit konfliktfrei verlaufen – im Gegenteil. Gerade die europäische Forderung nach einer Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe birgt erheblichen Sprengstoff. Während die USA auf der alleinigen Dominanz in der NATO und damit insgesamt innerhalb des »Westens« beharren, wollen die EU-Staaten – allen voran Deutschland – einen deutlich größeren Teil vom Kuchen abhaben. Sollte Washington hierzu künftig nicht bereit sein – meines Erachtens wird ihnen aber angesichts ihrer militärischen und ökonomischen Überdehnung kaum eine andere Möglichkeit bleiben -, ist es durchaus denkbar, dass sich die EU wieder stärker in Richtung Gegenmacht zu den USA bewegt. Gegenwärtig dominiert aber das beiderseitige Interesse an einer gemeinschaftlichen Absicherung der globalen Ausbeutungs- und Hierarchieverhältnisse zu Lasten der so genannten Dritten Welt.
Welche Rolle spielt der Afghanistan-Krieg für die NATO?
Bundeskanzlerin Angela Merkel brachte das Ganze auf den Punkt, als sie angab, der Krieg in Afghanistan müsse unter allen Umständen erfolgreich beendet werden, denn er sei der »Lackmustest für ein erfolgreiches Krisenmanagement und für eine handlungsfähige NATO.« Mit anderen Worten: Scheitert die NATO in Afghanistan – und vieles spricht derzeit dafür -, so hat sich jeder weitere ähnlich geartete Kriegseinsatz auf Jahre hinaus erledigt. Hierin liegt ein Hauptgrund, weshalb trotz der dramatischen derzeitigen Eskalation so krampfhaft an diesem Einsatz festgehalten wird.
Deshalb ist auch Frankreich bereit, zusätzliche Truppen zu entsenden. Deutschland hat ja ebenfalls bereits angekündigt, im Sommer die »Quick Reaction Force« zu übernehmen, eine schnelle Eingreiftruppe, die bereits in schwere Gefechte verwickelt war.
Zusätzlich scheint die Bundesregierung im Herbst eine erhebliche Ausweitung der deutschen Beteiligung von derzeit 3500 auf bis zu 6000 Soldaten zu planen. Damit rückt der »Operationsschwerpunkt Aufstandsbekämpfung«, wie es unlängst die »Stiftung Wissenschaft und Politik« gefordert hatte, in den Mittelpunkt der Planungen, während der zivile Wiederaufbau demgegenüber in den Hintergrund rückt (de facto werden in diesem Kontext dort ohnehin primär neoliberale Wirtschaftsstrukturen aufgebaut). Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die NATO als Ganzes, wie in Bukarest beschlossen wurde.
Im April 2009 findet das 60jährige Jubiläum der NATO statt. Wie geht’s bis dahin weiter?
Auf dem Gipfel in Bukarest beschlossen die Staats- und Regierungschefs die Erarbeitung eines Richtliniendokuments, das bis zum nächsten Gipfel im April 2009 fertig gestellt sein soll. Offensichtlich ist es das Ziel, eine Runderneuerung der Allianz pünktlich bis zu ihrem 60jährigen Jubiläum in feste Formen zu gießen.
Hierfür wurde im Januar 2008 von fünf hochkarätige NATO-Strategen – unter ihnen der frühere Oberkommandierende der Allianz, John Shalikashvili und der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärkomitees, Klaus Naumann – mit einem 150seitigen Papier das bislang ambitionierteste Konzept für eine aggressive Neuausrichtung des Bündnisses in die Debatte eingespeist. Von der Forderung nach atomaren Präventivschlägen über die generelle Entkoppelung von NATO-Kriegen an ein Mandat des UN-Sicherheitsrates bis hin zu tief greifenden institutionellen Veränderungen – beispielsweise der Abschaffung des Konsensprinzips – lässt das Dokument kaum einen Stein auf dem anderen.
Inwieweit diese Vorschläge in das besagte Richtliniendokument einfließen werden, bleibt anzuwarten. Sicher ist jedenfalls, dass die Allianz bis zu ihrem 60. Geburtstag ihren Kriegskurs weiter forcieren wird. Grund genug, gerade hier in Deutschland für das nächste Gipfeltreffen im April 2009, das in Kehl (Baden-Württemberg) und Straßburg stattfinden wird, umfangreiche Proteste zu organisieren.
(Die Fragen stellten Frank Eßers und Yaak Pabst)
Zur Person: Jürgen Wagner ist Politikwissenschaftler und geschäftsführender Vorstand der »Informationsstelle Militarisierung e.V.«
Mehr auf marx21.de:
- Afghanistan: Die NATO handelt wie Terroristen
Mehr im Internet:
- Jürgen Wagner, »Brüssel, das neue Rom? Ostexpansion, Nachbarschaftspolitik und das Empire Europa«, Studien zur Militarisierung EUropas 36/2008, Informationstelle Militarisierung e.V. (IMI), PDF 757 KB