Erst wenn die NATO-Truppen Afghanistan verlassen haben, ist eine Wende zum Besseren möglich, meinen Christine Buchholz und David Meienreis.
Dass Deutschland nicht am Hindukusch verteidigt wird, darin sind sich in der Friedensbewegung alle einig. Die Kritik an Führung und Ergebnissen des westlichen Einmarsches ist einhellig. Die offene Frage, die viele beschäftigt, lautet: Was passiert aber, falls Bundeswehr und NATO tatsächlich aus Afghanistan abziehen sollten? Wird dann nicht alles noch schlimmer? Gefordert wird eine »Exit-Strategie«, die den militärischen Abzug mit Konzepten für den Wiederaufbau verbindet.
Vorschläge werden bereits erarbeitet. So hat zum Beispiel ein Bündnis aus Exil-Afghanen zusammen mit dem Autor Christoph Hörstel (»Sprengsatz Afghanistan«) einen detaillierten »Friedensplan« vorgelegt. Auch das Netzwerk Friedenskooperative hat einen »Vorschlag für eine zivile Strategie für Afghanistan« veröffentlicht, in dem es heißt, die »alleinige Forderung nach Abzug der Bundeswehr« sei »unzureichend« und die afghanische Bevölkerung werde sich erst dann für Frieden engagieren, wenn sie eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erkennen könne. Die Autoren dieser Papiere haben der Bundesregierung insofern etwas voraus, als dass diese überhaupt keine Angaben dazu macht, wann oder unter welchen Bedingungen sie die deutschen Soldaten zurückholen will. Tatsächlich meidet die Regierung die Diskussion um den wahren Charakter und die Ziele des Afghanistanfeldzuges bewusst. 86 Prozent der Deutschen sind einer aktuellen Umfrage zufolge gegen jegliche Auslandseinsätze der Bundeswehr. Und der Regierung geht es nicht um Freiheit und Demokratie in Afghanistan, sondern um Einfluss in einem strategisch bedeutsamen Teil der Erde. Afghanistan liegt im Herzen Zentralasiens. »Es geht um eine Region mit gewaltigen Energieressourcen«, wie Außenminister Franz-Walter Steinmeier Anfang März vor der Willy Brandt Stiftung darlegte: »Das macht uns zu einem Spieler in einer Region, die nicht nur als Energie- und Transportkorridor heftig umworben wird, sondern die auch eine wichtige Brückenfunktion hat: in den Nahen und Mittleren Osten oder hin zum Kaspischen Meer.« Die große Koalition hat den deutschen EU-Ratsvorsitz im vergangenen Jahr genutzt, um eine Zentralasienstrategie der EU zu verabschieden. Diese geht ausführlich auf die Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Staaten im Hinblick auf Erdöl und -gas ein, »wobei jeweils die geografische Lage, insbesondere im Verhältnis zu Afghanistan, Pakistan und Iran, berücksichtigt werden muss.« Wenn Bundeswehrkommandeure mittlerweile von einer möglichen Verweildauer der deutschen Truppen von zehn bis zwanzig Jahren sprechen, wird klar, dass das Hauptinteresse der Besatzer ihre militärische Präsenz ist und nicht der Aufbau des Landes.
Dieser unabsehbaren Stationierung halten die Exitkonzepte, die in der Friedensbewegung kursieren, die Tür auf, wenn sie den Abzug der Bundeswehr an Bedingungen knüpfen. So argumentiert Hörstel, eine unabdingbare Grundlage seines Friedensplanes seien »keine Aktionen oder Vorbereitungen von Aktionen durch den Widerstand«. Das westliche Militär nehme während der geplanten fünfjährigen Laufzeit seines Friedensplanes »eine Polizeirolle ein«. Das Netzwerk Friedenskooperative hält einen Abzug der westlichen Armeen von vornherein für »völlig unrealistisch«. Die Umsetzung der vorgeschlagenen Projekte, die einer friedlicheren Zukunft den Weg ebnen sollen, dürfe nur mit Zustimmung der Geberländer erfolgen, Korruption sei »nicht hinnehmbar«. Die »zivile Konfliktbearbeitung« müsse allmählich »zur gängigen Praxis« werden. Die ausschlaggebende Kraft des zentralen Konfliktes in Afghanistan heute sind aber gerade die Besatzungstruppen. Und so schmerzlich dies sein mag: Alle internationalen Hilfsorganisationen zahlen Schutz- und Schmiergelder, wo dies nötig ist, um Zugang zu Krisengebieten zu bekommen und Hilfe leisten zu können. Wer »gute Regierungsführung« zu einer Vorbedingung für Entwicklungshilfe macht, verschiebt sie im Zweifelsfall auf den Sankt Nimmerleinstag.
In den meisten Überlegungen zu »Exit-Strategien« erscheinen Militär und westliche Präsenz ausdrücklich oder implizit als Garanten der Sicherheit, ohne die sich die gut gemeinten Konzepte nicht umsetzen ließen.
Zweifelsohne verdienen die Menschen in Afghanistan jede Hilfe, die sie nach über 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg bekommen können. Für die Zerstörungen durch die Besatzung sind Reparationszahlungen zu leisten. Falsch ist aber die Annahme, dass die NATO-Truppen in Afghanistan für Sicherheit oder Stabilität sorgen würden.
Es sind heute NATO-Bombardements, die täglich afghanische Zivilisten töten und ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen. Das brutale Vorgehen der Besatzer bringt die Bevölkerung gegen sie auf und heizt den bewaffneten Widerstand an. Das kritisieren mittlerweile auch Kommandeure der Besatzungstruppen. An dieser Brutalität hat sich auch nichts geändert, seit die NATO Ende letzten Jahres eine neue Strategie für Afghanistan verabschiedet hat, in der es unter anderem heißt, die Kampftruppen sollten auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel achten.
Deshalb wachsen die Gruppen, die das Militär intern als »bewaffneten Widerstand« bezeichnet, während die Presse sie pauschal als »Taliban« zusammenfasst. Dieser bewaffnete Widerstand erhält Zulauf von Männern und Frauen aus den wachsenden Flüchtlingslagern in Afghanistans Nachbarländern und aus den vom Krieg verwüsteten Gebieten des Landes.
Der ideologisch gehärtete Kern des Widerstands, die Taliban, ist heute unter anderem gerade deshalb militärisch stärker und genießt größere Unterstützung als zum Zeitpunkt des westlichen Angriffs, weil er sich als der best organisierte und kompromissloseste Widerstand gegen die Besatzung präsentieren kann. Der ehemalige afghanische Innenminister Ali Ahmad Jalali stellte zum Erstarken des Widerstandes fest: »Was die Menschen bewegt ist nicht die Ideologie, sondern eine instabile Umgebung zwischen den bestehenden Netzwerken aus Clans, Stämmen, unzufriedenen Leuten, Drogenhändlern, Opportunisten und arbeitslosen Jugendlichen.« Invasion und Besatzung haben eine Situation geschaffen, die eine Vielzahl von Menschen als schlimmer empfinden als unter den Taliban, berichtet die afghanische Abgeordnete Malalai Joya, die wegen ihrer engagierten Kritik mit dem Tode bedroht und verfolgt wird.
Dieselben Kriegsherren, die das Land während der 90er Jahre verwüstet haben, bauen heute in den afghanischen Provinzen ihre Macht wieder aus und werden dabei vom Westen unterstützt und bewaffnet. Sie sind Verbündete und hohe Würdenträger der auf dem Bonner Petersberg eingesetzten Kabuler Regierung unter Präsident Hamid Karsai. Ihre Einnahmen stammen weiterhin hauptsächlich aus dem Drogengeschäft und der rücksichtslosen Ausbeutung der Landbevölkerung. Aus den Landesteilen, die sie kontrollieren, werden Zwangsheiraten, Menschenhandel und andere schwere Menschenrechtsverletzungen berichtet. Als Unterstützung im Kampf gegen den bewaffneten Widerstand sind sie der NATO aber gut genug.
Das westliche Besatzungsbündnis bedient sich in Afghanistan alter kolonialer Taktiken und lässt einheimische Stellvertreter einen Teil der schmutzigen Arbeit verrichten. Und auch die Rechtfertigungen ähneln denen des klassischen Kolonialismus. Der britische Dichter Rudyard Kipling schrieb 1899 ein viel gelesenes Gedicht über die »Bürde des weißen Mannes«. Diese bestehe darin, verkündete er, »wilde Kriege für den Frieden« zu entfesseln und den »undankbaren Heiden« in den Kolonien Fortschritt und Demokratie notfalls mit Gewalt beizubringen. Dass die Einwohner unterworfener Länder selbst in der Lage seien, ihre Gesellschaften zu organisieren, bestritten damals nicht nur Konservative wie Kipling, sondern leider auch der rechte Flügel der sozialdemokratischen Parteien Europas. Jede eigenständige Erhebung der »Eingeborenen« könne ihre Lage nur verschlechtern, argumentierte 1907 etwa Karl Kautsky in seinem Aufsatz »Sozialismus und Kolonialfrage«. Es dauerte bis zum Ende zweier Weltkriege und dem Sieg der anti-kolonialen Befreiungskämpfe in den 1950er und 60er Jahren, bevor viele Linke in den Industriestaaten diese überhebliche Haltung aufgaben.
Heute wird in Afghanistan wie ein westliches »Protektorat« eingerichtet, dessen Handlungsspielraum in westlichen Hauptstädten festgelegt wird. Gegen diese gewaltsame Bevormundung verwehren sich die Einheimischen zu Recht.
In Afghanistan sind viele Menschen, Gruppen und Organisationen aktiv, die ihrem Land einen Weg zu einem selbstbestimmten Wiederaufbau eröffnen wollen. Viele andere leben im Exil und wagen nicht, in ihr Land zurückzukehren, solange dort Krieg herrscht. Wiederaufbau, sagen sie, lässt sich weder mit noch neben den Besatzern leisten. Bevor dieser Krieg kein Ende hat, ist an einen Frieden nicht zu denken.
Und wie könnte der aussehen? Zunächst einmal hat der Krieg in Afghanistan bislang schätzungsweise 150 Milliarden Dollar gekostet, das sind 5.000 Dollar pro Einwohner. Das jährliche Bruttoinlandsprodukt Afghanistans liegt bei 355 Dollar pro Einwohner. Hätte man diese gewaltige Summe zivil ausgegeben, wäre bei den Menschen in Afghanistan ein kleines Vermögen angekommen. Hunger-, Kälte- und Bombentote, wie sie Afghanistan jetzt zu Tausenden zu beklagen hat, ließen sich allein durch Umschichtung der Mittel für Militär und zivile Hilfe vermeiden.
Demokratie heißt wörtlich Volksmacht. Ohne Selbstbestimmung ist sie keine Demokratie. Es ist nicht Aufgabe noch so Gutmeinender hier, der afghanischen Bevölkerung Blaupausen für ihre Gesellschaftsordnung vorzulegen – und sie militärisch besetzt zu halten, bis sie diese umgesetzt haben.
Der erste notwendige Schritt zu Selbstbestimmung heißt: Schluss mit Krieg und Besatzung, raus mit den ausländischen Armeen.
Zu den Autoren:
Christine Buchholz ist Mitglied des geschäftsführenden Parteivorstands der LINKEN. David Meienreis arbeitet im Arbeitskreis Internationale Politik der Linksfraktion im Bundestag.
Dieser Artikel ist erschienen in: marx21 – Magazin für internationalen Sozialismus, Nr.5, April 2008