Nach dem Polizeimord an George Floyd erschüttern Massenproteste die USA. Nun hat sich die US-Armee geweigert, Trumps öffentlichem Befehl zum Eingreifen zu folgen. Jonathan Neale meint: Wir sind am Gewinnen!
Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem neuen marx21 Magazin mit dem Titel: »Krise ohne Ende?« (Das Heft erscheint am 10. Juli 2020). Aktion bis 7.7. : Abonniere jetzt das Magazin und bekomme die neue Ausgabe kostenfrei nach Hause geschickt.
Jonathan Neale ist Autor und Klimaaktivist sowie Herausgeber des Buches »One Million Climate Jobs: Tackling the Environmental and Economic Crisis«.
Ich bin in den Vereinigten Staaten aufgewachsen. Dort war ich Teil der Bewegungen der 1960er Jahre. Vergangenes Wochenende schrieb ich an meinem Buch über Klima-Jobs in einem Gartenschuppen in England, wobei ich zwischen Twitter und Facebook hin und her wechselte. Wenn ich das tue, schinde ich normalerweise Zeit. Das war dieses Mal anders: Mein Körper zitterte vor Aufregung und Freude.
Ein Bruch mit der Geschichte
Überall, wohin man auf den Fotos und Videos von den Protesten und Aufständen in den USA schaut, sieht man Schwarze, Weiße, Latinos und viele Menschen, die alles sein könnten. Das ist ein Bruch mit der Geschichte.
Die »Rassenunruhen« in St. Louis von 1917 und die Unruhen in Tulsa im Jahr 1921 waren Pogrome – Banden von Weißen, die in schwarze Viertel eindrangen, um zu töten. Bei den Unruhen in Detroit im Jahr 1943 kämpften Weiße und die Polizei gegen Schwarze, und 75 Prozent der Toten und Verwundeten waren Schwarze. In den 1960er Jahren kam es in den segregierten schwarzen Vierteln der Städte im Norden zu Unruhen. Dies waren fast ausschließlich öffentliche Reaktionen auf die Brutalität der Polizei. Und in den 1960er Jahren kämpften nicht mehr weiße Arbeiter und die Polizei gegen schwarze Arbeiter, sondern nur noch die Polizei gegen Schwarze, und fast alle Toten waren Schwarze.
Dieses Mal sehen wir die Menschen verschiedener Hautfarben alle durcheinander. Die Schwarzen führen in der Regel die Proteste, nicht in dem Sinne, dass sie das Mikrofon in Beschlag nehmen, sondern sie führen tatsächlich. Soweit ich das beurteilen kann, gehören die meisten Demonstrierenden der Arbeiterklasse an. Und sie sind auffallend jung.
Es wird immer wieder gesagt, dass die Weißen in den Vereinigten Staaten über Rassismus aufgeklärt werden müssten. Das glaube ich nicht. Ich bin unter Weißen in Texas aufgewachsen. Um mich herum gab es überall Rassismus. Vor kurzem verbrachte ich zwei Jahre in St. Louis. Dort scheint sich alles um Rassismus zu drehen, nicht nur diese oder jene Sache, sondern alles.
Das Problem ist nicht, dass die Weißen es nicht besser wissen. Es ist vielmehr leider so, dass so viele Weiße sich dafür entscheiden, auf der falschen Seite zu stehen. Das ist ein Teil dessen, was sich jetzt geändert hat. Und das gefällt den Leuten, die die USA regieren, den Republikanern und Demokraten, überhaupt nicht. Deshalb haben sie damit begonnen, Unsinn über Unruhen zu verbreiten. Hier ist ein gewisser Kontext notwendig.
Kontext I: Eine globale Perspektive
Eine chilenische Freundin von mir, die in England lebt, war den ganzen Freitagabend auf und sah sich die Videos aus den USA an, wobei sie soziale Medien nutzte, um sich mit ihren Freunden in Chile auszutauschen. Seit letztem Herbst haben diese monatelang einen Aufstand auf der Straße erlebt, dann den »Lockdown«, und jetzt beginnt der Aufstand von neuem. Sie alle wurden von den Bildern aus Minneapolis in den Bann gezogen und sagten immer wieder zueinander: »Sie tun, was wir tun. Sie sind genau wie wir.« In Chile hatten sie das nicht erwartet.
Aber die Ähnlichkeiten in der globalen Reaktion auf den Mord an George Floyd sind ein weiterer Teil dessen, was sich geändert hat. Was wir in den USA sehen, sind Menschenmengen, die in Bewegung sind, wütend, ängstlich, entschlossen und auf der Suche nach Gerechtigkeit. Das haben wir letztes Jahr auch im Sudan, dem Libanon, in Hongkong, Indien, Irak und Iran gesehen. So sahen wir es auch beim Arabischen Frühling 2011. Als CNN oder Al-Jazeera über diese Ereignisse berichteten, fand das niemand merkwürdig.
Auch in den USA ist es nicht merkwürdig. Unruhen entstehen, wenn sich Menschenmassen in Momenten überwältigender Gefühle versammeln, nervös sind und sich nicht sicher sind, was sie tun wollen. Die nervös gewordene Polizei steht ihnen gegenüber, und dann schlägt sie um sich. An diesem Punkt bezeichnen die Medien das Geschehen als Aufruhr. Dann zeigen sie Videos von Polizisten, die auf Menschen einschlagen, die zu fliehen versuchen, und auch das nennen sie einen Aufstand. In Wirklichkeit handelt es sich aber nur um einen Aufstand der Polizei.
Aber es gibt Momente, wenn die Stimmung am Kochen ist, in denen die Menge ernsthaft versucht, sich zu wehren. Und das ist dann tatsächlich ein Aufstand. Es kommt nie zu Aufständen, wenn nur einige wenige Menschen in der Menge auf der Suche nach Krawall sind. Aufstände entstehen, weil die Mehrheit schlicht und einfach genug hat.
Kontext II: Jüngste Geschichte
Was momentan in den USA geschieht, ist keine Explosion aus dem Nichts. Einer meiner Freunde ging am Freitagabend durch die protestierenden Menschenmengen in New York und fragte die Leute, ob es ihr erster Protest sei. Er erwartete, dass sie ja sagen würden. Die meisten von ihnen verneinten.
Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zufolge, die diese Dinge zählen, protestierten in den ersten 18 Monaten der Präsidentschaft von Trump 15 Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner. In den letzten acht Jahren gab es die Occupy-Bewegung, Black Lives Matter, die High School-Walkouts gegen Waffen, die Frauenmärsche, die Klimastreiks und die Lehrerstreiks.
Sie alle waren über das ganze Land verteilt und kamen manchmal in Wellen wie die gegenwärtigen Proteste, manchmal als Reaktion auf eine lokale Gräueltat. Fast immer standen Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt.
Keiner dieser Proteste, mit Ausnahme der Frauenmärsche, wurde zentral organisiert. Aber keiner von ihnen war einfach nur spontan. Sie wurden organisiert, in der Regel von einigen wenigen Jugendlichen, die miteinander telefonierten oder sich auf den Fluren absprachen und austauschten, um anderen Mut zu machen.
Hinzu kamen viele Hundert, wenn nicht Tausende Fälle von Widerstand gegen Vergewaltigungen und sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz. Nancy Lindisfarne und ich haben ein Buch über die Wurzeln sexueller Gewalt geschrieben, und wir haben alle #MeToo-Fälle in den USA verfolgt, die wir finden konnten. Diese werden gewöhnlich als Medienereignisse angesehen, aber in fast allen Fällen gibt es Organisationsprozesse an der Basis, manchmal an einem Arbeitsplatz, manchmal in einer Branche wie Hollywood oder im Frauenturnen, manchmal in einer Universitätsabteilung. Es sind auch fast alles Konfrontationen, die Vertuschungen und Schikane durch das Management aufdecken – Konfrontationen, die Manager jetzt in der Regel verlieren.
Wenn Menschen an einem Protest teilgenommen haben, ist es für sie leichter, sich dem nächsten anzuschließen. Wenn sie sich am zweiten Protest beteiligen, bei dem es um etwas anderes geht, beginnen sie, zu verallgemeinern und das System als Ganzes zu hinterfragen.
Ein Ergebnis all dessen ist, dass es jetzt viele Menschen an vielen Orten gibt, die sich bereits vor Ort an der Organisation einer Arbeitsniederlegung, einer Demonstration, eines Protests, eines Streiks oder des Widerstands am Arbeitsplatz beteiligt haben. Meine Schätzung wäre vielleicht eine Million, aber wer weiß? Mit Sicherheit sind es viele.
Kontext III: Covid-19
Die Menschen auf den Straßen haben nun die Covid-Krise durchlebt. In fast allen Städten in den USA hat es Ausgangssperren gegeben. Die Auswirkungen der Epidemie sind in den USA, wie auch in vielen anderen Ländern, eng mit Rassismus und Klassenzugehörigkeit verbunden.
Einer der Gründe, warum die Corona-Pandemie schwarze Menschen in den USA wesentlich härter trifft als Weiße, ist, dass sie oft diejenigen Arbeiten verrichten, die sie der Gefahr einer Infektion mit dem Virus besonders aussetzen. Sie sind mit größerer Wahrscheinlichkeit gezwungen, ohne Schutz zu arbeiten. Sie müssen aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, zur Arbeit gehen. Es ist wahrscheinlicher, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren, und es ist unwahrscheinlicher, dass sie von zu Hause aus an einem Computer arbeiten können. Sie wissen, dass sie in Gefahr sind, und sie wissen, warum sie in Gefahr sind.
Alles, was ich gerade über Schwarze in der Epidemie geschrieben habe, lässt sich mit den gleichen Worten über die Arbeiterklasse generell sagen. Die beiden Vektoren der Diskriminierung und der Gefahr verstärken sich gegenseitig. Dutzende Millionen lateinamerikanischer und weißer Arbeiter und Angestellter waren und sind ebenfalls in Gefahr.
Im Gegensatz zu den europäischen Ländern gibt es in den USA keinerlei Lohnsubventionen für beurlaubte Beschäftigte. Von 150 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben 40 Millionen während der Epidemie ihren Job verloren. Manche haben ihn mittlerweile zurück, aber 20 Millionen erhalten momentan Arbeitslosengeld und eine unbekannte Zahl an Menschen ist arbeitslos, erhält aber keinerlei staatliche Unterstützung. Beschäftigte in den USA erhalten auch ihre Krankenversicherung über ihre Arbeitgeber und verlieren sie an dem Tag, an dem sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Einige bleiben über ihre Ehepartner versichert, aber viele Millionen Erwachsene und ihre Kinder haben sich den 15 Millionen Menschen angeschlossen, die bereits ohne Krankenversicherung waren.
Der Verlust ihres Einkommens bedeutet, dass die Mehrheit der Mieterinnen und Mieter Anfang Mai nicht in der Lage war, ihre Miete zu bezahlen. Überall im Land bauen Krankenhäuser Personal ab, weil sie Einkommensverluste durch den Wegfall teurer, elektiver Operationen erlitten haben, auf die sie angewiesen sind. Das Gesundheitspersonal ist wütend. Einige der Schlangen vor den Food Banks (Tafeln in Deutschland, d. Red.) sind schon 10.000 Personen lang.
Dann ist da noch Trumps Umgang mit dem Virus. Jeder weiß tief im Inneren, dass es die Aufgabe der Regierung wäre, die Menschen zu schützen. Trump hat alle in Gefahr gebracht. Die USA haben eine der höchsten Todesraten der Welt und sind die Nummer eins, was die Gesamtzahl der Toten betrifft. Es geht nicht nur darum, dass Trump lügt, sich aufplustert und wahnsinnig egozentrisch ist. Es geht darum, dass es ihm einfach egal ist.
Covid, Trump und Rassismus
Über die angeblich solide Basis von Trump wird viel Unsinn erzählt. Er hat in den Umfragen stetig an Unterstützung verloren. Dies gilt vor allem für ältere Weiße, bis jetzt seine treuesten Unterstützer, aber nun auch diejenigen, die aufgrund ihres Alters durch das Virus besonders gefährdet sind. Die Zahl der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner, die die Proteste teilweise oder ganz ablehnen, ist mittlerweile auf 22 Prozent gesunken.
Dann kam das Video, auf dem zu sehen war, wie der Polizist Derek Chauvin George Floyd auf grausame und berechnende Weise ermordete, während drei andere Polizisten zusehen. Die gewaltige Resonanz auf das Video hat vielfältige Ursachen. Wir befinden uns mitten in einer Epidemie. Jeder hat jeden Tag über den Tod nachgedacht. Jeder weiß, wie diese Krankheit tötet. Man kann nicht atmen. Also ja, dies ist ein Aufstand gegen den Tod, für das Leben.
Aber Derek Chauvin steht auch sinnbildlich für Trump. Dies ist ein Aufstand gegen den Mann, der bereit ist, uns für die Aktienmärkte zu opfern. Und ja, dies ist ein Aufstand gegen den Rassismus. Er wird von den Menschen angeführt, die durch den Präsidenten, die Polizei, das Wirtschaftssystem am meisten gefährdet sind. Aber andere strömen herbei, um sich ihnen anzuschließen. Das ist etwas völlig anderes, als weiße Privilegien zu haben und dann aufzugeben. Zum einen sind furchtbar viele von denen, die sich den Protesten anschließen Hispanics. Zum anderen ist es nicht die Erfahrung der weißen Arbeiterklasse in der Epidemie, privilegiert zu sein. Die Erfahrung ist vielmehr von Armut und Angst geprägt.
Viele sagen, dass die Weißen in den USA über Rassismus aufgeklärt werden müssen. Das glaube ich nicht. Auch Weiße wissen vom Rassismus. Sie haben vielleicht Schwierigkeiten, mit Schwarzen darüber zu sprechen. Vielleicht kennen sie die Details nicht, sie sind vielleicht defensiv und belügen sich selbst. Aber tief im Inneren wissen sie es alle. Weiße Menschen wissen auch, dass sie Partei ergreifen können, für Rassismus, gegen Rassismus oder sie versuchen, in der Mitte zu balancieren. Das Virus hat Millionen dazu gebracht, auf der Straße Partei zu ergreifen.
Ich habe in der Nacht geweint, als Barack Obama gewählt wurde. Mit Freude und in Erinnerung an den langen Kampf und das lange Leiden. Ich habe in der letzten Woche jeden Tag geweint. Ich bin nicht traurig.
Kontext IV: Die Unruhen im Norden
Ein weiterer Kontext ist die Erinnerung an die Unruhen im Norden. Die afroamerikanische Bewegung der 1960er Jahre hatte zwei Arme. Der eine war die Bürgerrechtsbewegung, vor allem im Süden. Die Teilnehmer waren meist aus der Arbeiterklasse, die Führer waren Studenten, Lehrer und Prediger. Die Forderungen waren Integration und Wahlrecht. Der andere Arm waren die Unruhen in den schwarzen Ghettos in den Städten des Nordens. Sie alle waren Proteste gegen die Brutalität der Polizei. Sie alle waren getragen von Menschenmassen aus der Arbeiterklasse. Sie alle begannen mit gewaltlosen Protesten. Damals war es offensichtlich, dass die Bürgerrechtsbewegung und die Unruhen im Norden von gleicher Bedeutung waren. Gemeinsam erzwangen sie den Wandel, der geschah.
Auf offizieller Ebene ist diese Erinnerung ausgelöscht worden. Wenn von den 1960er Jahren die Rede ist, geht es nur noch um Bürgerrechte. Es gibt buchstäblich Tausende von Geschichtsbüchern über die Bürgerrechtsbewegung. Demgegenüber gibt es gerade einmal sechs seriöse Bücher über die Unruhen, und keines davon ist eine auf der Basis von Interviews mit Teilnehmenden mündlich überlieferte Geschichte. (Hinweis für Geschichtsstudenten – nur zu!) Die Unruhen im Norden werden im Black History Month nie erwähnt.
Aber die Alten erinnern sich. Und sie haben diese Erinnerung weitergegeben. Während der Black Lives Matter-Proteste vor Covid konnte man die Erinnerung im Hintergrund schweben sehen. Die Polizei, die normalerweise so brutal ist, war während der BLM-Proteste außerordentlich vorsichtig, um die jungen Menschen nicht zu provozieren. Und die Menschenmengen waren wütend, aber äußerst diszipliniert, aus Angst, die Polizei würde sie massakrieren. Jetzt, in Minneapolis, nach Covid, ist das anders. Die Menge steckte das Polizeirevier in Brand.
Aber es ist auch auf andere Weise anders: Es ist nicht nur die Tatsache, dass unter den Demonstrierenden auch Latinos und Weiße sind. Ihre Anwesenheit und die politische Erfahrung der letzten Jahre bedeuten, dass die heutigen Proteste eine andere Geografie haben: In den 1960er Jahren fanden die Proteste gegen die Polizeibrutalität und die Unruhen immer in schwarzen Stadtvierteln statt. Jetzt gehen die Protestierenden überall hin, und sie bewegen sich in die Zentren, um den Reichen zu trotzen, nach SoHo in New York, nach Beverly Hills und zum Rodeo Drive in Los Angeles. In DC demonstrieren sie nicht im Ghetto, sondern vor dem Weißen Haus.
Kontext V: Die Demokratische Partei
Es gibt drei Aspekte, warum die Demokratische Partei von Bedeutung ist. Erstens ist die Eruption auf den Straßen viel tiefer, weil Bernie Sanders gerade die demokratische Nominierung gegen Joe Biden verloren hat. Die Welle des Widerstands in den USA war in den ersten beiden Jahren von Trumps Präsidentschaft viel größer als in den letzten achtzehn Monaten. Ich würde vermuten, dass dies viel mit den Kandidaturen von Sanders, Warren, Yang und einigen der anderen zu tun hatte. Die Leute in der Maschinerie der Demokratischen Partei argumentierten, man solle das Boot nicht schaukeln, ältere Wähler nicht entfremden, und viele Leute nahmen sich das zu Herzen. Der wichtigste Beweis war für mich, dass keine landesweite feministische Organisation zu Protesten in Washington gegen die Kandidatur von Brett Michael Kavanaugh zum Richter am Obersten Gerichtshof aufgerufen hat. Aber jetzt, mit »Schieß ihnen in die Beine«-Joe Biden als Kandidat, können die Menschen zwar für ihn stimmen, aber sie werden für sich selbst eintreten.
Der zweite Zusammenhang ist der Wahlkampf. Die Proteste erschüttern die Unterstützung für Trump. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie Biden ins Weiße Haus bringen werden.
Der dritte Kontext wird durch Bob Vulovs Artikel in McSweeney’s brillant evoziert: »Ich bin Ihr progressiver Bürgermeister, und ich denke, wir sollten mit unseren umherziehenden Todesschwadronen etwas nachsichtig sein.«
Die Gouverneure der Demokratischen Partei und die Bürgermeister in den großen Städten, Weiße und Schwarze, stehen seit Generationen rassistischen und brutalen Polizeikräften vor. Afroamerikanische Politiker benutzen die Sprache der Solidarität, aber auch sie unterstützen die Polizei. Und vierzig Jahre lang haben auch sie den Vorsitz über die rassistische, massenhafte Einkerkerung von Schwarzen geführt. Zwei besonders strenge Staatsanwälte, Amy Klobuchar und Kamala Harris, sind zwei repräsentative Gesichter der Demokratischen Partei, ein weißes und ein schwarzes.
Die jetzige Protestwelle ist eine Gefahr für solche demokratischen Politikerinnen und Politikern. Auf der einen Seite müssen sie die Polizei unterstützen. Das ist der Kern ihrer ganzen Arbeit im System. Aber auf der anderen Seite können sie die Polizei nicht unterstützen, weil ihre Wählerschaft das nicht will. Also haben sie eine bizarre Verschwörungstheorie entsponnen. Sie behaupten, die Demonstrierenden kämen von außerhalb ihres Staates, und die weißen Demonstranten hätten die ganze Gewalt ausgelöst. Dann behaupten sie, die schwarzen Demonstranten wollten Gewaltlosigkeit, weil Schwarze natürlich per se gewaltlos sind. In einer Variante dieser Lüge sind es gewalttätige weiße Faschisten, in einer anderen Variante sind es antifaschistische Anarchisten.
Natürlich gibt es »Agents Provocateurs « in der Menge. Die gibt es immer. Deshalb haben wir für sie einen alten französischen Begriff. Aber überall ist es die Menge und nicht die Provokateure, die den größten Teil der Kämpfe austragen. Wir sollten uns nicht schämen, wenn die Leute zurückschlagen.
Kontext VI: Die Welt
Es gibt einen weiteren Kontext: Denken wir an die Chileninnen und Chilenen zurück, die von den Ereignissen in den USA gefesselt sind und Videos und Bilder davon austauschen. Im vergangenen Jahr brachen überall auf der Welt ähnliche Aufstände aus. Sie hatten viel gemeinsam mit dem, was jetzt in den USA geschieht.
Häufig reagierten die Demonstrierenden auf eine Wirtschaftskrise. Die Solidarität mit unterdrückten Gruppen war für die Proteste in Chile, wo die indigenen Mapuche seit Generationen kämpfen, von großer Bedeutung. In Indien war der ganze Aufstand ein Protest gegen die Diskriminierung muslimischer Flüchtlinge, in einem Land, in dem das Weltbild der Regierungspartei auf Rassismus gegen Muslime aufbaut. Im Libanon war die Ablehnung des konfessionellen Sektierertums, das die Gesellschaft seit Generationen spaltet, der Kern der Bewegung, die unter den marginalisierten Schiiten von Tripolis am stärksten war.
In allen Ländern richteten sich die Proteste auch gegen alle bestehenden politischen Parteien. Wie wir während der Pandemie in Großbritannien und den USA gelernt haben, sind wir auf uns allein gestellt.
In den Diktaturen sind es Bewegungen für Demokratie. In den Demokratien sind es Bewegungen für viel mehr Demokratie. Die amerikanische Bewegung passt in diese Form.
In den kommenden Monaten und Jahren werden wir überall auf der Welt neue Bewegungen erleben – zornig, antirassistisch, antisexistisch, sehr jung, meist aus der Arbeiterklasse und streikfreudig. Sie werden Verachtung für fast alle bestehenden Politikerinnen und Politiker empfinden.
Ich bin seit fünfzehn Jahren Klimaaktivist. Covid ist sowohl eine schreckliche Tragödie als auch nur ein Vorgeschmack. Und junge, zornige, selbstbewusste Bewegungen, die keinen etablierten Mächten trauen, sind meine Hoffnung für die Zukunft des Planeten.
Wir gewinnen
Was in den USA geschieht, ist nur ein Teil dessen, was in der ganzen Welt geschieht. Die Kämpfe anderswo waren und werden noch wichtiger sein. Aber die chilenischen Aktivistinnen und Aktivisten beobachteten die USA auf eine Weise, wie die Menschen in den USA die Proteste in Chile, Indien oder Hongkong bislang nicht beobachtet haben. Die USA sind eine der beiden Großmächte in der Welt und in kultureller und intellektueller Hinsicht die dominierende Macht. Was in den USA geschieht, strahlt auf die ganze Welt aus. Deshalb ist es wichtig, dass die Bewegung gewinnt.
In den ersten drei Tagen sah es so aus, als gäbe es eine reale Aussicht, dass Rechtsextreme Protestierende erschießen, was an mindestens drei Orten auch geschah, oder sie überfahren, was an noch mehr Orten geschah. Aber ein solches Ausmaß an aggressiven, rechtsextremen bewaffneten Anti-Lockdown-Protesten, wie wir sie in den Wochen zuvor erlebt haben, ist momentan nirgendwo mehr zu finden. Die Rechten haben nicht annähernd die Unterstützung, wie die Menschen, die aktuell gegen Rassismus, Polizeigewalt und Trump demonstrieren. Sie hätten auf der Straße keine Chance. Jeglichen bewaffneten öffentlichen Protesten in den Stadtzentren würde jetzt zudem ein überwältigender Polizei- und Militärapparat gegenüberstehen. Das bedeutet aber nicht, dass es in den kommenden Monaten keine rechten Morde geben wird.
Verängstigt und gedemütigt forderte »Bunker Boy« Trump die Armee auf, die Proteste niederzuschlagen. Das trug jedoch nur zu deren Ausbreitung auf alle 50 Bundesstaaten bei.
Um das Kräfteverhältnis zu verstehen, muss man sich nur das Video der Proteste in Boise, Idaho anschauen. Dort sind es junge, überwiegend weiße Demonstrierende, weil Idaho überwiegend weiß ist, und eigentlich die Heimat der »Survival-Rechten«.
Es wird zunehmend deutlich, dass die Demonstrierenden gewinnen. Ein Anzeichen dafür ist, dass mittlerweile alle vier Polizisten, die am Mord an George Flyod beteiligt waren, angeklagt worden sind. Ein anderes Anzeichen ist, dass North Carolina sich geweigert hat, den republikanischen Kongress abzuhalten. Es ist unklar, ob irgendein anderer Staat verrückt genug sein wird, den Kongress bei sich stattfinden zu lassen.
Aber der entscheidende Wendepunkt ist, dass selbst das Pentagon Trump die Stirn geboten hat. Die Armee besteht zu 40 Prozent aus Schwarzen, Latinos und anderen Minderheiten. Wenn ihnen befohlen wird, Demonstrierende zu schlagen und zu erschießen, können die Generäle nicht mit Sicherheit wissen, was passieren würde. Die Soldaten könnten die Befehle ausführen und töten. Wenn sie dies täten, würde womöglich die größte Revolte seit 1865 ausbrechen. Die Soldaten könnten sich gegenseitig bekämpfen. Oder sie könnten sich mit den Protestierenden solidarisieren. Es gibt bereits Videos von einer Einheit der Nationalgarde in Tennessee, die ihre Schilde niederlegt, und von anderen, die mit den Demonstrierenden auf dem Boden knien. Jedes dieser Ergebnisse wäre eine Katastrophe für die Generäle.
Mitte der Woche hat der ehemalige Verteidigungsminister James N. Mattis den Präsidenten scharf kritisiert. Auch der letzte Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, also des Vereinigten Generalstabs des US-Militärs, meldete sich in der Zeitschrift »The Atlantic« zu Wort und schrieb, dass er nicht länger schweigen könne. Der derzeitige Vorsitzende der Generalstabschefs äußerte sich ebenfalls entschlossen und verkündete, das Militär werde nicht gegen das Volk eingesetzt werden. Jeder der Generalstabschefs von Heer, Marine, Luftwaffe und Marines hat Botschaften an seine Untergebenen geschickt, in denen sehr deutlich gemacht wurde, dass das Recht auf Versammlung und öffentlichen Protest für die Werte des amerikanischen Militärs von zentraler Bedeutung ist. Und auch der derzeitige Verteidigungsminister, Trumps Beauftragter Mark Esper, hielt eine Pressekonferenz ab, auf der er mit selbstbewusster und eindringlicher Stimme mitteilte, dass das Militär nicht zum Einsatz kommen werde. Die Presse meint, Trump sei wütend, aber er traue sich nicht, Esper jetzt zu entlassen.
Ungewisse Zukunft
Das Weiße Haus wird nun illegalerweise von Justizvollzugsbeamten aus den Bundesgefängnissen, Agenten des Zolls und der Grenzpolizei sowie Teilzeit-Soldaten der Utah-Nationalgarde geschützt, die aus fast 3.000 Meilen Entfernung nach Washington, D.C abkommandiert wurden. Keiner von ihnen trägt sein Rangabzeichen.
Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird. Aber diese Runde geht an uns, so dass es jeder auf der Welt sehen kann – und genau das tun sie. Und viele reagieren auch darauf. In zahlreichen Städten weltweit kam es in den letzten Tagen zu Black Lives Matter-Protesten. Und es stehen weitere Umwälzungen in den USA bevor. Die Zahl der Covid-Todesfälle geht mittlerweile wieder zurück, weil sie in New York, dem Zentrum der Epidemie, zurückgeht. Aber im Süden und im Mittleren Westen, wo die Abriegelungen aufgehoben wurden, wird sie steigen. Die Arbeitslosigkeit von nun bereits 40 Millionen Menschen wird wieder abnehmen, aber sie wird sehr hoch bleiben. In den letzten zwei Monaten hat es Hunderte von wilden Streiks gegeben. Sie scheinen aufgrund der Proteste verstummt zu sein, aber sie werden wieder aufflammen.
Eine Freundin, Krankenschwester in einem öffentlichen Krankenhaus in Chicago, in dem vorwiegend Menschen aus der Arbeiterklasse behandelt werden, berichtete am Montag, dass 60 Krankenpflegerinnen und -pfleger auf ihrer Station fehlen würden. Einige davon seien krank, aber viele würden auch nicht zur Arbeit kommen, weil sie aufgrund der Proteste nicht zum Krankenhaus durchkämen. Die Klinikleitung versprach ihnen Ermäßigungen für Uber-Fahrten, aber alle Ubers hatten bereits den Betrieb eingestellt.
Die Unfall- und Notaufnahme war immer noch voll mit Verletzten der Proteste vom Wochenende, vor allem Menschen mit Kopfverletzungen. Die Intensivstation und die anderen Stationen waren immer noch voll mit Covid-Patientinnen und Patienten. Das gesamte Personal war nervös. Ein Manager wies einen Arzt an, keine Atemschutzmaske zu tragen, und der Arzt begann ihn anzuschreien, dass all dies die Schuld von »Menschen wie Ihnen« sei. Die Pflegekräfte hatten so etwas noch nie zuvor erlebt. Sie hatten das starke Gefühl, dass bald etwas Großes passieren wird, etwas anderes als alles, was sie bislang gesehen haben. Sie wissen nicht, was es sein wird.
Der Artikel erschien zuerst auf Englisch bei »Public Reading Rooms«.
Übersetzung ins Deutsche von Martin Haller.
Foto: Anthony Crider
Schlagwörter: Rassismus, Trump, USA