In Israel plant Netanjahus neue Regierungskoalition die Annexion von Teilen der Westbank unterstützt durch die Trump-Administration. Bedeutet es das Ende der Zwei-Staaten-Lösung? Von Tsafrir Cohen
Für die Opposition in Israel ist das der absolute Super-GAU: Nach eineinhalb Jahren Dauerwahlkampf und drei Urnengängen, in denen sie lautstark Kritik am amtierenden Ministerpräsidenten in den Mittelpunkt stellte, ihn als Zerstörer von Rechtsstaat und Demokratie anprangerte und erfolgreich eine Mehrheit in der Knesset erringen konnte, ist es Benjamin Netanjahu letztlich doch gelungen, zentrale Akteure des Oppositionslagers für eine Regierungskoalition zu gewinnen.
Israel: Von Pöstchen-Geschacher und Annexionsgelüsten
Mit 73 von 120 Knesset-Abgeordneten weiß das nunmehr fünfte Kabinett Netanjahu eine bequeme Mehrheit hinter sich. Das zeigt: Jenseits des großen Wahldramas bestand und besteht in Israel zur Zeit ein breiter Konsens von Rechtsaußen bis in die bürgerliche und sozialdemokratische Mitte, wenn es sich um die gesamtpolitischen Herausforderungen des Landes handelt. Dies trifft auf die Fortführung einer im Grundsatz neoliberalen Wirtschaftspolitik zu und gilt unübersehbar in Fragen von Krieg und Frieden, insbesondere beim israelisch-palästinensischen Konflikt.
Israel und die Annexionsbestrebungen
Und eben hierzu stellt die Koalition jetzt entscheidende Weichen. Der Koalitionsvertrag sieht vor, schon in diesem Sommer ein Gesetz zur »Anwendung israelischer Souveränität« auf Teile der Westbank einzureichen. Dieses Gesetz baut offenbar auf dem sogenannten »Jahrhundertdeal« des US-Präsidenten Donald Trump auf. Dieser Deal sieht vor, dass Israel etwa 30 Prozent der Westbank annektiert. Damit wird eine schon heute bestehende Situation legalisiert und festgeschrieben, bei der die Palästinenserinnen und Palästinenser in mehrere voneinander geografisch getrennte, dichtbevölkerte Enklaven verdrängt werden (siehe Concept-Map). Dass die palästinensische Seite dieses »Homeland-System« rundweg ablehnt, stört weder die Regierung Trump noch den israelischen Mainstream im Geringsten.
Endgültige Absage der Zweistaatenlösung
Bislang vermieden es alle Netanjahu-Kabinette, klarzustellen, wie sie sich eine endgültige Lösung des Konflikts genau vorstellen. Denn unter dem Mantel der Uneindeutigkeit konnten sie Stück für Stück die Realitäten vor Ort nach Gutdünken gestalten, sprich sich immer weitere Flächen der besetzten Westbank aneignen, immer mehr eigene Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dort ansiedeln und die Infrastruktur zugunsten der Siedlerschaft ausbauen. Das war zwar eindeutig völkerrechtswidrig, führte aber zu keinerlei Konsequenzen. Der Wille der jetzigen Koalition, jetzt die Annexion zu konkretisieren, dadurch eine endgültige Territoriallösung einseitig festzulegen und damit einer konsensorientierten Zweistaatenlösung eine endgültige Absage zu erteilen, ist vor diesem Hintergrund ein sehr bedeutsamer Einschnitt. Es sind internationale und innenpolitische Entwicklungen, die ihn gerade jetzt ermöglichen.
Über Israel hinaus: Unterstützung für die harte Linie Netanjahus
Zum einen forcieren ausschlaggebende Teile der US-amerikanischen Regierung eine solche Annexion. Man munkelt gar, sie betreiben die Annexion stärker als ihre israelischen Kooperationspartner, damit Trump auf dem Weg zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst seiner evangelikalen und neokonservativen Wählerschaft einen außenpolitischen Erfolg vorweisen kann. Des Weiteren steht die EU lange nicht mehr geschlossen hinter der Zweistaatenlösung, und die Verhängung von Sanktionen, ähnlich denen, die gegen Russland aufgrund der Krim-Annexion verhängt wurden, wäre heute undenkbar. Die Entwicklungen im Ausland finden ihre innenpolitische Entsprechung: Im Jahr 2020 hat sich die gesamte israelische Politik soweit ethnonational eingeordnet, dass sich keine einzige nennenswerte israelisch-jüdische Gruppe mehr gegen eine Annexion stemmt. Die warnenden Stimmen der beiden noch lebenden Ex-Premiers des Landes, Barak und Olmert, gelten geradezu als randständige Positionen.
Das progressive Lager in Israel
Den einzigen Lichtblick stellt die Gemeinsame Liste dar. Dieser Zusammenschluss von vier Parteien, die die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel (etwa 20 Prozent der israelischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger) repräsentiert und sehr unterschiedliche politische Positionen – von sozialistischen über liberale bis zu islamisch-konservativen – versammelt, errang 15 Parlamentssitze. Unter ihren Abgeordneten gibt es Musliminnen, Christen, Drusen, Beduinen sowie einen jüdischen Sozialisten. Vor allem die sozialistische Demokratische Front für Frieden und Gleichheit, Chadasch/al-Dschabha, sorgt innerhalb des Bündnisses dafür, dass die Gemeinsame Liste ein Programm hat, das nicht nur die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel berücksichtigt, sondern eine progressive Vision für Israel insgesamt beinhaltet: ein Ende der Besatzung, mehr soziale Gerechtigkeit und eine Demokratie, die mehr ist als die Willensbekundung der Mehrheit. Damit konnte sie bei den letzten Wahlen die Zahl ihrer jüdischen Wählerinnen und Wähler weiter erhöhen: Die Schätzung liegt bei einigen Zehntausend jüdischen Israelis. Doch ihr Einfluss ist durch die Stärke des herrschenden Blocks begrenzt.
Was macht die Linke?
Angesichts des internationalen wie nationalen Koordinatenwechsels und der Schwäche der Opposition stehen die Zeichen auf Annexion. Diese könnte recht schnell angegangen werden: Da ein Wahlsieg Trumps alles andere als gewiss ist und Präsidentschaftskandidat Joe Biden bereits seine Ablehnung von Annexionen signalisiert hat, könnte der Druck steigen, noch vor den US-Wahlen im November dieses Jahres zur Umsetzung zu schreiten. Der eben begonnene Gerichtsprozess gegen Netanjahu könnte auch eine Rolle spielen: Eine Annexion könnte ihm in dieser Situation nutzen, um sich als Opfer linken Grolls zu inszenieren, und würde ihm auch, falls er dem Ende seiner Amtszeit entgegensehen sollte, einen gewichtigen Platz als »Retter von Großisrael« in den Geschichtsbüchern der Nation sichern. Die Linke weltweit hätte die Aufgabe, sich hiergegen zu stemmen. Ob sie es tun wird?
Über den Autor: Tsafrir Cohen leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Bei diesem Text handelt es sich um die leicht überarbeitete und gekürzte Fassung. Die ausführlichere Version dieses Artikels erschien zuerst auf der Homepage des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Schlagwörter: Israel, Palästina