Im Oktober 2019 erschütterte eine ungekannte Protestwelle Chile. Eine neue Verfassung soll nun das Erbe Pinochets endgültig beseitigen. Ein Interview mit Sam Flewett in Concón
Am Sonntag findet ein Referendum über eine neue Verfassung für Chile statt. Könnest Du bitte erläutern, worum es bei der Entscheidung gehen wird?
Der ursprüngliche Vorschlag der Regierung war, dass der bestehende Kongress eine neue Verfassung schreiben sollte, die dann mit dem Referendum ratifiziert werden sollte. Die Forderung der Demonstranten war hingegen eine verfassungsgebende Versammlung. Diese verfassungsgebende Versammlung sollte speziell zum Zweck der Ausarbeitung einer neuen Verfassung gewählt werden. Der erzielte Kompromiss bedeutet, dass wir jetzt zwei Fragen haben.
Und diese zwei Fragen sind…
Befürworten Sie die Idee einer neuen Verfassung, oder lehnen Sie sie ab? Und wollen Sie, dass ein zu hundert Prozent speziell gewähltes Gremium die neue Verfassung ausarbeitet, oder wollen Sie ein Gremium, das je zur Hälfte aus bestehenden Kongressabgeordneten und aus speziell gewählten Personen besteht?
Hast Du eine Ahnung, wie das Ergebnis aussehen wird?
Was die erste Frage betrifft, so deuten die Umfragen darauf hin, dass es etwa siebzig zu dreißig Prozent für eine neue Verfassung ausgehen wird. Tatsächlich ist die Unterstützung so groß, dass die Rechte fast gar nicht für ihre Seite kämpft.
Die Rechten gehen also davon aus, dass sie verloren haben?
Im Grunde genommen setzen sie sich nur für eine verfassungsgebende Versammlung im Verhältnis 50/50 im zweiten Teil des Referendums ein. In dieser Frage gibt es ein ziemliches Maß an Verwirrung. Die zu hundert Prozent gewählte verfassungsgebende Versammlung wird wahrscheinlich gewinnen, aber mit einem kleineren Vorsprung. Diese Verwirrung muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Chile bis vor dreißig Jahren praktisch ein Drittweltland war. Ein großer Teil der älteren Generation verfügt also nicht über eine höhere Schulbildung.
Konnte der Wahlkampf für eine zu hundert Prozent gewählte verfassungsgebende Versammlung diese Verwirrung nicht beseitigen?
Das ist Teil des Problems. Der Großteil des bisherigen Wahlkampfs hat sich auf die erste Frage konzentriert. Es ist einfacher, Propaganda um die erste Frage zu machen, ob man einer neuen Verfassung zustimmen oder sie ablehnen soll. Die meisten Menschen lehnen die bestehende Verfassung ab, weil sie grundsätzlich undemokratisch ist. Die Aufmärsche der Menschen, die sich für die bestehende Verfassung einsetzen, waren offen faschistisch, wobei einer der Führer derzeit im Gefängnis sitzt, nachdem er bei einem dieser Aufmärsche einen Demonstranten verprügelt hatte.
Hintergrund des Referendums ist die massive Protestbewegung des vergangenen Jahres. Kannst Du erläutern, wie diese Proteste zum Referendum geführt haben?
In der Woche vor dem 18. Oktober 2019 kam es in Santiago zu eskalierenden Studierendenprotesten im Zusammenhang mit den Plänen der Regierung, die U-Bahn-Tarife um 30 Pesos zu erhöhen, was etwa drei oder vier Cent entspricht. Das ist eine scheinbar unbedeutende Geldsumme, aber damals war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Menschen hatten einfach genug.
Proteste in Chile
Am Freitag, dem 18. reagierte der Staat mit massiver Repression. Am Samstagmorgen wachten wir auf, schalteten den Fernseher ein und sahen Bilder von Panzern und Armeefahrzeugen, die in Santiago einrollten. Zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur 1990 war in der Hauptstadt eine Ausgangssperre verhängt worden. Nichts davon stoppte die Proteste. Tatsächlich explodierten sie im ganzen Land. Die Demonstrationen erreichten ihren Höhepunkt am Freitag, dem 25. Oktober, als eine Million Menschen in Santiago demonstrierten, was etwa einem Fünftel oder Sechstel der Bevölkerung entspricht.
Damit war der Versuch der Regierung gescheitert, die Proteste mit Hilfe des Ausnahmezustands und der Repression zu unterdrücken.
Ja, danach gab es einige schwache Zugeständnisse seitens der Regierung, und der Ausnahmezustand und die Ausgangssperre wurden aufgehoben. Es gab keine so großen Proteste mehr wie am 25. Oktober. Es war fast ein Katz-und-Maus-Spiel. Die Regierung kündigte weitere schwache Zugeständnisse an, und es gab weitere Proteste und weitere Zugeständnisse, und nichts änderte sich wirklich. Dann kam der Generalstreik am 12. November.
Was war daran so bedeutsam?
In den ersten zwei Wochen waren die Aufrufe zu Generalstreiks nicht so effektiv, weil die Menschen aufgrund des Ausmaßes der Proteste und der Menge an Tränengas bereits nicht mehr in das Stadtzentrum kommen konnten. Es macht nicht viel Sinn, zu einem Generalstreik aufzurufen, wenn sich Soldaten auf den Straßen befinden. Die Menschen gingen sowieso nicht zur Arbeit. Es macht mehr Sinn, wenn man tatsächlich etwas stilllegt. Der Generalstreik am 12. November hatte dann eine sehr hohe Beteiligung. Ich erinnere mich, dass ich um sieben Uhr morgens im Bett lag und nur die Stille draußen bemerkte. Es war ruhiger als an einem normalen Sonntag, fast wie an Weihnachten. Und dann um neun Uhr begannen die Proteste. Die Demonstrationen waren sehr groß und es gab heftige Kämpfe mit der Polizei.
Wie hat die Regierung auf den Generalstreik reagiert?
Der Präsident wollte erneut den Ausnahmezustand ausrufen und das Militär wieder auf die Straße bringen. Die Militärs selbst sagten: Nein, wir sind nicht bereit, das zu tun. Dann spielte die Regierung den Ball an den Kongress weiter. Das politische System ist nicht wie in Deutschland, es ist ein sehr starkes Präsidialsystem. Der Kongress hat nicht annähernd genügend Autorität. Deshalb war es ein eher seltenes Ereignis, dass der Präsident den Kongress bat, zu übernehmen.
Die Rolle des Generalstreiks
Am darauf folgenden Donnerstag, dem 14. November, jährte sich auch noch zum ersten Mal die Erschießung von Camilo Catrillanca, einem Mapuche-Bauern, der von der Militärpolizei in seinem Lastwagen erschossen wurde. Es gab weitere Proteste wegen des Jahrestages dieser Schießerei. In dieser Nacht fanden Verhandlungen zwischen den verschiedenen Parteien im Kongress statt, während die Protestbewegung allmählich stärker wurde. Das Referendum ist ein Ergebnis dieser Verhandlungen.
Hat die Protestbewegung zu einer wesentlichen sozialen Verbesserung geführt?
In dieser Hinsicht ist nichts erreicht worden. Es wurden keine unmittelbaren wirtschaftlichen Veränderungen vorgenommen. Es gab eine kleine Steuerreform, aber nach den Protesten gab es keine substantiellen Reformen.
Es erscheint mir etwas seltsam, dass ein sozialer Protest dieses Ausmaßes in einer Debatte über eine neue Verfassung endet. Kannst Du das erläutern?
Die jetzige Verfassung war die Kopfgeburt von Jaime Guzmán. Er war im Grunde genommen der Haupttheoretiker des Pinochet-Regimes, und der Zweck dieser Verfassung bestand darin, die wirtschaftliche Basis unter einem System von Wahlen, die alle vier Jahre stattfinden, weiter bestehen zu lassen. Im Grunde gibt sie einem diktatorischen Regime einen demokratischen Deckmantel, was bedeutet, dass jeder, der versucht, etwas Wesentliches zu ändern, gegen die Verfassung verstößt und die Gerichte progressive Gesetze für verfassungswidrig erklären.
Die Verfassung von Pinochet
Wie funktioniert das?
Zum Beispiel ist das Recht der Eltern, die Bildung für ihre Kinder zu wählen, in der Verfassung verankert. So gehen zwei Drittel der Kinder in Privatschulen, von denen einige kostenlos sind, aber sie sind immer noch privat. Das Rentensystem durch ein ähnliches System zu ersetzen, wie es in Deutschland existiert, wo die heutige Generation vor Arbeiterklasse für die Renten ihrer Eltern aufkommt, würde für verfassungswidrig erklärt werden. Jeder Versuch einer echten Veränderung ist verfassungswidrig. Deshalb wird die Verfassung mehr oder weniger zu Recht als die Wurzel des Problems angesehen. Das liegt auch daran, dass sie von der Diktatur geschaffen wurde, also keine demokratische Legitimität besitzt. Sie enthält auch eine ganze Reihe von sozialkonservativen Klauseln, wie zum Beispiel, dass das Leben bei der Empfängnis beginne, so dass Abtreibung mehr oder weniger verboten ist.
Die gegenwärtige Verfassung ist also zutiefst unpopulär, aber die Protestbewegung war nicht direkt an den Verhandlungen über eine neue Verfassung beteiligt?
Richtig. Und die Zustimmung zum Kompromiss, der zum Referendum führte, löste eine Kontroverse auf der linken Seite aus. Persönlich glaube ich, dass der Kompromiss notwendig war. Im Grunde wegen der Geschichte der Gewalt, die der chilenische Staat nicht nur während der Diktatur, sondern über die Jahre hinweg gezeigt hat. Es gibt Grenzen, wie viel eine Protestbewegung gegen einen militarisierten Staat gewinnen kann. Die kritische Position zum Abkommen besagt, dass die Gefahr extremer staatlicher Gewalt überbewertet wurde. Das wissen wir nicht wirklich. Es stimmt aber, dass das Abkommen sehr schnell ausgearbeitet wurde und dass es keine Konsultationen zwischen den verhandelnden Parteien und den an den Protesten beteiligten sozialen Bewegungen gab.
Es klingt, als hätten die politischen Parteien in der Bewegung keine herausragende Rolle gespielt.
Ja, das liegt zum Teil an der gleichen Verfassung. Der Nutzen politischer Parteien erscheint den Menschen zweitrangig, weil ihnen die aktuelle Verfassung nur die Rolle von schmückendem Beiwerk zuweist. Ich sollte der Vollständigkeit halber erwähnen, dass sich die Kommunistische Partei aus den Verhandlungen zurückgezogen hat, bevor das Abkommen unterzeichnet wurde.
War der Präsident in der Lage, sich von der Bewegung zu erholen?
Nein. Seine Popularität ist nach wie vor sehr gering, und seine effektive Macht ist fast nicht existent. Er ist ein lahme Ente, wie man in den USA sagt.
Schwache Parteien
Klingt nach einem politischen Vakuum.
Ja und nein. Organisationen wie die Kampagnengruppe gegen das Rentensystem AFP und bestimmte Berufsverbände wie jüngst die Ärzteorganisation und der Lehrerverband haben bei den Protesten eine zentrale Rolle gespielt. Aber dennoch fehlte es der Bewegung an sich an Organisation und Führung, um sie voranzubringen.
Welche Auswirkungen hat die Covid-19-Pandemie gehabt?
Sie begann erst richtig, als die Reichen aus ihren Sommerferien zurückkamen, einige von ihnen mit Covid-19 infiziert. Sie begann sich schnell in den reicheren Teilen Santiagos auszubreiten. Diese Orte wurden Ende März unter Quarantäne gestellt. Die Quarantäne wurde etwa drei Wochen später wieder aufgehoben. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Pandemie bereits begonnen, sich in den ärmeren, überbevölkerten Teilen Santiagos, dem größten Teil der Stadt, auszubreiten. Mitte Mai war die Pandemie völlig außer Kontrolle geraten. Seitdem sind die Zahlen zurückgegangen. Wenn die Häuser der Menschen überfüllt sind, funktionieren Quarantänemaßnahmen, wie sie in Europa üblich sind, nicht so gut. Einer kommt krank von der Arbeit nach Hause, die ganze Familie wird krank. Und außerdem gibt es viele Menschen, die von der Hand in den Mund leben, so dass sie nicht zu Hause bleiben können. Chile scheint sich aber besser gehalten zu haben als Italien und Spanien.
Covid-19 in Chile
Trotz der Pandemie gibt es wieder Proteste. Ich habe kürzlich Bilder von einer Aktion vor einem Krankenhaus in Santiago gesehen.
Ja, das sind die Schwesternhelferinnen, die für ihre offizielle Anerkennung demonstrieren. Die Polizei kam mit Tränengas und Wasserwerfern. Zur gleichen Zeit gab es eine faschistische Demonstration, die mit einer Polizeieskorte marschierte.
Ist es unter dem Deckmantel von Piñera leichter, Demonstrationen mit Polizeigewalt einzudämmen?
In der letzten Zeit gab es nicht so viele Demonstrationen. Und angesichts der Tatsache, dass Polizeigewalt ein Punkt war, an dem viele Menschen im vergangenen Jahr angegriffen haben, kann ich mir vorstellen, dass es nicht sehr populär wäre, wenn die Polizei einen Protest auflösen würde.
Wie sieht der weitere Zeitplan für den Verfassungsprozess aus?
Nach dem Referendum gibt es im April nächsten Jahres die Wahl der Delegierten, und dann haben sie ein Jahr Zeit, eine neue Verfassung zu schreiben, die dann noch ratifiziert werden muss. Wir sprechen also ungefähr von einem Prozess von zwei Jahren. Das ist eine massive Verzögerung für Menschen, die protestieren, weil ihre sozialen Bedürfnisse nicht erfüllt wurden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Jan Maas.
Foto: Manuel José Pincheira S.
Schlagwörter: Bewegung, Chile, Covid-19, Südamerika