Die kapitalistische Wirtschaft ist in der Krise und damit auch die gesetzliche Rentenversicherung. Wer für das Alter sparen möchte, erhält keine Zinsen mehr. Jetzt heißt es: Dann kauft doch Aktien! Tatsächlich gibt es einen Aktien-Hype, doch was ist daran dran? Volkswirt Thomas Walter hat näher hingeschaut und kommt zu eher ernüchternden Ergebnissen
Spätestens seit der letzten großen Finanzkrise, die 2007 in den USA ihren Anfang nahm, herrscht auf den Sparkonten Ebbe. Sparer und Sparerinnen bekommen keine Zinsen mehr. Sie müssen sogar den Banken etwas dafür bezahlen, dass diese auf ihr Geld aufpassen.
Rentenabbau
Auch Arbeiterinnen und Arbeiter sind betroffen, etwa bei der Altersvorsorge. Obwohl schon vor der Finanzkrise klar war, dass Finanzmärkte hoch riskant sind, war noch 2002 unter dem damaligen Arbeitsminister Walter Riester (SPD) die Riesterrente eingeführt worden. Die Riesterrente soll über die Finanzmärkte finanziert werden.
Als Begründung musste unter Riester ausgerechnet der Rückgang der Lohnquote, also der sinkende Anteil der Löhne am Nationaleinkommen, herhalten. Wenn die Löhne und damit die Sozialbeiträge aus diesen Löhnen mit der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mithalten, dann müssen eben die Arbeitnehmer sich als kleine Finanzinvestoren betätigen. Sie sollen ihre Ersparnisse auf dem Finanzmarkt anlegen.
Zwar fördert der Staat die Riesterrente mit Zuschüssen, doch diese gehen für die hohen Gebühren für Banken und Versicherungen drauf, die die neuen Riestersparpläne anbieten. Dabei haben die Banken und Versicherungen selbst keine Ahnung, wo sie das Geld gewinnbringend anlegen sollen. Bei den Lebensversicherungen ist der Garantiezins (»Höchstrechnungszins«) seit 1995 laufend gesunken von 4,0 Prozent auf inzwischen unter 0,9 Prozent.
Gleichzeitig wurde die bestehende gesetzliche Rentenversicherung geschrumpft. Diese finanziert sich über eine Umlage durch Beiträge auf die Bruttolöhne und Gehälter der Arbeiter und Angestellten. Formal wird dies hälftig als Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag ausgewiesen. Diese Beiträge sind den Arbeitgebern ein Dorn im Auge, weil sie Teil der Arbeitseinkommen und damit der Lohnkosten sind. Geringere gesetzliche Renten heißt niedrigere Beiträge auf die Löhne, also niedrigere Arbeitseinkommen. Die Kürzung der gesetzlichen Renten könnten die Arbeiter und Arbeiterinnen ja jetzt über die Riesterrente ausgleichen, hieß es.
Im Ergebnis wurde das durchschnittliche Nettorentenniveau laut Wikipedia von 70 Prozent auf 67 Prozent abgesenkt. Das Nettorentenniveau ist dabei definiert als Bruttorente nach Abzug von Steuern und Sozialbeiträgen im Verhältnis zum Nettoarbeitsentgelt eines Durchschnittsverdieners bzw. einer Durchschnittsverdienerin. Die inzwischen neu eingeführte Maßgröße »Sicherungsniveau vor Steuern« sank laut Rentenversicherungsbericht 2020 der Bundesregierung von rund 51 Prozent 2008 auf 48 Prozent 2020. Das Arbeitsministerium definiert dabei dieses »Sicherungsniveau vor Steuern«, vereinfacht, als Verhältnis zwischen »Standardrente« (für Leute, die ihr Leben lang voll eingezahlt haben) und Durchschnittsentgelt der Arbeitnehmer.
Altersarmut
Die Folgen dieses Sparkurses ließen nicht auf sich warten. »Problematisch«, so die Bundeszentrale für politische Bildung, »ist allerdings die Entwicklung der Armutsgefährdung im Zeitraum 2006 bis 2019: In Westdeutschland erhöhte sich die Armutsgefährdungsquote in dieser Zeit bei den 65-jährigen und älteren Männern um 4,5 Prozentpunkte (von 9,2 Prozent auf 13,7 Prozent) und bei den Frauen um 5,8 Prozentpunkte (von 12,4 Prozent auf 18,2 Prozent). In Ostdeutschland stieg die Armutsgefährdungsquote der 65-jährigen und älteren Männer im selben Zeitraum um 7,0 Prozentpunkte (von 6,0 Prozent auf 13,0 Prozent) und die der 65-jährigen und älteren Frauen um 4,5 Prozentpunkte (von 9,9 Prozent auf 14,4 Prozent).« Der Anteil der Personen, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, ist zwischen 2006 und 2018 bei den Männern von 1,8 Prozent auf 3,1 Prozent und bei den Frauen von 2,6 Prozent auf 3,3 Prozent angestiegen.
Die Finanzindustrie will diese Notlage ausnutzen, um Aktien loszuwerden. Dabei sind Aktien hochriskant. Wer Jahresende 2000 für etwa 18 Euro eine Aktie von Thyssen-Krupp, einem sogenannten »Standardwert«, kaufte, konnte diese zwar einige Jahre später für rund 45 Euro verkaufen. Am Jahresende 2020 war diese Aktie aber nur noch 8 Euro wert. Im gleichen Zeitraum sank der Wert der Aktie der Deutschen Bank von 70 Euro auf 9 Euro. Zwischendurch war sie mal knapp 90 Euro wert gewesen.
Immer weniger Geld mit Aktien
Das Handelsblatt fordert auf, stärker in risikoreichere Aktien zu investieren. Das würde mehr Rendite bringen. So unterscheidet die Schweizer Firma Stryber zwischen innovativen Aktiengesellschaften und Traditionalisten. Die Innovativen betreiben nicht nur ihre traditionellen Geschäfte, sondern wagen sich auch in neue risikoreiche Geschäftsfelder vor. Etwa ein Drittel aller Aktiengesellschaften in Europa und Nordamerika waren in diesem Sinne innovativ, zwei Drittel nur traditionell tätig. Die Aktien der Innovativen wiesen im Zeitraum 2010 bis 2013 jahresdurchschnittliche Aktienrenditen zwischen 10 Prozent und 12 Prozent auf. Die Aktien der Traditionalisten hatten dagegen nur eine Aktienrendite von 10 Prozent. Für den Zeitraum 2013 bis 2019 errechnen sich bei den Innovativen Renditen noch zwischen 8 Prozent und 11 Prozent, während die Rendite bei den Traditionalisten auf 6 Prozent absank. Im Klartext: der Renditentrend, ob innovativ oder traditionalistisch, geht abwärts. Das lässt für Aktien in der weiteren Zukunft nichts Gutes erwarten.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) will mit ihrer ersten Ausgabe im neuen Jahr ebenfalls Zuversicht verbreiten. Für 2020 gibt sie allerdings für Firmen des deutschen Aktienindex DAX eine durchschnittliche Aktienrendite von nur 3,5 Prozent an. Das stimmt nicht sehr euphorisch, denn Gebühren für Aktiengeschäfte fallen auch noch an.
Zur Rendite von Aktien
Für Aktien errechnet sich die Rendite über die jährliche Wertveränderung in Prozent, die auch negativ sein kann, plus den in diesem Jahr ausgezahlten Dividenden (in Prozent zum Ausgangswert der Aktie). Angenommen, eine Aktie steigt von 1000 Euro Ende 2019 auf 1050 Euro Ende 2020, und es wurden 2020 20 Euro auf diese Aktie Dividende gezahlt, dann beträgt die Aktienrendite für das Jahr 2020 7 Prozent (50+20=70 Euro im Verhältnis zu den 1000 Euro Ausgangwert Ende 2019). Sinkt hingegen die Aktie von 1000 Euro Ende 2019 auf 990 Euro Ende 2020, und es wurden 2020 20 Euro auf diese Aktie Dividende gezahlt, dann beträgt die Aktienrendite für das Jahr 2020 1 Prozent (-10+20=10 Euro im Verhältnis zu den 1000 Euro Ausgangwert Ende 2019).
Die FAZ wertet nun die Daten des Deutschen Aktieninstituts (DAI), eine Aktien-Lobby, aus. Das DAI über sich selbst: »Das Bekenntnis zur Aktie eint unsere Mitglieder ebenso wie ihr Interesse an einem leistungsfähigen Kapitalmarkt, der die Bedürfnisse von Unternehmen und Anlegern nachhaltig erfüllt.«
Die jährlichen Aktienrenditen werden von 1949 bis 2020 angegeben. Es fängt an mit +152 Prozent 1949, genauer vom Ende 1948 bis Ende 1949, und endet für 2020 (Ende 2020 zu Ende 2019) mit gerundet 4 Prozent. Die hohen Renditen Ende 40er/Anfang 50er Jahre hängen noch mit dem Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg zusammen. Für die Renditen lassen sich zwei Trends unterscheiden, von 1948 bis 1981 und von 1982 bis 2020 (siehe Abbildung).
In den 1950er Jahren konnten mit Aktien noch Renditen (vor Abzug von Gebühren) von im Durchschnitt 40 Prozent erzielt werden, allerdings mit starken Schwankungen von Jahr zu Jahr. Anfang der 80er Jahre lag der Trendwert schon im Minus.
Mit dem Neoliberalismus ab Anfang der 80er Jahre verschob sich das Trendniveau noch einmal nach oben, blieb aber abwärts gerichtet. Für den Trendwert 2020 errechnen sich 4,6 Prozent. Legt man den Langfristtrend 1948 bis 2020 zugrunde, ergibt sich ein Trendwert von nur 1,7 Prozent. Das ist so weit von der Nulllinie auch nicht mehr entfernt.
Profitraten sinken
Da die Aktienrenditen eine Art Profitrate sind, bestätigen diese Ergebnisse die sinkende Tendenz, die Marx mit seinem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate erklärt hat. Jedenfalls widersprechen sie dieser Tendenz nicht. Sie stellen ebenso Erzählungen von Ökonomen in Frage, dass sich die Finanzmärkte, insbesondere Aktien, von der Realwirtschaft ablösen konnten. Auch haben die Zentralbanken mit ihren Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft die Aktientrends nicht umkehren können. Die Profitraten gingen allgemein zurück, und die Entwicklung der Aktien spiegelt das wider.
Angesichts dieser ernüchternden Ergebnisse stellt sich die Frage, wie der Aktien-Hype überhaupt statistisch begründet wird. Der deutsche Aktienindex DAX erklimmt tatsächlich, wie seine ausländischen Gegenstücke, immer wieder neue Höhen. Jahr für Jahr meldet die FAZ: »Deutsche so reich wie nie«. Freilich sind es nicht »die Deutschen«, die diese Reichtümer akkumulieren, sondern eine Minderheit von Kapitalisten.
Wer besitzt die Aktien?
Während in den 90er Jahren noch 10 Prozent der Aktien in ausländischem Eigentum waren, ist dieser Anteil im Zuge der Globalisierung jetzt auf rund 25 Prozent angestiegen. Betrachtet man nur die inländischen Sektoren, so entfällt die Hälfte der Aktien in inländischem Besitz auf die Unternehmen selbst. Diese halten Aktien anderer Unternehmen, um so Risiken zu streuen. Laufen die eigenen Geschäfte nicht so gut, erhält man immer noch Dividenden anderer Unternehmen. Außerdem ist mit dem Aktienbesitz auch Einfluss verbunden. Hüter des Wettbewerbs sehen dies nicht so gern. Es kommt für die Unternehmen weniger darauf an, im Wettbewerb auf dem Markt zu bestehen, als vielmehr darauf, finanziell gut vernetzt zu sein.
Die privaten Haushalte besitzen von den Aktien im inländischen Besitz 16 Prozent, der Staat 3 Prozent. Diese Anteile sind seit Jahrzehnten recht stabil.
Nach dem 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2017 verfügte 2013 die ärmere Hälfte aller Haushalte nur über rund 1 Prozent des gesamten Vermögens, während die reichsten 10 Prozent mehr als die Hälfte – Tendenz steigend – besitzen. Ein Teil dieser Reichtümer ist in Aktien angelegt. Diesem Reichtum liegt reales Kapital zugrunde, das Anlagevermögen der Wirtschaft, das im Wesentlichen aus Maschinen und Wirtschaftsgebäuden besteht. Der Kapitalismus ist noch nicht in einer so großen Krise, dass dieses Anlagevermögen schrumpft, dass Kapital nicht mehr akkumuliert, aufgehäuft wird. Vielmehr wächst das Anlagevermögen der Unternehmen von Jahr zu Jahr durch Investitionen, wenn auch im Trend immer schwächer und mit Schwankungen. Die FAZ könnte also genauso jährlich titeln »Das Bruttoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen [ein statistischer Begriff für den Wert des Anlagevermögens] so hoch wie nie!«. Das ist freilich banal.
Die Kapitalisten besitzen dieses Anlagevermögen einmal unmittelbar in Form ihres Eigenkapitals, aber auch indem sie diese Anlagen über Kredite oder Verkauf von Aktien finanziert haben. Wenn also das Anlagevermögen laufend zunimmt, ist es nicht verwunderlich, dass auch die Finanzierung (Anleihen und Aktien) im Volumen ebenfalls laufend zunimmt. Allerdings geschieht diese Zunahme zu immer niedrigerer Rate, was die Stagnationskrise des Kapitalismus widerspiegelt.
Aktien im Vergleich zur realen Wirtschaft
Für die deutsche Wirtschaft insgesamt stieg das Anlagevermögen (Maschinen, Gebäude) im Wert von 14,8 Billionen Euro 2010 auf 20,8 Billionen Euro 2019. Davon entfallen im Jahr 2010 7,8 Billionen Euro und im Jahr 2019 10,3 Billionen Euro auf Wohngebäude. Das Produzierende Gewerbe, also die Industrie, hatte 2010 ein Anlagevermögen von 2,4 Billionen Euro und 2019 eines von 2,9 Billionen Euro.
Im Unterschied zum Anlagevermögen unterliegen die Aktien starken Schwankungen. Der Wert aller umlaufenden Aktien betrug 1991 knapp 10 Prozent gemessen am Wert des Anlagevermögens (700 Milliarden Euro zu 7900 Milliarden Euro), 2000 aber im Zuge der Dotcom-Blase plötzlich fast 30 Prozent (3,1 Billionen Euro zu 10,9 Billionen Euro). 2003 waren es wieder 10 Prozent im Verhältnis zum Wert des Anlagevermögens (1,3 Billionen Euro zu 11,6 Billionen Euro), 2007 20 Prozent (2,6 Billionen Euro zu 12,7 Billionen Euro), 2009 nach der Finanzkrise wieder 10 Prozent (5,3 Billionen Euro zu 14,2 Billionen Euro) und zuletzt 2019 wieder 20 Prozent (4,2 Billionen Euro zu 20,8 Billionen Euro). Für Aktien gilt das englische Sprichwort »what goes up must come down« und umgekehrt.
Fazit
Aktien bieten keine Lösung für die Finanzierung der Altersversorgung. Aktien unterliegen den gleichen Gesetzen wie die Gesamtwirtschaft, also auch dem tendenziellen Fall der Profitrate. Ziel linker Politik (innerhalb des Kapitalismus) sollte eine stabile Finanzierung der Alterssicherung sein. Die Alterssicherung dem Auf und Ab von Aktienmärkten anzuvertrauen ist gefährlich, zumal die Renditen der Aktien ebenfalls nicht berauschend sind und abwärts tendieren. Ökonomen sollten die Eigendynamik der Finanzmärkte nicht überschätzen. Finanzmärkte können nicht aus dem Nichts Profite erzeugen. Für das Kapital gibt es wohl Steueroasen, aber keine Profitoasen.
Quelle Titelbild: Wikipedia, user:klip game
Schlagwörter: Finanzkrise, Finanzsektor, Sozialabbau