Auf ihrem Bundesparteitag in Dresden streitet die AfD über das Programm für die Bundestagswahl. Die Auseinandersetzung zeigt exemplarisch die Brüche und Widersprüche in der Partei, aber auch den politischen Kitt. Von Volkhard Mosler
Der Entwurf für das Bundestagswahlprogramm der AfD, das dieses Wochenende auf dem Parteitag in Dresden verabschiedet werden soll, trägt eindeutig die Handschrift von Bundessprecher Jörg Meuthen und seinem national-konservativem Lager. Dies drückt sich zum einen durch Streichung oder Abmilderung mehrerer verfassungsfeindlich-verdächtiger Formulierungen aus, wie sie in den Wahlprogrammen von 2017 zur Bundestagswahl und 2018 zur Europawahl noch vorkamen. Betroffen sind davon die These einer angeblich geplanten »Umvolkung«, einige extrem verallgemeinernde Aussagen über den Islam, die der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG eindeutig zuwiderlaufen, sowie Forderungen, die auf eine offene Ungleichbehandlung von Migrantinnen und Migranten und deutschen Staatsbürgern hinauslaufen, etwa durch Einführung eines »biometirischen Gesundheitspasses« für alle Migranten. Zum anderen ist die Handschrift des Meuthen-Lagers erkennbar in der weitgehenden Auslassung von sozialpolitischen Forderungen für Lohnabhängige einerseits und mittelstandsorientierte Forderungen zur Familien-, Steuer- und Finanzpolitik andererseits, wie sie der neofaschistische Flügel der AfD um Björn Höcke, Co-Bundessprecher Tino Chrupalla und den Fraktionsvorsitzenden im Bundestag Alexander Gauland vertritt.
Neoliberale Sozial- und Gesundheitspolitik
In wichtigen Themenbereichen wie Wohnen und Mieten, Gesundheit, Arbeit und Soziales setzt der Programmentwurf weitgehend auf neoliberale Konzepte und es ist kein Zufall, dass die Kritik daran vor allem aus den Ostverbänden kommt. Der vorliegende Entwurf enthält eine Reihe von offenen und verstecken Angriffen auf den Sozialstaat: So sollen etwa kinderlose Versicherte aus der Altenpflege fallen und für ihre Pflege selbst aufkommen, auch wenn sie zuvor lebenslang Beiträge in die Pflegekasse eingezahlt haben. Der Leitantrag spricht sich auch eindeutig gegen Mietendeckel und Mietpreisbremse sowie gegen sozialen Wohnungsbau aus und fordert stattdessen – als Subvention für Immobilienbesitzer – ein höheres Wohngeld.
»Mit Blick auf die Trägervielfalt und die Zurverfügungstellung leistungsfähiger Krankenhausstrukturen« soll laut Entwurf »eine Begrenzung privater Träger im Krankenausbereich bei max. 60 %« gelten. Da zur Zeit der Anteil der privaten Träger bei 37 Prozent liegt, könnten hiernach noch mehr als 300 Krankenhäuser privatisiert werden, bis die im Entwurf geforderte Grenze einer »leistungsfähigen Krankenhausstruktur« erreicht wäre. Forderungen zur Reform von Arbeitslosengeld I und ALG II (Hartz IV), wie sie zumindest in Ansätzen noch im Wahlprogramm 2017 zu finden waren, wurden im vorliegenden Entwurf ersatzlos gestrichen.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es hier eine laute Kritik des »Flügel«-Lagers am Entwurf gibt. In einem Änderungsantrag wird die Einführung eines gesonderten Abschnitts »Arbeits- und Sozialpolitik« gefordert, in dem es um Themen wie den gesetzlichen Mindestlohn und die Abschaffung von Hartz IV in der heute gültigen Form geht. Der Selbstbehalt bei ALG II soll sanktionsfrei erhöht werden, Sanktionen beim Bezug von ALG I sollen abgeschafft werden. Hier wird sich auch für eine Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus, mehr Arbeitsplätze mit fairer Entlohnung für schwerbehinderte Menschen, die Abschaffung von Leiharbeit und andere sozialpolitische Forderungen ausgesprochen.
Der Antrag stammt von Mitgliedern des »Arbeitskreises Arbeit und Soziales der AfD Bundestagsfraktion«. Interessant ist die Begründung, weil sie fast wortgleich Formulierungen verwendet, wie sie im Entwurf in der Kritik des Sozialstaates verwendet werden. Als Volkspartei müsse die AfD »Lösungen für die wichtigsten Problemlagen im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik anbieten« können. Federführend im Ausschuss ist der Bundestagsabgeordnete Jürgen Pohl, ein enger politischer Weggefährte Höckes. Hier liegt die wohl wichtigste programmatische Differenz zwischen Nationalkonservativen und Faschisten in der AfD. Der Faschismus ist darauf angewiesen, Teile der untersten Bevölkerungsschichten für sich zu gewinnen, weil er nur so eine genügend große Masse für seine Stoßtrupps gewinnen kann, die eine Machtergreifung wie 1933 ermöglichen. Mit Rassismus und völkischem Nationalismus als Droge allein wird das nicht gelingen, dazu braucht es soziale Versprechungen als Leimrute.
AfD: Zurück zu Volk und Vaterland
Die zentrale Aussage des vorliegenden Entwurfs des Bundesvorstands ist die gleiche wie schon bei der Europawahl 2018 und der Bundestagswahl 2017: Zurück zu Volk und Vaterland. Deutschland habe keine Zukunft und gehe unter, wenn es nicht gelänge, einen ethnisch-einheitlichen Volksstaat wiederherzustellen. Alle anderen Programmpunkte sind dieser völkisch-nationalistischen und zugleich rassistischen Grundaussage untergeordnet. Es ist der Kitt, der die Partei zusammenhält und in dieser programmatischen Grundausrichtung der Partei gibt es auch keine wesentlichen Differenzen zwischen den beiden Lagern.
Dieses Hauptziel will die AfD mit zwei unterschiedlichen aber sich ergänzenden und einander bedingenden Mitteln erreichen: Zum einen sollen aus ihrer Sicht nicht integrierbare Bevölkerungsteile ausgewiesen werden (Abschnitt »Migration, Asyl und Integration: Human handeln – Deutschland schützen«), darunter Muslime, die sich »nicht integrieren« wollen, straffällige »Asylanten« und generell alle Ausländer ohne festen Aufenthaltsstatus. In ihrem Wahlprogramm zur EU-Wahl hieß es dazu noch: »Nicht ›Resettlement‹, also Umsiedlungsprogramme nach Europa, sind das Gebot der Stunde, sondern das Gegenteil: In Deutschland und Europa müssen Remigrations-Programme größtmöglichen Umfangs aufgelegt werden.« Die abgespeckte Version dieser Forderung im Entwurf für das Bundestagswahlprogramm 2021 sieht »eine nationale und eine supranationale Remigrationsagenda nach dem Grundsatz ›Hilfe vor Ort‹« vor. Die wichtigste Waffe hierzu verbirgt sich hinter dem Deckmantel der »Bekämpfung der Ausländerkriminalität«: die Ausweisung von Asylsuchenden, aber auch von Menschen mit anerkanntem Asylstatus und von Ausländern generell »schon bei geringfügiger Kriminalität« sowie von »Gefährdern« und »Angehörigen krimineller Clans«. Ladendiebstahl, ÖPNV-Nutzung ohne Fahrschein oder Vergehen gegen das Aufenthaltsbestimmungsrecht wären demnach mit der Ausweisung zu sanktionieren.
Das zweite Mittel zur Erreichung ihres Hauptziels sieht die AfD in der Bekämpfung der »demografischen Katastrophe«. Im Abschnitt »Familienpolitik« heißt es dazu: »Wir wollen eine kinderfreundliche Gesellschaft als Staatsziel ins Grundgesetz aufnehmen.« Dass dies nur für nach Definition der AfD ethnisch deutsche Kinder gilt, ergibt sich aus ihrer Forderung nach Wiedereinführung des Abstammungsprinzips anstelle des Geburtsortsprinzips als Voraussetzung für die »Verleihung« der deutschen Staatsangehörigkeit.
Deutsche Mehrkindfamilien
Der Abschnitt »Familienpolitik« bildet folgerichtig einen Kern des AfD-Programms. Er ist über weite Teile neu formuliert und enthält gleich mehrere politische und soziale Anreize sowie abschreckende Maßnahmen zum Erhalt der »Familien der mittleren Einkommensschicht«. Das geht auch aus der Hauptforderung zur AfD-Familienpolitik hervor: der Einführung einer »Wurfprämie« pro Kind in Höhe von 20.000 €, abzurechnen über die nach Geburt eines Kindes nicht mehr zu entrichtenden Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, die bis zum Erreichen dieser Summe vom Staat übernommen werden sollen. Alleinerziehende und Unverheiratete gingen nach dem vorliegenden Modell leer aus. Unter der Bedingung, dass ein Elternteil für drei Jahre nicht berufstätig ist (welcher Elternteil ist hier wohl gemeint?), erhöht sich das monatliche Nettoeinkommen um den sonst zu zahlenden Beitrag zur Rentenversicherung. Bei einem Familieneinkommen von monatlich 8000 Euro wäre der Betrag von 20.000 Euro schon nach gut zwei Jahren erreicht, mit 4000 Euro nach gut 5 Jahren und mit 2000 Euro erst nach knapp 9 Jahren.
Schuld daran, dass »unser Volk schrumpft« sei wiederum zum einen der Sozialstaat und zum anderen der Feminismus. Es lohnt sich, auf beide Punkte näher einzugehen. So steht im Leitantrag: »Die Wahrnehmung des Staates als Helfer in allen Lebenslagen hat die Vorstellung von der eigenen Familie auch als generationsübergreifende Wirtschafts- und Versorgungsgemeinschaft ersetzt.« Dieser Satz mag auch erklären, warum der Entwurf fast keine Forderungen zur Arbeits- und Sozialpolitik enthält. Denn staatliche Sozialpolitik als »Hilfe in allen Lebenslagen« ist demnach eine der beiden zentralen Ursachen des drohenden Untergangs des deutschen Volkes, weil er die Familie als soziale Basis und »Keimzelle« der Gesellschaft unterhöhle und letztlich infrage stelle.
Zum zweiten Punkt ist im Leitantrag zu lesen: »Der Gedanke einer vorrangigen Selbstverwirklichung hat dazu geführt, zugunsten von Einkommen und Karriere Kinderwünsche zurückzustellen oder gänzlich aus der eigenen Lebensplanung zu verdrängen. Eltern, die für ihre Familienarbeit ganz oder teilweise zu Hause bleiben (erneut: welcher Elternteil ist hier wohl gemeint?), werden in unserer Gesellschaft abgewertet.« Um dem Vorwurf des Sexismus vorzubeugen, heißt es gleich danach: »Die grundgesetzlich garantierte Gleichberechtigung von Mann und Frau hat mit der vom Parteienkartell propagierten Gleichstellung und Gleichmacherei nichts zu tun.«
Streit um Frauenrechte in der AfD
Zum Kampf gegen »die demografische Katstrophe« gehören darüber hinaus auch sanktionierende Forderungen wie die nach »Einstellung aller Fördermittel, die der Gender-Ideologie dienen«, aber auch die Forderung nach Wiedereinführung des Schuldprinzips im Scheidungsrecht von vor 1977 und das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen bei sozialer Indikation. Hier geht der Entwurf mit seinen Angriffen auf mühsam erkämpfte Frauenrechte weiter als frühere AfD-Programme. Die AfD spricht sich darüber hinaus gegen die Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz und gegen Inklusion von Kindern mit Behinderungen in den Schulunterricht aus. All diese Forderungen und Sanktionen dienen dem einzigen Ziel der Erzeugung eines starken, »gesunden« und ethnisch gesäuberten deutschen Volkskörpers. Soweit hier soziale Forderungen erhoben werden, dienen sie einer reaktionären Sache.
Doch in der Programmdebatte der AfD werden auch hier durchaus auch Risse deutlich: So kritisiert der Kreisvorstand der Dresdener AfD in einem Änderungsantrag, dass im Entwurf des Leitantrags Schwangerschaftsabbrüche als »Vergehen« bezeichnet werden und spricht sich gegen ein pauschales Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Dieser Antrag ist ein Hinweis darauf, dass das ohnehin sehr eingeschränkte deutsche Abtreibungsrecht ein wichtiger Konfliktpunkt innerhalb der AfD werden könnte. Die Tatsache, dass ausgerechnet der Kreisverband Dresden hier einen Dissens anmeldet, mag ein Hinweis darauf sein, wie verwundbar die AfD gerade beim Thema Frauenrechte und Frauengleichstellung ist. In einem weiteren Antrag zum Abschnitt Familienpolitik findet sich der Hinweis, dass Frauen »immerhin die Hälfte der Wählerschaft« stellen.
AfD-Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl
In Dresden werden die Delegierten nun doch nicht die Frage der Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl entscheiden. Die Parteibasis hatte in einer Umfrage, an der sich ein Viertel der Mitglieder beteiligte, mit großer Mehrheit dafür gestimmt, das selbst machen zu wollen. Die Umfrage war auf Initiative von Jörg Meuthen im Bundesvorstand der AfD beschlossen worden. Das Kalkül hinter diesem Manöver Meuthens war es, zu verhindern, dass Tino Chrupalla in Dresden zum Bundestagsspitzenkandidaten gewählt wird oder es zu einem Spitzenduo aus Chrupalla und der Fraktionsvorsitzenden im Bundestag Alice Weidel kommt. Obwohl Weidel nicht Teil des Höcke-Flügels ist, besteht im parteiinternen Machtkampf seit längerem ein taktisches Bündnis zwischen ihr und den Neofaschisten in der AfD. Nun erklärte Weidel nicht erneut als Spitzenkandidatin antreten zu wollen.
Ein Antrag zur Änderung der Tagesordnung, der von sieben Landesverbänden – darunter alle Ost-Verbände – gestellt wurde, in dem die Wahl der Spitzenkandidatur in Dresden gefordert wurde, hatte keinen Erfolg. Nun läuft es wohl auf einen Mitgliederentscheid hinaus. Dabei könnte Co-Bundessprecher Chrupalla entweder allein antreten oder ihm wird mit Joana Cotar aus Hessen eine bislang weitgehend unbekannte Frau aus dem Westen zur Seite gestellt. Die Bundestagsabgeordnete wurde im November mit den Stimmen des Meuthen-Lagers in den Bundesvorstand gewählt. Der Landesvorstand Sachsen fordert dagegen die Wahl von Chrupalla als alleinigen Spitzenkandidaten.
Abwahlantrag gegen Meuthen
Mit dem von über einhundert Mitgliedern gestellten Abwahlantrag gegen den Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen wird sich in Dresden nicht befasst. Der Antrag hatte zwar ohnehin keine Chance, die notwendige Zweidrittelmehrheit zu erhalten, hätte Meuthen aber schon bei einer einfachen Mehrheit schwer beschädigen können, weshalb das national-konservative Lager auf Nichtbefassung setzte – mit Erfolg.
Dennoch: Der neofaschistische »Flügel«, der sich zwar offiziell aufgelöst hat, ist weiterhin ein entscheidender Machtfaktor innerhalb der AfD. Das Höcke-Lager hat allerdings kein Interesse, vor der Bundestagswahl im September das Risiko einer Abspaltung des national-konservativen Lagers zu riskieren. Und das gilt auch andersherum: Ein Stillhalteabkommen bis zur Bundestagswahl liegt im Interesse beider Lager der AfD. Die gegenwärtige Gemengelage im Streit zwischen Nationalkonservativen und Faschisten ist so zurzeit durch ein labiles Gleichgewicht gekennzeichnet, das nach einem Wahlerfolg der »Flügel«-AfD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni jedoch wieder zugunsten des Höcke-Lagers kippen könnte.
Foto: Elke Wetzig / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int
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