Durch das Impfen gegen SARS-CoV-2 könne schon bald eine Herdenimmunität erreicht und die Pandemie beendet werden, so die weitverbreitete Annahme. Doch wie berechtigt ist diese Hoffnung?
Christian Haasen ist Mitglied im erweiterten Vorstand des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ).
Die derzeitige Infektionswelle ist heftiger als die erste, alle sind müde von den Eindämmungsmaßnahmen, die leider nicht so schön die Kurve drücken wie im März/April 2020. Da kommt es vielen gelegen, dass die ersten Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 zugelassen wurden und mittlerweile eine Impfkampagne gestartet werden konnte. Die Hoffnung keimt auf, dass wir nur jetzt alle impfen müssen und dann wird alles wieder gut. Nur: Wie berechtigt ist diese Hoffnung?
Impfung statt Durchseuchung?
Schon zu Beginn der Pandemie vertraten die Verfechterinnen und Verfechter des Konzepts der Herdenimmunität, die durch eine möglichst rasche Durchseuchung der Bevölkerung erreicht werden könne, dass bei einer Durchseuchung von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung das Virus keine Person mehr finden würde, die es anstecken könne. Nun haben die meisten Verfechterinnen und Verfechter der Herdenimmunität schnell eingesehen, dass eine Durchseuchung mit dem Virus eine zu hohe Sterblichkeit erzeugen würde, die die Gesellschaft nicht akzeptieren könne – Massengräber kommen nicht so gut an.
Aber das Konzept der Herdenimmunität schwirrt weiter in den Köpfen aller Kämpferinnen und Kämpfer gegen das Virus, nur dass die Immunität nicht mit dem Virus, sondern mit der Impfung erreicht werden soll. Die Hoffnung bleibt also, dass eine Immunität von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung dem Virus keine weitere Chance der Ausbreitung bietet. Somit mutiert die Mehrheit der Hobby-Virologen zu Hobby-Mathematikerinnen und meint genau vorrechnen zu können, wie viele täglich geimpft werden müssen, um im Sommer die Herdenimmunität zu erreichen.
Das Problem mit der Herdenimmunität
Leider ist das alles etwas komplizierter. Der Anteil der Bevölkerung, der eine Immunität erreicht haben muss, damit eine Herdenimmunität eintritt, hängt ab von der Reproduktionszahl (R): ein hohes R (sehr ansteckend) wie die Masern (R = 12–18) braucht eine Immunität der Bevölkerung von weit über 90 Prozent (eher 95 Prozent), bei einem niedrigen R (wenig ansteckend, R z. B. = 1) kann die Herdenimmunität bei 60 bis 70 Prozent erreicht werden. Da die Corona-Pandemie lange Zeit problemlos bei einem R kleiner-gleich 1 gehalten werden konnte, war allen klar, dass eine Immunität durch Impfung bei 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung zu einer Herdenimmunität führen würde.
Nun beruht das auf der Einschätzung, dass alle Menschen ein gleiches Ansteckungsrisiko haben. Auch wenn wir noch nicht viel über das SARS-CoV-2 Virus wissen, so ist allen schon mal zu Ohren gekommen, dass es einerseits Super-Spreader gibt, andere hingegen sich trotz engem Kontakt zu einem hochinfektiösen Menschen nicht anstecken. Da es bei SARS-CoV-2 – anders als bei Masern – nicht zu einer lebenslangen Immunität kommt, muss die Impfung von einem Großteil der Bevölkerung möglichst in einem kurzen Zeitraum erfolgen, um eine Herdenimmunität zu erzielen. Und dies möglichst auf der ganzen Welt, da die weltweite Mobilität das Virus nach dem Abklingen der Immunität nur erneut zurückbringen würde.
Gefahr neuer Mutationen
Beispiele dafür, dass Herdenimmunität ohne Eindämmung nicht ausreicht, finden wir in Brasilien und Israel. In Manaus war die Hoffnung entstanden, dass zwei Drittel der Bevölkerung die Infektion durchgemacht hatte und somit Herdenimmunität erreicht war, als im September 2020 wieder ein Ausbruch die Fallzahlen in die Höhe schnellen ließ und die Hoffnung verblasste. In Israel waren Mitte Januar schon 25 Prozent der Bevölkerung geimpft, und trotzdem verzeichnete das Land zu dieser Zeit die höchsten Fallzahlen seit Beginn der Pandemie.
Die Angst vor der Ausbreitung der erstmals in Großbritannien entdeckten Mutation des Virus mit einer scheinbar deutlich erhöhten Ansteckungsrate ist berechtigt: Sollte dadurch die Reproduktionszahl steigen, kann eine Herdenimmunität mit 60–70 Prozent der geimpften Bevölkerung nicht erreicht werden. Je höher die Dynamik der Infektion, desto mehr Mutationen werden wir sehen – ein weiterer Grund, die Infektionszahlen erstmal massiv zu senken.
Impfen ist nur ein Baustein
Eine wirkliche Herdenimmunität kann deshalb nur erreicht werden, wenn gleichzeitig strikte Eindämmungsmaßnahmen erwirkt werden. Solche Eindämmungsmaßnahmen müssen wesentlich umfassender und strikter durchgeführt werden, ohne die Produktion auszuschließen, können dafür aber effektiver und kürzer ausfallen.
Hierzu bietet auf politischer Ebene die Kampagne #ZeroCovid einen guten Ansatz, auf wissenschaftlicher Ebene der europäische Aufruf Contain COVID-19. Impfen bleibt also ein Baustein in der Pandemiebekämpfung, zu dem Eindämmungsmaßnahmen elementar dazugehören.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Sozialistische Zeitung (SoZ) Ausgabe Nummer 02/2021. Wir danken für die für die freundliche Abdruckgenehmigung.
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