Ein Polizeistaat mit Ausgangssperren oder Demonstrationsverbote sind keine zwingende Voraussetzung für eine Zero-Covid-Strategie. Von Lisa Hofmann
Muss die Mobilität der Menschen eingeschränkt werden, um das Virus zu stoppen? Ja. Brauchen wir dafür Ausgangssperren und ein Demonstrationsverbot? Nein. Ausgangssperren haben aus epidemiologischer Sicht keinen nachhaltigen Effekt auf die Eindämmung des Virus. Demonstrieren können wir auch mit Abstand und Maske, ohne uns und andere Menschen in Gefahr zu bringen. In der Debatte um eine Zero-Covid-Strategie werden kapitalistische Staaten, die eine No-Covid-Strategie haben, mit der linken Initiative, die sich #ZeroCovid nennt, verwechselt. Viele Menschen innerhalb von #ZeroCovid nennen diese Staaten als Beispiel, weil die Entwicklungen dort deutlich machen, dass die Pandemie radikal eingedämmt werden kann.
Erfolg durch schnelle Reaktion
Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass alle Maßnahmen, die diese Regierungen getroffen haben, aus linker oder sogar aus epidemiologischer Sicht unterstützenswert sind. Nur weil diese Staaten das Virus härter bekämpfen, hören sie ja nicht auf, autoritäre Klassengesellschaften oder ein autoritärer Polizeistaat zu sein. Die Klassenpolitik der Regierenden drückt auch in Ländern mit niedrigen Fallzahlen (wie China, Australien, Neuseeland oder Taiwan) der Pandemiebekämpfung ihren Stempel auf. Die Hauptquelle des Erfolges dieser Länder liegt jedoch nicht in den besonders harschen »Mobilitätsbeschränkungen«, sondern in der schnellen Reaktion auf das Virus und nachfolgenden nicht-pharmazeutischen Maßnahmen; also informieren, testen, nachverfolgen, schützen und impfen.
Ausgangssperren haben wenig Einfluss auf das Infektionsgeschehen. Im Gegenteil: Es ist absurd, Menschen zu verbieten, sich in ihrer Freizeit draußen aufzuhalten, und gleichzeitig Millionen von Beschäftigten zu zwingen, in Werkshallen und Dienstleistungsbetrieben mit hunderten Menschen in einem Raum weiterzuarbeiten. Auch die psychologische Wirkung solcher Maßnahmen ist potenziell verheerend. Ausgangssperren erhöhen das Risiko von psychischen Erkrankungen und häuslicher Gewalt.
Es braucht keinen Polizeistaat
Auch in anderen Ländern gibt und gab es harte Ausgangsbeschränkungen – wie beispielsweise in Italien, Spanien oder Frankreich. Trotzdem wurden diese Länder sowohl von der ersten als auch von der zweiten Welle hart getroffen. Ausgangssperren oder Demonstrationsverbote sind keine zwingenden Voraussetzungen für eine Zero-Covid-Strategie. Einige Staaten mit niedrigen Fallzahlen haben diese als begleitende Maßnahmen eingeführt. Wir brauchen weder einen autoritären Polizeistaat noch die Abschaffung der Demokratie, um eine Seuche erfolgreich zu bekämpfen. Alle Regierungen (egal ob harte Bekämpferinnen des Virus oder nicht) nutzen die Pandemie, um ihre rassistische, unsoziale und undemokratische Politik zu verstetigen oder sogar auszubauen.
Dies ist aber ein Kennzeichen des aus den Fugen geratenen Katastrophenkapitalismus und nicht ein unabdingbares Feature vernünftiger Seuchen-Prävention. Das zeigt ein Blick in die Länder, die versuchen, mit repressiven Maßnahmen ihre Flatten-The-Curve-Strategie zu flankieren. Spanien setzt zur Durchsetzung von Ausgangssperren die Armee ein und lässt die Bürgerinnen und Bürger per Drohnen überwachen. Israel hat seinem Geheimdienst Zugriff auf sämtliche Ortungsdaten der Mobiltelefone gewährt, um die Ausgangssperre durchzusetzen. Alle Bewegungen der Bürgerinnen und Bürger werden lückenlos überwacht. Wir reden also bei einer Ausgangssperre nicht über eine Kleinigkeit, sondern den weitreichenden Grundrechtseingriff gegenüber der Bevölkerung und einen möglichen Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Diese Maßnahmen lassen sich nur schwer bis gar nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren. Deshalb sind Demonstrationen und politische Veranstaltungen, die sich auf die Versammlungsfreiheit in Artikel 8 berufen, zu Recht unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen auch im harten Lockdown erlaubt.
Demokratie und Gemeinsinn
Geholfen haben diese Einschränkungen bei der Eindämmung der Pandemie nicht. Die Flatten-The-Curve-Strategie konnte das Virus nicht stoppen. Im Gegenteil: Die traurige Bilanz in Deutschland ist das Lockdown-Jojo. Es gibt mehr als 2,5 Millionen bestätigte Fälle und über 70.000 Tote – 55.000 alleine in den letzten drei Monaten. Und das ist nur die epidemiologische Seite der Katastrophe. Nur jene Länder, die eine Zero-Covid-Strategie haben, sind das Virus halbwegs los.
Um eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen, muss man aber weder ein Insel- noch ein autoritärer Polizeistaat sein. Im Gegenteil: Demokratie und Gemeinsinn sind dabei sogar entscheidend. Das Einmaleins der Epidemiologie ist Schnelligkeit. Dazu gehört: informieren, testen, nachverfolgen, schützen und schließlich impfen. An diesen simplen Grundvoraussetzungen scheitert die Bundesregierung. Sie zwingt uns in ein Lockdown-JoJo. Es ist klar, dass die volkswirtschaftlichen Kosten der gegenwärtigen, partiellen Lockdowns, welche viel länger andauern, letztlich viel höher sein werden als die eines kürzeren, aber wirksamen Lockdowns.
Arbeitsstopp und Betriebsschließungen
Ein offensichtlicher Widerspruch ist, dass die Bundesregierung sich weigert, einen wirklich wirksamen Schritt in der Pandemiebekämpfung zu gehen: Das wäre, einen Arbeitsstopp für alle Betriebe anzuordnen, die für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur oder die Produktion lebensnotwendiger Güter nicht notwendig sind. Die Unternehmensführungen dieser Betriebe sollten verpflichtet werden, die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte nach einer Schulung zur gesundheitlichen Prävention bei vollen Lohnzahlungen für eine bestimmte Zeit freizustellen. Thomas Sablowski schreibt richtigerweise: »Grundsätzlich ist die Schließung von Betrieben viel leichter und mit weniger polizeilichem Aufwand durchzusetzen als die Überwachung der gesamten Bevölkerung in der Freizeit.
In dem Maße, in dem die temporäre Einstellung der nicht notwendigen Arbeit wirksam ist, ermöglicht sie ein weniger polizeiliches, weniger repressives Agieren. Denn diejenigen, die sich nicht an Vorsichtsmaßnahmen halten, fallen weniger ins Gewicht. Es hängt also vor allem von den Lohnabhängigen und ihren Organisationen, von den Gewerkschaften und der Linken ab, ob sie den Infektionsschutz selbst in die Hand nehmen. In dem Maße, in dem sie das tun, erledigt sich die Frage des staatlichen Autoritarismus.«
Polizeistaat mit Ausgangssperren und Demonstrationsverbote sind Ausdruck der Ratlosigkeit der Politik. Im Umgang mit dem Coronavirus beschränken sie die Freiheit der Menschen massiv. Die erkämpften demokratischen Bürgerrechte dürfen trotz Pandemie nicht geopfert, sondern müssen entschieden verteidigt werden.
Titelbild: Matthias Berg (CC BY-NC-ND 2.0)
Schlagwörter: #ZeroCovid, Corona, Polizei