Chanie Rosenberg, ein Gründungsmitglied der Socialist Workers Party in Großbritannien, starb am 6. Juni. Ein Nachruf von Donny Gluckstein
Chanie Rosenberg, die im Alter von 99 Jahren gestorben ist, hat ein Leben lang gegen die Ungerechtigkeiten gekämpft, die heute noch unsere Welt plagen. Sie wurde im Jahr 1922 geboren. Ihre jüdische Familie lebte in Südafrika, das damals noch zum britischen Imperium gehörte. Dort erfuhr sie am eigenen Leib den Antisemitismus, der in Europa wenige Jahre später im Holocaust gipfeln sollte. Damals war sie aber vor allem Zeugin des grausamen, gegen Schwarze gerichteten Rassismus, der sich auch in den Apartheid-Gesetzen ausdrückte.
Sie revoltierte gegen das System und wurde Sozialistin. Sie glaubte allerdings an die zionistischen Mythos, dass eine bessere Gesellschaft in Palästina, das sich ebenfalls unter britischer Herrschaft befand, geschaffen werden könnte. Also verließ sich Südafrika und machte sich inmitten des Zweiten Weltkriegs auf den Weg dorthin. Schon vor der Nakba, der katastrophalen Vertreibung der Palästinenser:innen im Jahr 1948, musste Chanie feststellen, wie das zionistische Projekt mit gewaltsamer Diskriminierung gegen die einheimische arabische Bevölkerung Palästinas einherging. Chanie wurde zu einer überzeugten Antizionistin. Das brachte sie in Kontakt mit ihrem zukünftigen Lebenspartner Tony Cliff, selbst jüdischer Palästinenser. Rassismus jedweder Couleur florierte im gesamten britischen Reich. Er war ein direkter Ausfluss des Imperialismus und des Kapitalismus.
Von der Zionistin zur Trotzkistin
Aber für Chanie und Cliff gehörte mehr dazu, als nur die Ungerechtigkeit und die Unterdrückung anzuerkennen. Die Frage war, was konnte dagegen getan werden? Die Antwort auf diese Frage war knifflig. Kommunistische Parteien, die sich nach Joseph Stalins Moskau als Leuchtturm der Hoffnung richteten, dominierten die antikapitalistische Linke. Es war allerdings auch die Zeit der Moskauer Schauprozesse, als fast die gesamte Führungsriege, die die Oktoberrevolution von 1917 geleitet hatte, ausgelöscht wurde. Chanie wurde Trotzkistin. Das lag daran, dass Leo Trotzki – der auf Stalins Befehl im Jahr 1940 ermordet wurde – die ursprüngliche Flamme des Sozialismus im Sinn einer Befreiung und Selbstemanzipation der Menschheit am Leben hielt. Dies war also nicht bloß eine politische Positionierung. Es ging um das Ziel eines menschlichen Lebens, das so viel mehr sein konnte als die alltägliche Mühsal, Ausbeutung und Unterdrückung, die das Los der Mehrheit war.
Gründnung der Socialist Workers Party
Bis zu ihrem Lebensende erzählte Chanie, wie für sie ab ihrem 17. Lebensjahr die internationale sozialistische Revolution ihr Leitmotiv blieb. Diesen Weg zu beschreiten, war in keinem Land eine leichte Sache. Überall gab es nur wenige Trotzkist:innen. Aber in Palästina Trotzkistin zu sein, bedeutete nicht nur ein Leben in erdrückender Armut, sondern auch die Feindschaft der britischen Obrigkeit und der erstarkenden zionistischen Kräfte auf sich zu ziehen. Bald war es nicht mehr auszuhalten, und kurz nach Kriegsende siedelte das Paar nach Großbritannien um. Hier waren die Möglichkeiten für eine revolutionäre sozialistische Organisierung günstiger. Sie legten den Grundstein für jene Organisation, aus der die Internationalen Sozialisten und später die Socialist Workers Party (SWP) entstanden. Und Chanie spielte dabei eine zentrale Rolle.
Ihr Lebenspartner Tony Cliff trug mit seinen Schriften entscheidend zur Weiterentwicklung der marxistischen Theorie nach Trotzki bei. Dazu zählte seine Einsicht, dass das stalinistische Russland eine Variante des Kapitalismus ist, nämlich Staatskapitalismus. Diese Theorie erklärte auch, wie sich das weltweite kapitalistische System der Nachkriegszeit durch Rüstungsausgaben stabilisierte, und sie bot eine Analyse der in China und Kuba entstandenen Regime. Aber keine dieser Theorien hätte das Licht der Welt ohne Chanie gesehen. Sie war die Ernährerin der ganzen Familie, sie war es, die Cliffs unleserliche Manuskripte, die er nach eigener Bekenntnis selbst oft nicht entziffern konnte, abtippte.
Chanies Beitrag umfasste allerdings mehr als Geld und Tipperei. Als Gewerkschaftsaktivistin leitete sie den Ortsverband Hackney der Lehrergewerkschaft NUT. Darüber hinaus war sie ein starkes Gesicht in den vielfältigen Kampagnen, in die sie sich engagierte.
Theorie und Aktion
Als palästinensischer Flüchtling blieb der Aufenthaltsstatus ihres Lebenspartners stets prekär, so dass er sich von Aktivitäten auf der Straße fernhalten musste. Einmal wurde er sogar nach Irland abgeschoben, gerade als Chanie ihr erstes Kind zur Welt brachte. Sie stellte die entscheidende Verbindung zwischen der Entwicklung der politischen Theorie und ihrer Erprobung und dem Lernen aus der Praxis her, die für den Marxismus so zentral ist. Sie war auch selbst Autorin von verschiedenen Texten und Broschüren.
Diese vielen Rollen unter einen Hut zu bekommen, gekoppelt mit den Schwierigkeiten, eine revolutionäre Tradition unter Bedingungen eines ungezügelten Kapitalismus zu etablieren, war keine leichte Aufgabe. Wenn man das Aufziehen von vier Kindern, unter ihnen ich selbst, dazu zählt, könnte man meinen, ihr Leben hätte nur aus unendlichen Opfern bestanden. Das wäre aber eine ernsthafte Fehlinterpretation. Mit Hilfe ihrer unermüdlichen Kräftereserven zeigte sie, dass eine revolutionäre Vision des Möglichen die Entfremdung und die Enttäuschung eines Lebens unter dem Kapitalismus teilweise überwinden kann. Sie warf sich in die Kunst und stellte einmal eine Skulptur in der Royal Academy aus. Chanie genoss es immer, klassischer Musik zuzuhören und sie auch zu spielen. In späten Jahren lernte sie schwimmen, was sie auch im lokalen Schwimmbad täglich praktizierte.
Ihr Leben war keines voller Tragik, sondern eines voller Erfüllung
Als die internationale globalisierungskritische Bewegung startete, da war sie stets dabei, ob im Rollstuhl oder nicht, ob in Prag, Florenz oder näher daheim. Ihr Leben war keines voller Tragik, sondern eines voller Erfüllung. Fürwahr, sie schrieb ihre Langlebigkeit und ihre optimistische Weltanschauung der Kombination revolutionärer Politik mit dem Schwimmen und gab ihren Memoiren den treffenden Titel »Fit für den Kampf«. Aber nicht einmal diese Kombination kann das unweigerliche Fortschreiten der Zeit aufhalten. Ihre vielen Freunde und Freundinnen und Genossen und Genossinnen werden Chanies Warmherzigkeit und ihren Enthusiasmus vermissen. Die Kämpfe, die sie in frühen Jahre inspirierten, inspirieren heute Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Auch wenn sie sie nicht mehr erleben wird, bleibt ihr Beitrag von Dauer.
Zum Text: Aus dem Englischen von David Paenson. Zuerst veröffentlich auf der Webiste Socialist Worker.
Bild: Dave Gilchrist