Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Taliban wieder in Afghanistan herrschen. Jetzt müssen die Kriegsverbrechen der letzten 20 Jahre aufgearbeitet werden, meint Emran Feroz.
marx21: Emran, hat es dich überrascht, dass die Taliban Kabul wieder übernehmen konnten?
Emran Feroz: Der schnelle Sturz Kabuls kam tatsächlich ein bisschen überraschend. Die CIA hatte kurz zuvor gesagt, dass Kabul in den nächsten 30 bis 90 Tagen fallen werde. Am Ende fiel es dann innerhalb der nächsten 24 Stunden. Wenn selbst der US-Geheimdienst falsch lag, ist es verständlich, dass andere das auch nicht auf dem Schirm hatten.
Man muss im Blick behalten, was in den Tagen und Wochen zuvor passierte. Viele Provinzhauptstädte fielen wie Dominosteine nacheinander an die Taliban. In vielen der umliegenden Provinzen waren sie aber schon seit Jahren präsent gewesen und hatten durch ihre Parallelstrukturen eigentlich schon regiert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie aus dem Schatten treten und alles andere auch einnehmen würden.
Wie erklärst du dir, dass die deutsche Regierung vom Vormarsch der Taliban überrascht wurde?
Nicht nur die deutsche, sondern viele andere westliche Regierungen haben bewusst weggeschaut und die Realität ignoriert. Sie haben nie ernst genommen, dass die Taliban so stark sind und dass sie einen gewissen Rückhalt innerhalb der Bevölkerung haben. Stattdessen haben sie die eigene Mission vor Ort schön geredet.
Das hat auch damit zu tun, dass sie in den letzten Monaten und Jahren bewusst die Sicherheitslage beschönigt haben, um afghanische Geflüchtete abschieben zu können. Es hätte nicht gepasst, wenn sie gesagt hätten, dass die Taliban fast überall sind.
Mit Warlords gegen Taliban
Warum hat die afghanische Regierung unter Präsident Ashraf Ghani den Abzug der Nato nicht überdauert?
Ihre letzten Tage und Wochen haben gezeigt, dass der afghanische Staatsapparat, der vom Westen errichtet wurde, ein extrem schwaches Fundament hatte. Ich verweise auf die sowjetische Besatzung in den 1980ern. Die Sowjets waren zehn Jahre im Land. Das war im Großen und Ganzen ein ähnlicher Krieg aus ähnlichen Beweggründen. Das Fundament des Regimes, das sie errichtet hatten, war aber viel fester. 1989 sind die Sowjets abgezogen, erst 1992 haben die Mudschahedin Kabul erobert. Jetzt haben wir gesehen, dass das Ganze in sich zusammenbrach, während der Abzug noch stattfand.
Welche Gründe siehst Du dafür?
Der Hauptgrund ist die Korruption, die seit 20 Jahren floriert. Sie wurde bewusst in Kauf genommen, weil man sich Verbündete gekauft hat. Man ist mit Koffern voller Geld in Afghanistan angetanzt und hat mit Warlords, Drogenbaronen und vielen fragwürdigen Personen zusammengearbeitet, um die Taliban zu bekämpfen und hat das »War on Terror« genannt. Ich weiß nicht, wie ernst man das meinte, aber es war von Anfang an vorhersehbar, dass diese Personen staatliche Institutionen eher aushöhlen werden, statt sie aufzubauen.
Du hast schon angesprochen, dass dem Nato-Krieg unter anderem der Einmarsch der Sowjetarmee vorausging. Wirkt die Besatzung durch die UdSSR heute noch in den Köpfen der Afghan:innen nach?
Ja. Das war eine sehr brutale Besatzung, die in zehn Jahren um die zwei Millionen Afghan:innen getötet hat. Das hat weite Teile der afghanischen Gesellschaft beeinflusst und tut es immer noch. Man sieht viele Kriegsopfer. Die ganze Instabilität gibt es auch nicht erst seit den 1990ern, sondern seit Ende der 1970er. Deshalb machen viele Afghan:innen keinen großen Unterschied zwischen der sowjetischen oder amerikanischen Besatzung. Das betrifft nicht nur die Taliban, sondern viele durchschnittliche Afghan:innen. Die mögen das einfach nicht. Das wollte man 20 Jahre lang nicht hören.
Die Kriegsverbrechen der Nato
Du hast gerade ein Buch namens »Der längste Krieg« veröffentlicht. Der Krieg in Afghanistan ist der längste der US-Geschichte. Wie bewertest du dessen Ergebnis?
Der Krieg ist in jeglicher Hinsicht gescheitert. Das war schon vor Jahren klar. Aber man wurde als Schwarzmaler bezeichnet, sobald man darauf aufmerksam gemacht hat. Es ist bis jetzt so, dass viele im Westen, in Europa, in Deutschland ein falsches Bild davon haben, was in Afghanistan in den letzten Jahren passiert ist. Sie wollen sich mit der Gewalt, die westliche Regierungen dort angewendet haben, nicht auseinandersetzen.
Dass westliche Regierungen Gewalt angewendet haben, widerspricht der offiziellen Darstellung sehr.
Ich habe in meinem Buch verschiedene Ebenen beschrieben. Zum einen die genannte Korruptionsthematik. Ein anderer Punkt ist die Art und Weise, wie der »War on Terror« geführt wurde. Die eigenen Soldat:innen waren eben nicht irgendwelche Demokratietruppen, die Brunnen bohren, Schulen bauen und Menschen glücklich machen. Oft haben sie eine rassistische, menschenfeindliche Einstellung gehabt, die sie dort ausgelebt haben. Deshalb kam es zu vielen Kriegsverbrechen.
Hast Du Beispiele für Kriegsverbrechen?
Wir haben in den letzten Monaten erfahren, dass australische Eliteeinheiten gezielt Jagd auf Menschen gemacht haben. Es gibt Filmmaterial, das zeigt, wie sie Menschen hingerichtet haben. Man hat Dörfer einfach überfallen, um Menschen zu töten. Man hat einen Sport daraus gemacht. Gleichzeitig hat man so etwas wie einen neuartigen Kreuzritterkult ausgelebt.
Dazu kommen noch andere Aspekte der Kriegsführung wie etwa die Drohnenangriffe. Und die Tatsache, dass man Kriegsverbrecher nicht nur verharmlost, sondern sogar befördert hat, wie das bei Oberst Klein der Fall war, der bei Kundus 2009 über 150 Menschen getötet hat.
Diese Dinge haben dazu beigetragen, dass sich viele Afghan:innen radikalisiert haben. Ich habe eben größere Kriegsverbrechen erwähnt. Aber es gab oft Situationen, in denen nur eine oder zwei Personen gefangen genommen und gefoltert wurden. Das wurde von den Taliban instrumentalisiert, aber es hat ausgereicht, um jahrelang neue Rekruten zu finden.
Aufarbeiten statt verharmlosen
Im Kontrast zu diesen Menschenrechtsverletzungen hat die Bundesregierung ja immer behauptet, im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit anders als die US-Armee oder diese australischen Eliteeinheiten nachhaltig für Verbesserungen gesorgt zu haben.
Wer kann denn garantieren, dass die KSK-Truppen dort nicht solche Sachen gemacht haben? Wir wissen mittlerweile, dass beim KSK viele Nazis sind. KSK-Truppen waren noch vor kurzem mit der Evakuierung beauftragt und wurden da wieder zelebriert.
Die Parteien, die den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu verantworten haben, wiederholen jetzt seit Wochen, dass Schuldzuweisungen den Menschen in Afghanistan nicht helfen würden. Was hältst du in dem Kontext von der Aussage?
Die Akteure versuchen, sich reinzuwaschen und wollen jetzt gerne auf konstruktiv machen, obwohl sie 20 Jahre lang diesen Krieg mitgetragen und vieles verharmlost haben. Was heißt überhaupt Schuldzuweisung? Es muss eine anständige Aufarbeitung geben. Wer hat was gemacht? Wer hat welche Entscheidungen wann getroffen? Da gibt es sehr viel aufzuarbeiten, damit man nicht mehr so einfach auf solche Menschen hört und sich nicht auf sie verlässt.
Drohnenkrieg droht weiterzugehen
US-Präsident Joe Biden hat angekündigt, dass der »War on Terror« fortgesetzt werde. Wie muss man sich das nach dem Abzug der US-Truppen vorstellen?
Kurz bevor die US-Armee abgezogen ist, hat sie noch zwei Drohnenangriffe durchgeführt. Mindestens einer davon hat in Kabul eine Familie ausgelöscht: zehn Menschen. Der andere soll den Planer eines Anschlags am Flughafen von Kabul getötet haben. Das ist absolut unwahrscheinlich. Wir wissen nicht, wer getötet wurde, so wie bei den meisten Drohnenangriffen in den letzten Jahren. Wahrscheinlich waren es auch Zivilist:innen, aber im Gegensatz zu dem Angriff in Kabul fand dieser in einer schwer erreichbaren Region statt, deshalb lässt sich das nur schwer verifizieren. Ich kann mir vorstellen, dass diese Art der Angriffe zunimmt. Die Frage ist: Von wo aus?
Läuft die Kommunikation von Drohnenangriffen nicht unter anderem über Ramstein in Deutschland?
Schon, aber die Drohnen selbst haben nur eine begrenzte Reichweite. Sie können keine lange Distanz fliegen. Die müssen in einem Nachbarstaat starten. Hier wird es interessant zu beobachten, wer sich dafür anbietet. Das ist eine Sache, die man im Blick behalten sollte. Im Übrigen haben wir in letzter Zeit mehrere bekannte Taliban-Führer gesehen, die in den Jahren zuvor nach Drohnenangriffen für tot erklärt worden waren. Die sind jetzt alle am Leben. Wer wurde denn wirklich getötet bei diesen Drohnenangriffen? Ich kann mir vorstellen, dass das so weitergehen wird.
Nur die Taliban im Blick
Die Todeszahlen durch Drohnenmorde kann man in deinem Buch »Tod per Knopfdruck« nachlesen. Betrachten wir vor diesem Hintergrund mal die Demonstrationen in verschiedenen deutschen Städten unter dem Motto »Stop Killing Afghans«. Das richtete sich primär an die Taliban als Täter. Nach der Bilanz von 20 Jahren Krieg gegen den Terror ist die Frage: Wer tötet eigentlich Afghan:innen und wann gibt es Empörung in westlichen Medien?
Es gab auch Demos und Akteure innerhalb der Demos, die wirklich versucht haben, Leute zu evakuieren, Menschen zu helfen und die Menschenrechte in den Vordergrund zu stellen. Aber im Großen und Ganzen finde ich das fragwürdig, dass man nach 20 Jahren auf einmal ankommt mit »Stop Killing Afghans«. Was denken die denn, was in den letzten 20 Jahren passiert ist? Es drückt ein Problem in der afghanischen Diaspora aus: Es sind oft Familien, die aus einer privilegierten Schicht stammen, die in den letzten Jahrzehnten geflüchtet sind. Das ist auch verständlich, aber man muss reflektieren, was man selbst hier erlebt, was die Eltern erlebt haben, und was die Realität für die meisten Menschen in Afghanistan ist.
Ich habe das Gefühl, dass in der deutschen Berichterstattung vor allem Afghan:innen zu Wort kommen, die eine Kabuler Brille aufhaben und die Realität auf den Dörfern nicht gesehen haben, und die mit der Bundeswehr zusammengearbeitet und daher eine bestimmte Stellung hatten.
Das hast du richtig beobachtet. Vor kurzen hat mich die Sendung »Kulturzeit« bei 3sat interviewt. Die haben einen Beitrag gezeigt nach dem Motto, diese afghanischen Frauen haben sich Freiheiten erkämpft und jetzt kommen die Taliban und alles wird zerstört. Ich habe dann darauf hingewiesen, dass das nur für eine sehr privilegierte elitäre Schicht gilt, die einer Blase gelebt hat. Diese Leute sind nicht repräsentativ für den Alltag der meisten afghanischen Frauen. Es ist schön und gut, dass diese wenigen Frauen diese Freiheiten hatten, aber hier wird ein verzerrtes Bild dargestellt. Das Durchschnittspublikum denkt: Ach, so haben die alle gelebt und jetzt wird alles zerstört. Nein, viele haben in Armut gelebt und Existenzprobleme, die mit dem Alltag dieser elitären Schicht gar nichts zu tun haben. Diese Schicht ist in den letzten 20 Jahren entstanden und hat teils auch von der militärischen Besatzung der Nato profitiert.
Die Rolle der Ortskräfte
Gilt das auch für die Ortskräfte?
Ja, die haben viel mehr verdient als die meisten Afghan:innen. Ich habe Verwandte, die als Dolmetscher gearbeitet haben. Die haben meistens das 10-, 20-, 30-fache von dem verdient, was ein durchschnittlicher Afghane in den letzten 20 Jahren verdient hat. Sie haben viel investiert und sich gewissen Gefahren ausgesetzt. Diesen Menschen sollte geholfen werden. Allein aus moralischer Sicht ist es verwerflich, wenn man den eigenen Helfern nicht helfen will und sie zurücklässt. Aber ich finde, es ist auch wichtig aufzuarbeiten, was die Truppen mit den Ortskräften gemacht haben. Ich kenne genug Leute, die gesagt haben, sie machen das nicht: Ich bin kein Taliban-Unterstützer, aber ich arbeite sicher nicht mit irgendwelchen Nato-Truppen zusammen, die dann irgendwelche Häuser stürmen und ich muss dolmetschen und verängstigten Menschen noch mehr Angst einjagen. Man sollte das auch nicht verharmlosen.
Wenn es jetzt darum geht, Menschen aus Afghanistan zu retten, ist immer von diesen 40 bis 50.000 Ortskräften die Rede. Die Frage ist: Wer von ihnen hat es auf die Listen der zu Rettenden geschafft und wer nicht?
Vor allem die Deutschen haben da eine blamable Rolle gespielt. Sie haben viele Menschen nicht als Ortskräfte anerkannt, die keinen direkten Vertrag mit der Bundeswehr, sondern mit einem Subunternehmen hatten, oder deren Zusammenarbeit in der Vergangenheit lag. Da waren die Amerikaner flexibler, obwohl auch viele von denen noch festsitzen. Abgesehen davon gibt es viele andere Menschen, die nicht flüchten können. Viele aus der Kabuler Blase konnten sich retten, weil sie Beziehungen hatten. Andere Menschen, die zum Teil viel wichtigere Arbeit gemacht und wirklich ihr Leben riskiert haben, hat man dort zurückgelassen.
Geflüchteten helfen
Millionen von afghanischen Geflüchteten leben jetzt schon in Nachbarländern. Nun hat die Regierung von Pakistan angekündigt, keine weiteren Geflüchteten mehr aufnehmen zu wollen. Wie ist die Situation der Geflüchteten in diesen Ländern?
Millionen von Afghan:innen leben vor allem in Pakistan und Iran. In diesen Ländern ist die Situation für afghanische Geflüchtete sehr prekär. Hinzu kommt, dass den Regierungen beider Staaten in den letzten Jahren vorgeworfen wurde, die Taliban zu unterstützen. Dies betraf vor allem Pakistan, aber auch den Iran, wo die Gruppierung ein Verbindungsbüro unterhalten soll, das sogar vor jenem in Katar eröffnete wurde. Vor allem in Iran sind Afghan:innen staatlichem und gesellschaftlichem Rassismus ausgesetzt. Manche minderjährigen Geflüchteten wurden hingerichtet in den letzten Jahren. Viele dürfen nicht zur Schule gehen. Dort für Afghan:innen eine positive Zukunft zu erhoffen, finde ich zynisch.
Ähnlich verhält es sich in Pakistan, obwohl die Situation dort etwas besser ist als in Iran. Viele haben es in den letzten Jahren geschafft, sich ein Standbein aufzubauen. Trotzdem gibt es eine massive Überlastung. Zudem erreichen wegen der Korruption innerhalb des Staatsapparates viele Gelder die Geflüchteten nicht.
Warum setzen die europäischen Regierungen auf diese Staaten?
Hier herrscht das Dogma, dass sich 2015 nicht wiederholen soll. Sie wollen keine neuen Afghanen. »Der Afghane« wurde in den letzten Jahren massiv kriminalisiert als Mörder und Vergewaltiger.
Abgeschoben nach Afghanistan
Auch die deutsche Regierung hat in den letzten Jahren immer wieder Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Wie bewertest du diese Abschiebungen?
Allein aus Deutschland sind 40 Abschiebeflüge gestartet in den letzten 4 Jahren. 2016 wurde der Abschiebedeal mit der korrupten afghanischen Regierung unterzeichnet. Der Regierung wurden Gelder versprochen; dafür musste sie afghanische Geflüchtete aufnehmen. Ashraf Ghani hat vor laufender Kamera gesagt, er habe keine Sympathie für Menschen, die fliehen, weil sie den Gesellschaftsvertrag brächen. Das erscheint heute umso zynischer, weil dieser Mensch selbst geflüchtet ist, noch bevor die Taliban Kabul eingenommen haben.
Es hieß, es werde nur in sichere Gebiete abgeschoben.
Ich sage seit Jahren, dass es in Afghanistan keine sicheren Gebiete gibt. Der Krieg hat in verschiedenen Gebieten verschiedene Formen angenommen: auf dem Land gab es eher klassische Militäroperationen, in den Städten gab Selbstmordattentate. Man hat alles schöngeredet, um politische Interessen zu bedienen.
Es gibt dokumentierte Fälle von Abgeschobenen, die in Afghanistan gestorben sind. Ich habe selbst einen Fall eines Menschen gefunden, der sich nach der Abschiebung getötet hat. In einem anderen Fall wurde ein Abgeschobener durch einen Angriff getötet. Es gibt niemanden, der das ausführlich dokumentiert. Es kann sein, dass viel mehr Menschen zu Schaden gekommen sind. Dafür sind die Regierungen in Europa verantwortlich. Ich hätte mir da auch von links mehr politisches Engagement gewünscht.
Ich weiß nicht, ob du das auch so siehst, aber ich habe oft gehört, dass die Afghan:innen herkommen und den Arbeitern den Job wegnehmen, weil sie den für 1000 statt für 1200 Euro machen. Dass die vielleicht in den Flüchtlingslagern oder in Afghanistan Leute haben, die sie finanziell unterstützen müssen, die im Krieg leben, wird komplett ignoriert.
Keine Sanktionen fordern
Ich stimme Dir zu, dass es solche Stimmen auch in der Linken gibt. Das ist keine große Anzahl, aber eine lautstarke Minderheit. Ich glaube aber, in der Linken gibt es noch ein anderes Problem, nämlich sich auf rein humanitäre Forderungen zu beschränken. Was würde den Menschen in Afghanistan wirklich helfen?
Besonders wichtig ist, dass man das Land nicht sanktioniert, dass man keine Gelder kürzt. Dadurch bestraft man nicht die Taliban, sondern die gesamte afghanische Bevölkerung. Es gibt viele Binnengeflüchtete. Da bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Letztlich würde man das Gegenteil von dem bewirken, was man behauptet zu wollen. Wenn man Hilfsgelder kürzt, dann trifft das zum Beispiel Lehrerinnen. Dann hat man die Mädchenschulen selbst zugemacht, bevor die Taliban irgendwas gemacht haben. Man könnte Entwicklungshilfe als Druckmittel einsetzen, um Menschenrechtsfragen mehr unter die Lupe zu nehmen. Allerdings hat der Westen seine moralische Deutungshoheit total verspielt. Trotzdem denke ich, internationale Organisationen und Hilfsorganisationen sollten in Afghanistan bleiben. Nicht damit man den Taliban einen Gefallen tut, sondern damit man die afghanische Gesellschaft nicht vergisst und nicht kollektiv bestraft.
Als die US-Regierung unter Bush 2001 die Taliban gestürzt hat, gab es relativ wenig Widerstand dagegen. Jetzt konnten die Taliban die Marionettenregierung ebenso ohne großen Widerstand stürzen. Haben die Taliban Unterstützung in der Bevölkerung?
Wer heute noch sagt, die Taliban hätten keine Unterstützung in der afghanischen Bevölkerung, ist total realitätsfremd. Ich habe auf meinen Reisen viele der Distrikte rund um die Provinzhauptstädte besucht und Taliban-Kämpfer getroffen. Das waren keine ausländischen Dschihadisten. Es hieß schon immer, das seien alles Pakistaner, die den afghanischen Staat kaputt machen wollen. Das gibt es auch, aber das ist eine Minderheit. In der Regel sind die Kämpfer der Taliban Leute aus der jeweiligen Gegend.
Der Rückhalt der Taliban
Warum konnten die Taliban wieder Unterstützer rekrutieren?
In all diesen Regionen sind viele Dinge passiert, die dazu beigetragen haben, dass Menschen zu den Taliban übergelaufen sind. Vor allem die Korruption. 30, 40, 50 Minuten von Kabul entfernt gab es Dörfer ohne Infrastruktur. Die Menschen dort sagen mehr oder weniger das Gleiche, nämlich dass die Regierung in Kabul sie stets ignoriert hat. Dafür hat die Korruption ihren ganzen Alltag penetriert. Es geht um ganz einfache Dinge, zum Beispiel eine Erbstreitigkeit. Der Beamte der Regierung will Geld, nervt und macht seine Arbeit nicht. Dann geht die betreffende Person zum Taliban-Richter, der erledigt das und will nicht mal Geld.
Es kann doch nicht nur die Korruption gewesen sein.
Ein anderer Aspekt ist die Art der Kriegsführung. Drohnenangriffe, Razzien, großflächige Bombardements haben sehr oft Zivilist:innen getroffen. Ein bekannter Talibankommandant hat mal gesagt, er brauchte gar nicht viel zu machen, die Amerikaner sorgten für die Rekrutierung. Eine Woche vor einem Bombardement standen bei ihm vielleicht zwei junge Männer, die kämpfen wollten, nach dem Bombardement waren es 150. Die Vertreter der afghanischen Regierung haben nach jedem Luftangriff gesagt, sie hätten da Terroristen getötet. Man hat über die zivilen Opfer gelogen.
Widerstand gegen Besatzung
Wir haben im August einen Text von Jonathan Neale und Nancy Lindisfarne veröffentlicht, der den Rückhalt der Taliban ähnlich begründet wie Du. Daraufhin wurde den Autor:innen und uns ein orientalistischer und kulturrelativistischer Blick vorgeworfen, der die Taliban zu edlen Wilden verklären würde. Wer bestimmt eigentlich das Bild von den Taliban im Westen?
Ich kann darüber nur lachen. Was soll ich machen, wenn ihr sagt, der Himmel ist blau? Soll ich dann sagen, der Himmel ist nicht blau? Das ist lächerlich. Es ist eine Realität in Afghanistan, dass die Mehrheit des Landes, vor allem in den ländlichen Gegenden, traditionell konservativ ist. Das sind sehr strenge Muslime und da gibt es auch Schnittpunkte mit der Taliban-Ideologie. Wenn man denen ein fremdes Wertesystem überstülpen will, hängen die Menschen um so mehr an ihren traditionellen Werten.
Was bestimmt das Bild von den Taliban im Westen? Spielt antimuslimischer Rassismus in den Vorwurf mit rein?
Der Vorwurf klingt, als ob es so etwas in Europa nicht gegeben hätte. Das ist aber Quatsch. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in Tirol einen Bauernaufstand, der von einem Andreas Hofer angeführt wurde. Das war ein Wirt, der aus sehr konservativen Strukturen stammte. Der Bauernaufstand richtete sich gegen die Bayern und Napoleon, die da einmarschiert sind und den Tirolern ihre Werte austreiben wollten. Auch den Tirolern wurde vorgeworfen, ein zurückgebliebenes Volk zu sein. Dieser Bauernaufstand war ein paar Monate lang ziemlich erfolgreich. Andreas Hofer wird bis heute als Nationalheld abgefeiert.
Wieso hat er so viel Unterstützung gehabt? Weil ausländische Besatzer in ein Land gekommen sind und dort den Leuten ihre Ansichten mit Gewalt und brutalen Massakern aufzwingen wollten. Das hat dazu geführt, dass die Menschen, die ihre traditionellen Werte vertraten, sich formiert haben und eine Widerstandsgruppe bilden konnten.
Zurück zu Afghanistan: Natürlich spielen auch ausländische Akteure eine Rolle. Es gibt da verschiedene, teils sehr komplizierte Dynamiken. Aber das bedeutet nicht, dass die Taliban keinen Rückhalt haben.
Ein Schritt zur Selbstkritik
Apropos Dynamiken: Wie schätzt du den aktuellen Widerstand im Pandschir-Tal ein? Wer sind diese Akteure?
Nicht jeder Anti-Taliban-Akteur ist per se gut. Ahmad Masud zum Beispiel ist der Sohn von Ahmad Shah Masud, der in den 1980ern und 1990ern ein bekannter Mudschahedin-Kommandant war. Masud hat eine eskalierende Rolle im Bürgerkrieg in den 1990ern gespielt, ebenso wie General Dostum. Diese Akteure waren damals für den Aufstieg der Taliban verantwortlich. Diese Warlords haben Afghanistan unter sich aufgeteilt und jeder hat seine eigene Schreckensherrschaft durchgesetzt. Diese Konstellation hat dazu geführt, dass die Taliban in den 1990ern so stark geworden sind. Die Nato hat sich mit diesen Akteuren 2001 verbündet und dadurch den gleichen Effekt bewirkt: Menschenrechtsverbrechen. Dass diese Leute jetzt als Freiheitskämpfer gegen die Taliban porträtiert werden, finde ich fragwürdig.
Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sich das Szenario aus den 1990ern wiederholt. Die regionale Unterstützung für diese Akteure fehlt. Indien, Russland, Iran waren auf der Seite von Masud gegen die Taliban. Mittlerweile haben aber auch diese Akteure eingesehen, dass die Taliban eine ernst zu nehmende Realität sind. Deshalb finden wir sie jetzt auf der anderen Seite wieder. Russland hat gute Verbindungen zu den Taliban, Iran ebenso, auch China und Indien wird früher oder später mit denen verhandeln wollen.
Wie bewertest du die neue Aufmerksamkeit, die Afghanistan jetzt genießt? Welche Perspektiven macht das möglicherweise auf?
Ich hoffe, die Aufmerksamkeit bleibt. Besser spät als nie. Es ist tatsächlich so, dass Perspektiven, die zuvor eher ungern gehört wurden, jetzt mehr Gehör finden. Ich mache nur das, was ich seit Jahren mache, und sage nur das, was ich seit Jahren sage. Aber jetzt hören mehr Leute zu. Vielleicht führt das zu Selbstkritik und zu einer besseren Politik in dieser Region.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Ramsis Kilani.
Zur Person:
Emran Feroz berichtet seit Jahren aus und über Afghanistan und kritisiert das mangelnde Verständnis internationaler Akteur:innen und Beobachter:innen. Nach »Tod per Knopfdruck« ist sein neues Buch »Der längste Krieg – 20 Jahre War on Terror« vor kurzem erschienen.
Fotos: privat, US Army (CC BY 2.0)
Schlagwörter: Afghanistan, Krieg, NATO