Ein Gespräch mit der Regisseurin Anne Paq über den Film »Not Just Your Picture«, die Sicht auf Palästina in Deutschland und die israelische Straflosigkeit
Dieses Interview ist eine Vorabveröffentlichung aus dem neuen marx21-Magazin mit dem Titel: »DIE LINKE ade?« (Das Heft erscheint am 20. Oktober 2021). Bestelle jetzt Dein Jahresabo und Du erhältst die neue Ausgabe inklusive toller Prämien frei Haus
Dein neuester Film »Not Just Your Picture« handelt von der Familiengeschichte der Kilanis. Für Leute, die den Film nicht kennen: Wer sind die Kilanis?
Die Kilanis sind eine palästinensische Familie aus dem Gaza-Streifen. Sie leben dort vor allem im nördlichen Teil in Beit Lahiya, in der Nähe der Grenze. Im Hinblick auf israelische Bombenangriffe ist er gefährlich.
Wer steht im Mittelpunkt des Films?
Es geht um Ibrahim Kilani. Als junger Mann beschloss er, nach Deutschland zu gehen, um Architektur zu studieren. In Deutschland lernt er seine Frau, eine Deutsche, kennen, mit der er zwei Kinder hat, Ramsis und Layla. Nachdem die Ehe scheitert, kehrt Ibrahim nach Gaza zurück, lässt sich scheiden und heiratet erneut. Mit seiner Frau Taghreed hat er fünf Kinder.
Der Film zeigt sowohl den in Gaza lebenden Teil der Familie, als auch den palästinensisch-deutschen Teil mit Ramsis und Layla. Warum?
Ramsis und Layla begleiten wir, nachdem sie die schreckliche Nachricht trifft, dass Ibrahim, seine Frau und ihre fünf Kinder während der Bombardierung des Gazastreifens im Sommer 2014 von der israelischen Armee getötet wurden. Für die Kilanis ist es die Geschichte einer zerrissenen Familie.
Es waren Gräueltaten an Zivilist:innen
Wir sehen, wie die Familie im Gazastreifen versucht zu trauern. Wir erfahren einen ihrer größten Wünsche: Mit Ramsis und Layla wiedervereint zu sein – sie wiederzusehen. Für sie tragen Ramsis und Layla einen Teil ihres Vaters in sich.
Warum ist die Geschichte dieser Familie so wichtig für dich?
Es ist eine komplexe Situation, die auch Spiegelbild fast aller palästinensischen Familien ist, die durch die Besatzung und das koloniale Projekt Israels auseinandergerissen sind. Schon vor dem Tod Ibrahims riss die politische Lage die Familie auseinander. Ibrahim darf, als er im Gazastreifen lebt, seine Kinder Ramsis und Layla in Deutschland nicht besuchen. Ramsis und Layla können ihren Vater wegen der Belagerung des Gazastreifens ebenfalls nicht besuchen. Die Kilanis trauern immer noch und sind traumatisiert. Die Lage in Gaza ist bleibt katastrophal. Die Familie kämpft, um über die Runden zu kommen.
Wie hast Du von der Geschichte erfahren?
Als Fotografin und Mitglied des Fotokollektivs »Activestills« war ich während der israelischen Offensive 2014 im Gazastreifen. Ich versuchte, so viel wie möglich zu dokumentieren: Es waren Gräueltaten an Zivilist:innen, die von israelischen Bombenangriffen begangen wurden. Kurz nach der Offensive initiierte ich ein Projekt mit dem Titel »Obliterated Families«(Ausgelöschte Familien), das sich mit Familien befasste, die durch israelische Bombenangriffe getötet wurden. Ein zweijähriges Multimediaprojekt, das ich gemeinsam mit Ala Qandil aufbaute. Ich habe viele Überlebende dieser Familien interviewt und besucht, um ihre Geschichte kennenzulernen.
Ich kehrte zur Familie Kilani zurück. Ich hatte das zerstörte Gebäude und die versuchte Rettungsaktionen kurz nach den Bombardierungen dokumentiert. Ich hatte gehört, dass die Familie deutsche Pässe hatte. Mich interessierte: Warum hatte die palästinensische Familie einen deutschen Pass?
So kam ich mit der Familie in Beit Lahiya in Kontakt. Dort traf ich einen von Ibrahims Brüdern, Salah, der mir die Familiengeschichte erzählte. So erzählte er mir auch von den beiden Kindern Ibrahims, Ramsis und Layla, die in Deutschland leben. Ich nahm Kontakt zu ihnen auf und traf sie später in Deutschland.
Was hat dich dazu bewogen aus dieser Geschichte einen Film zu drehen?
Wir entschieden uns, der Geschichte der Kilanis ein Kapitel in unserem Projekt zu widmen. Weil es multimedial war, drehten wir ein Video. So lernte ich Ramsis Kilani in Deutschland kennen. Ich spürte, dass er viel zu sagen hatte. Es war berührend. Ich arbeitete an einem Videointerview. Dror Dayan, der in Berlin lebte und sich für die palästinensische Sache engagiert, bearbeitete es. Wir diskutierten. Ich war überzeugt, dass die Geschichte größer war als ein einzelnes Kapitel. Deshalb habe ich den Film mit Dror gedreht – um über die europäische Komplizenschaft und ihre Rolle bei der Fortsetzung der israelischen Straflosigkeit zu sprechen. Wir glauben, dass wir mit dieser persönlichen und berührenden Geschichte ein größeres Publikum als sonst erreichen und mit den Menschen sprechen können.
Im Laufe des Films sehen wir, wie Ramsis und Layla an Selbstvertrauen gewinnen. Haben Sie diese Veränderung im Laufe der Dreharbeiten bemerkt?
Wenn ich an Ramsis denke, als ich ihn bei einer Veranstaltung am Brandenburger Tor sah, er eine Rede hielt und die Namen seiner getöteten Familienmitglieder nannte, war er schüchtern. Später sah ich ihn dann in Paris, wo er vor einer großen Menschenmenge sprach und selbstbewusst auftrat. Seine Entwicklung zu beobachten, war erstaunlich. Mittlerweile ist er in Deutschland eine lautstarke Stimme, nicht nur für die Rechte der Palästinenser:innen, sondern auch gegen Rassismus und in anderen politischen Fragen.
Was Layla betrifft, so war sie anfangs schüchtern, wenn es darum ging, in der Öffentlichkeit zu sprechen – insbesondere über ihre palästinensische Identität oder ihre Familie. Jetzt ist sie sehr stolz und spricht offen über ihre Identität. Das letzte Mal habe ich sie in Berlin gesehen, als wir die deutsche Premiere hatten. Sie stand zusammen mit Ramsis auf der Bühne. Sie hat sich kraftvolle ausgedrückt. Sie ist Teil von »Palästina Spricht«.
Im Film sehen wir, wie Ramsis erfolglos versucht, die israelische Armee zu verklagen und eine Anerkennung durch die deutsche Regierung zu erreichen. Gab es seither irgendeinen Erfolg?
Leider gibt es keine Fortschritte. Das hat zu Frustration geführt. Der Generalstaatsanwalt in Deutschland hat den Fall immer noch nicht offiziell eröffnet obwohl alle Akten seit Dezember 2014 vorliegen. Israel hat den Fall abgeschlossen und die Berufung abgewiesen. Wir wissen, dass es keine Gerechtigkeit für die Familie Kilani geben wird, was die israelischen Gerichte angeht.
Hast Du noch Kontakt mit der Familie Kilani in Gaza?
Ich wünschte, ich könnte sie besuchen, aber das war nicht möglich. Es ist schwierig für internationale Journalist:innen, nach Gaza zu reisen. Eine Sondergenehmigung von den israelischen Behörden ist nötig. Die israelische Pressestelle legt unabhängigen Fotograf:innen und Journalist:innen viele Steine in den Weg.
Was bedeutete die diesjährige Bombardierungen im Gaza-Streifen für die Familie?
Die jüngste Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Armee war wieder schrecklich – 11 Tage unablässiger Bombardierung, bei der Zivilist:innen getötet wurden. Natürlich machte ich mir Sorgen um die Kilanis. Einige Bomben fielen in der Nähe ihres Hauses. Im Nachbarhaus starben einige Kinder.
Die deutsche Linke schockiert mich
Die Menschen wissen, dass es wieder passieren wird. Wie soll das Trauma der letzten Bombardierungen überwunden werden, wenn nur darauf gewartet wird, dass es wieder passiert? Wenn die Situation anders wäre, würden wir die Kilanis zu den Vorführungen in Europa einladen. Aber sie sind im Gefängnis Gazastreifen eingesperrt. Sie herauszuholen, ist fast unmöglich.
Hat sich die Suche nach Gerechtigkeit für Ibrahim mit den großen Demonstrationen für Gaza in diesem Sommer verändert?
Große Demonstrationen zu sehen, ist ermutigend. Es zeigt, dass die palästinensische Sache nicht in der Versenkung verschwindet. Die Frage der Gerechtigkeit für Palästina ist aktuell. Es ist wichtig, dass Demonstrationen für Gerechtigkeit und die Befreiung Palästinas weitergehen. Aber das reicht nicht. Wir müssen viel mehr Druck ausüben.
Warum?
Israel wird solange weitermachen, wie es völlige Straffreiheit für seine begangenen Verbrechen genießt. Und Israel genießt Straffreiheit, weil es von der internationalen Gemeinschaft gestützt wird. In diesem Sinne sind die Demonstrationen wichtig. Sie geben den palästinensischen Familien und Leidtragenden das Gefühl, dass sie gesehen werden – sie als Opfer anerkannt werden und Menschen sich mit ihnen solidarisieren.
Du kommst aus Frankreich , arbeitest aber manchmal in Deutschland. Hast Du Verständnis für die Abneigung großer Teile der deutschen Linken, Palästina und die Palästinenser:innen zu unterstützen?
Als ich nach Deutschland kam und mich mit Palästina beschäftigte, nahm ich an einigen Pro-Palästina Demonstrationen teil. Als ich herausfand, dass viele, sich selbst als links bezeichnende Deutsche, gegen die Rechte der Palästinenser:innen sind und das koloniale Projekt Israels blind unterstützen, war das ein großer Schock für mich (Lies hier das marx21-FAQ: »Die Linke und die Palästina-Solidarität«).
Wenn in Frankreich sich Aktivist:innen zur radikalen Linken zugehörig fühlen, dann ist klar, dass man antikolonial ist. Dann ist klar, dass man antikoloniale Kämpfe unterstützt und damit auch das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit. Ich bemerkte bei den Menschen in diesem Kontext einen starken Hang zu antimuslimischem Rassismus.
Wie schwierig war es, die Vorführungen von »Not Just Your Picture« zu organisieren? Und wie hat das Publikum darauf reagiert?
Der Film wurde von einem sehr kleinen Team gedreht, und wenn es darum ging, Vorführungen zu organisieren, waren es im Grunde nur ich und Dror. Wir haben uns also bei Festivals beworben. Keines der deutschen Festivals hat ihn angenommen, was auch sehr aufschlussreich ist. Dazu gehörten auch Festivals, die sich explizit mit Menschenrechten beschäftigen. Wir hatten einige palästinensische Filmfestivals, die den Film angenommen haben, was sehr schön ist. »Palästina Spricht« ist zum Beispiel bereit, über ihre lokalen Gruppen Vorführungen zu organisieren. Wir freuen uns über diese Partnerschaft.
Interessierte können uns auf der Website kontaktieren. Dror Dayan und ich oder Ramsis Kilani sind im Rahmen unserer Möglichkeiten bereit, an einer Debatte teilzunehmen. Das Ziel des Films ist es, eine Debatte über die israelische Straflosigkeit und die Mitschuld der europäischen Staaten an der Situation zu führen. Wir hoffen auf viele Vorführungen und Diskussionen.
Du bist auch Mitglied des Fotograf:innenkollektivs Activestills. Kannst Du uns ein wenig darüber erzählen, wer Activestills ist und was ihr macht?
Das Kollektiv wurde 2005 von einer Gruppe von Fotograf:innen gegründet, die an Demonstrationen in Palästina teilnahmen und keine Möglichkeit fanden, ihre Fotos in die Mainstream-Medien zu bringen. Die Medien waren nicht an Fotos vom palästinensischen Widerstand interessiert.
So entstand die Idee, ein Kollektiv zu gründen und die Fotos auf die Straße zu bringen, um das Publikum direkt anzusprechen. Seitdem hat sich das Kollektiv Activestills weiterentwickelt und berichtet über viele Themen. Der Schwerpunkt liegt auf Palästina. Wir verstehen Fotografie als Werkzeug, um Ungerechtigkeiten aufzudecken.
Von Zeit zu Zeit machen wir immer noch Straßenausstellungen, aber unsere Hauptarbeit besteht im Ausbau unseres Archivs. Wir haben mittlerweile mehr als 45.000 Fotos auf unserer Webseite. Ein riesiges Archiv über Kämpfe und Menschenrechte in Palästina/Israel.
Hast Du schon irgendwelche zukünftigen Projekte geplant?
Im Moment dokumentiere ich einen lokalen Kampf in Frankreich über die Gärten der Vertus-Arbeiter in Aubervilliers, die durch den Bau eines Mega-Wasserzentrums für die Olympischen Spiele 2024 bedroht sind. Diesen Kampf verfolge ich seit einem Jahr. Nicht, um einen Dokumentarfilm zu drehen, sondern um ein langfristiges Fotoprojekt zu realisieren.
Ich konzentriere mich jetzt mehr auf französische Themen, aber natürlich hoffe ich, bald nach Palästina zurückzukehren und meine Dokumentation dort fortzusetzen.
Wie können die Leute »Not Just Your Picture« sehen? Oder besser noch, wie können sie eine Vorführung organisieren?
Die Leute können sich mit uns in Verbindung setzen, um Vorführungen zu organisieren. Irgendwann werden wir den Film der Öffentlichkeit online zur Verfügung stellen. Bis dahin wollen wir weitere Vorführungen abhalten.
Abschließend: Euer Film ist sehenswert und die Geschichte, die er erzählt, ist zum Verzweifeln. Hast Du eine Botschaft der Hoffnung für uns?
Hoffnung ist immer eine Herausforderung, wenn es um Palästina geht, denn wir haben es mit so vielen schrecklichen Verbrechen zu tun, die seit vielen Jahrzehnten begangen werden. Die Situation vor Ort wird nicht besser, wenn nicht sogar schlechter. Es kann also sein, dass wir manchmal von Verzweiflung überwältigt sind, aber das dürfen wir nicht zulassen. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Es ist eine Frage der Solidarität. Für mich besteht die größte Hoffnung im Moment darin, die neue Welle des Widerstands zu sehen, die in Jerusalem durch den Kampf im Viertel Sheikh Jarrah und nach den Bombenangriffen in Gaza ausgelöst wurde – wie sehr sich die Menschen in Palästina erhoben und eine noch nie dagewesene Einigkeit in den palästinensischen Gebieten und über die Grenzen hinaus gezeigt haben. Das ist neu und sehr wichtig. Für mich war es bewegend, Ramsis bei der Vorführung im Rahmen des »Palästinensischen Filmfestivals« in Paris genau das sagen zu hören. Das ist Inspiration für mich.
Im Film ist die Geschichte absolut herzzerreißend, aber wir haben auch versucht zu zeigen, wie die Mitglieder der Kilani Familie reagieren, ihre Menschlichkeit, ihre Trauer, aber auch ihre Stärke, die Liebe zwischen ihnen, die Art und Weise, wie sie ihren Schmerz verarbeiten und ihn in ihren Kampf für Gerechtigkeit nach außen tragen. Ich hoffe, dass die Menschen das aus dem Film mitnehmen können. Denn das ist es, was ich mitgenommen habe, als ich so viel Zeit mit ihnen verbracht habe.
Anne, vielen Dank für das Gespräch.
Der Film
Not Just Your Picture
Dokumentarfilm
Regie: Anne Paq, Dror Dayan
Ungarn 2020
Deutsch / Englisch / Arabisch
56 Minuten
Interview: Phil Butland.
Organisiert Vorführungen von »Not Just Your Picture« in eurer Stadt. Kontakt: Anne via E-Mail: info[at]notjustyourpicture.com.
Weitere Informationen über den Film finden unter notjustyourpicture.com
Schlagwörter: Kultur, Palästina