Der Wunsch nach »Normalität« ist verständlich. Doch die Pandemie ist weder vorbei, noch wird sie durch einfaches Ignorieren verschwinden. Im Gegenteil: Die turbulenteste Phase in der Entwicklung von Corona liegt vielleicht noch vor uns. Von Yaak Pabst
Die Pandemie wütet und bricht traurige Rekorde. Innerhalb des letzten Jahres hat sich die Anzahl der Infizierten weltweit auf mittlerweile über 230 Millionen fast verdreifacht, ebenso die Zahl der Toten von 1,9 Millionen auf mehr als 4,8 Millionen. In den USA sind mittlerweile mehr Menschen an COVID-19 gestorben als durch die verheerende Spanische Grippe 1918 – und das trotz des medizinischen Fortschritts der letzten 100 Jahre.
Alle Maßnahmen gegen Corona einstellen?
Obwohl die Gefahren, die von Corona ausgehen, wissenschaftlich sehr gut dokumentiert sind, brechen die Forderungen nicht ab, alle Maßnahmen gegen Corona einzustellen. Erst kürzlich forderte Kassenärztechef Andreas Gassen einen »Freedom Day!«, bei dem alle Beschränkungen aufgehoben werden sollten. Dass Reiche und Vertreter:innen des Establishments die Pandemie nicht so ernst nehmen, verwundert kaum. Sie haben mit Corona wenig Probleme – es sei denn, durch Gegenmaßnahmen werden ihre wirtschaftlichen Aktivitäten eingeschränkt.
Jetzt rächt sich, dass das Virus nicht radikal eingedämmt wurde
Aber auch unter Lohnabhängigen und ihren Familien wächst im zweiten Jahr der Pandemie der Wunsch nach Normalität. Das ist verständlich, weil die Regierung die Pandemiebekämpfung vor allem auf unseren Schultern abwälzt. Aber die Pandemie ist weder vorbei noch wird sie so schnell verschwinden. Im Gegenteil: Ohne Gegenmaßnahmen wird sie länger dauern und droht, noch schlimmer zu werden. Der Grund dafür ist zum einen die Evolution des Virus selbst, aber vor allem die Reaktion der Regierenden auf die Pandemie, die dem Virus ein ums andere Mal eine neue Chance geben. SARS-CoV-2 hat eine einzige Schwachstelle: Es ist angewiesen auf menschliche Wirt:innen, um zu überleben und sich zu vermehren. Werden dem Virus die Wirt:innen entzogen, stirbt das Virus allmählich ab.
Die gescheiterten Anti-Corona-Maßnahmen der Regierenden
Die Politik fast aller Staaten war allerdings nie darauf ausgerichtet, diese Schwachstelle zu nutzen und das Virus radikal einzudämmen, sondern nur seine Ausbreitung auf ein bestimmtes Niveau zu drücken. Diese Strategie scheiterte, weil sich die Virusverbreitung aufgrund der Tendenz zur exponentiellen Zunahme der Ansteckungen nicht einfach kontrollieren lässt. Kein einziges Land konnte mit dieser Strategie die Pandemie nachhaltig eindämmen. SARS-CoV-2 konnte sich vor diesem Hintergrund weltweit millionenfach ausbreiten. Durch Mutationen wurde das Virus innerhalb kürzester Zeit ansteckender und gefährlicher. So folgten auf die erste Welle eine zweite und dritte Welle und jetzt erleben wir die vierte Welle. Nach jeder Welle versprachen die Regierenden, dass es die letzte gewesen sein sollte und ein Ende der Pandemie in Sicht sei.
Worst Case ist eine impfresistente Super-Mutante
Jetzt wiederholt sich das Trauerspiel, aber möglicherweise mit höherem Einsatz – denn mittlerweile ist ein Teil der Bevölkerung immun genug, um einen evolutionären Wettbewerb zu entfachen, der dazu führen könnte, dass sich Mutationen entwickeln, die den Impfschutz unterlaufen. Der brasilianische Forscher Lucas Ferrante, der als Biologe am nationalen Institut für Amazonasforschung in Manaus arbeitet, warnte bereits im März 2021: »Wir sehen jetzt schon Menschen, die gleichzeitig mit zwei Coronavarianten infiziert sind, also mit der britischen und der brasilianischen. Neue Varianten können nicht nur durch Mutationen, sondern auch durch Kreuzung entstehen. Und ich befürchte, dass sich ein impfresistenter Supervirus entwickelt.«
Die Pandemie, Corona und neue Mutationen
Gerade weil so viele Menschen sich noch mit dem Virus anstecken, hat SARS-CoV-2 reichlich Gelegenheit, neue Mutationen hervorzubringen. Obwohl die Corona-Impfstoffe bisher gut schützen, zeigen die Erfahrungen mit anderen Viren, dass sich diese auch so weiterentwickeln können, dass sie sich der Schutzwirkung der Impfung zu entziehen. Solche Fluchtmutationen sind deshalb so besorgniserregend, weil es die Menschheit zwingen könnte, die Impfstoffe ständig zu aktualisieren, wie es bei der Grippe der Fall ist.
Doch im Unterschied zur Grippeimpfung – die in Deutschland nur an ein paar Millionen Menschen verabreicht wird – müsste die Impfung gegen Corona regelmäßig für die gesamte Bevölkerung stattfinden. Für die Pharmaindustrie ein feuchter Traum. Für die meisten Staaten jedoch kaum umsetzbar – nach einem Jahr Impfkampagne sind weltweit gerade erst 40 Prozent vollständig geimpft. Wie eine dauerhafte Impfkampagne in diesem Größenmaßstab wirklich erfolgreich oragnisiert werden könnte, wird kaum gesprochen.
Corona: Was heißt eigentlich endemisch?
Im Gegenteil: Wenn über die Zukunft von SARS-CoV-2 diskutiert wird, wird oft davon geredet, dass das Virus jetzt »endemisch« werde. Bei manchen hört sich das wie eine gute Nachricht an, weil das Virus sich angeblich zu einer harmlosen Erkältung entwickeln würde. Es verliere seinen Schrecken (Merkel). Doch ein großes Missverständnis dabei ist, dass »endemisch« eben nicht automatisch »weniger gefährlich« heißt. Die Epidemiologin und Mitherausgeberin des American Journal of Epidemiology, Ellie Murray, schreibt auf Twitter: »Ob eine Krankheit endemisch, epidemieartig, eliminiert oder ausgerottet ist, sagt nichts darüber aus, wie ernst diese Krankheit ist, und nichts darüber, wie viele Menschen erkranken oder sterben.« Endemisch bedeutet einfach nur, dass ein Virus nicht mehr weggeht und dauerhaft da sein wird.
Die »Mit-dem Virus-Leben«-Linie
Zurzeit bedeutet diese Aussicht nichts Gutes. Denn die Impfstoffe sind weltweit begrenzt, der Immunschutz hält nur für eine gewisse Dauer an und Immunisierte können durchaus infektiös und damit eine Gefahr für Ungeimpfte sein. Gleichzeitig ignorieren die meisten Regierungen wieder einmal die Warnungen von Virolog:innen und Epidemiolog:innen und beenden Schutzmaßnahmen. All das ist eine gefährlich Mischung. Dass Corona noch nicht eliminiert wurde, liegt vor allem daran, dass die Bekämpfung der Pandemie dem Interesse nach möglichst reibungslosem Ablauf des kapitalistischen Wirtschaftsbetriebes untergeordnet wird. Während zu Beginn der Pandemie die meisten Staaten eine Mittel-Inzidenz-Strategie verfolgten (Flatten-The-Curve) gingen die führenden Industriestaaten mit Verfügbarkeit der Impfstoffe für ihre Länder zu einer »Mit-dem Virus-Leben«-Linie über. Mit Rücksicht auf die Profitinteressen der Wirtschaft wurden teils hohe Ansteckungsraten akzeptiert, auch in der Hoffnung, die Impfungen würden das Virus schon in die Knie zwingen. Doch die Ernüchterung kam schnell. Die Annahme, dass eine Immunität von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung dem Virus keine weitere Chance der Ausbreitung bieten würde, stellte sich als falsch heraus.
Die Evolution des Virus und der Immunschutz
Ein Grund dafür ist auch die Evolution des Virus selbst. Wissenschaftler:innen warnten von Beginn an vor neuen gefährlicheren Virusvarianten. Und genau das trat ein: Der zirkulierende Delta-Stamm – eine von zurzeit vier »besorgniserregenden Varianten« – unterscheidet sich so radikal von dem »Wildtyp« des Virus, dass viele Länder trotz fortschreitender Impfkampagne von weiteren Infektionswellen betroffen sind. Das Virus hat nach wie vor ein großes Reservoir an Wirt:innen – vor allem unter Ungeimpften. Geimpfte Menschen sind zwar auch bei der Delta-Variante gut vor schwerem Verlauf, Krankenhausaufenthalt und Tod geschützt. Sie können das Virus jedoch an andere weitergeben und der Immunschutz nimmt mit der Zeit ab. Da es bei SARS-CoV-2 – anders als etwa bei Masern – nicht zu einer lebenslangen Immunität kommt, muss die Impfung von einem Großteil der Bevölkerung möglichst in einem kurzen Zeitraum regelmäßig erneuert werden, um überhaupt so etwas wie Herdenimmunität erzielen und halten zu können. Dies müsste zudem auf der ganzen Welt geschehen, da die weltweite Mobilität das Virus nach dem Abklingen der Immunität nur erneut zurückbringen würde.
Warum stockt die Impfkampagne?
Doch davon sind wir meilenweit entfernt. Während das Infektionsgeschehen floriert, stockt die Impfkampagne. Das gilt umso mehr im Weltmaßstab: Erst etwas mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung ist überhaupt geimpft. Weniger als ein Prozent der Menschen der einkommensschwächsten Länder der Welt sind vollständig geimpft. Fast 90 Prozent der Menschen in Afrika sind noch gar nicht geimpft. Das Ziel der internationalen Impfstoffinitiative Covax, bis Ende des Jahres zwei Milliarden Impfstoffdosen für Menschen in armen Ländern zur Verfügung zu stellen, wird nie erreicht werden. Das waren leere Versprechungen. Bisher sind nur 300 Millionen Impfdosen durch Covax verteilt worden. Die EU-Staaten haben 248 Millionen Dosen zugesagt, bisher aber nur 20 Millionen Dosen abgegeben.
Der Impfstoffnationalismus hat die nachhaltige Bekämpfung der Pandemie verhindert
Auch hier werden die Grenzen eines auf Konkurrenz und Profit ausgerichteten Wirtschaftssystems deutlich. Zwar konnte schnell ein Impfstoff entwickelt werden, die Produktion hinkt aber dem Bedarf weit hinterher und es entwickelte sich ein widerlicher Impfstoffnationalismus. Es kam wie es viele linke Kritiker:innen vorausgesagt hatten. Die reichen Länder haben zusätzliche Impfstoffe vom Weltmarkt weg gekauft – der Impfstoffnationalismus hat die nachhaltige Bekämpfung der Pandemie verhindert. Konzerne wie Biontech, Pfizer, Moderna oder Johnson&Johnson behindern in Zusammenarbeit mit ihren Regierungen den fairen weltweiten Zugang zu lebensrettenden Impfungen. In einem neuen Bericht dokumentiert Amnesty International, wie die Unternehmen Profite über die Gesundheit von Millionen Menschen und die wirksame internationale Bekämpfung der Pandemie gestellt haben. Die Pharmakonzerne haben aus Gier und Profitgründen die Impfstoffe absichtlich knapp gehalten, um hohe Preise erzielen zu können. Linke Forderungen für die Aufhebung des Patentschutzes, damit mehr Impfstoffe hergestellt werden können, bleiben deswegen zentral.
Der Treibstoff der Pandemie
Das Desaster bei der Impfstoffherstellung und Verteilung ist jedoch nur eine Quelle des ständig wieder aufflammenden pandemischen Geschehens. Eine andere ist, dass die Regierenden während der Impfkampagne fast überall zum gesellschaftlichen Normalbetrieb übergingen und damit dem Virus eine erneute Angriffsfläche boten. Ein Blick in Länder mit relativ hohen Impfquoten zeigt, wie anfällig diese Strategie ist.
Beispiel Israel
Trotz zu Beginn hoher Impfquoten ist dort die Zahl der Neuinfektionen mit Corona auf den höchsten Stand seit Beginn der Pandemie gestiegen – teilweise lag die Inzidenz bei über 1000. Israel hatte, trotz Warnungen von Wissenschaftler:innen, während der Impfkampagne umfassend »gelockert« und sogar die Maskenpflicht fallen gelassen. Dann wurde sie wieder eingeführt und die Regierung muss (wie in den Wellen davor) weitere nicht-pharmazeutische Maßnahmen umsetzen, damit die Weiterverbreitung des Virus gestoppt werden kann. Israel ist keine Ausnahme. Auch in anderen Ländern folgt die Pandemie einem ähnlichen Muster. Weil die Regierenden zu schnell eine »Normalisierung« eingeleitet haben, kommt sie mit ähnlicher Wucht zurück.
Beispiel Großbritannien
Dort hob die Regierung die Coronabeschränkungen weitgehend auf. Zunächst gingen die Fallzahlen nach dem »Freedom Day« (Tag der Freiheit) in England zurück. Mittlerweile steigen sie jedoch wieder und die Inzidenz liegt in den letzten Monaten kontinuierlich bei über 450 auf hohem Niveau (Stand: September). Jeden Tag müssen wieder mehrere Hundert Menschen ins Krankenhaus eingewiesen werden – mehr als 900 liegen auf den Intensivstationen, mehr als 7000 Menschen sind wegen COVID-19 im Krankenhaus. Großbritannien ist nach Russland noch immer das Land mit den meisten Corona-Toten in Europa. Mehrfach sind in Großbritannien in der vergangenen Zeit wieder mehr als 200 Corona-Tote pro Tag gemeldet worden. Auch hier dasselbe Bild: Das Virus trifft vor allem Ungeimpfte, die arme und arbeitenden Bevölkerung sowie ihre Familien – und Schüler:innen und Studierende.
Und in Deutschland?
Auch in Deutschland hat das Virus noch ein großes Reservoir. Mehr als 35 Prozent der Bevölkerung in Deutschland hat immer noch keinen Impfschutz – darunter auch etwa zehn Millionen Kinder, die dem Virus schutzlos ausgeliefert sind, weil sie sich zur Zeit noch nicht impfen lassen können. In diesem Kontext von »Normalisierung« zu sprechen ist fahrlässig – den Kindern, aber auch ihren Familien gegenüber.
Corona Erkrankungen bei Kindern
Es ist nicht klar, welche Auswirkungen eine COVID-19 Erkrankung bei Kindern hat. Selbst bei leichten Krankheitsverläufen könnten Symptome auftreten, die noch Monate nach der Erkrankung anhalten. Die meisten Studien beruhen jedoch auf älteren Virusvarianten. Die Datenlage bezüglich Delta ist bisher absolut dünn. Ein Blick in jene Länder, in denen Delta schon länger vorherrschend ist, lässt wenig Gutes erahnen. In den USA werden die höchsten Werte von Krankenhauseinweisungen unter Kindern und Jugendlichen seit Beginn der Pandemie gemessen.
Das Gesundheitssystem in manchen Staaten war völlig überlastet und auch die Kinderkrankenhäuser kamen an den Rand ihrer Kapazitäten.
Corona: Schulen und Kitas sind Hotspots
Die Delta-Variante, die nach jetziger Einschätzung bis zu 60 Prozent ansteckender ist als vorherige Varianten, kann sich unter Kindern, Jugendlichen und anderen nicht geimpften Teilen der Bevölkerung wie ein Lauffeuer verbreiten. Schulen und Kitas sind Hotspots. Es wäre nicht schwer, das Virus dort zu stoppen. Aber dafür wäre nicht »Normalität« angesagt, sondern wirksame Maßnahmen. Dazu gehört an erster Stelle Masken tragen, tägliche Massentests und Kontaktnachverfolgung. Aber auch Wechselunterricht und Schulschließungen dürfen nicht ausgeschlossen werden.
Corona: Was jetzt nötig wäre
Um ein sich exponentiell verbreitendes Virus zu stoppen, braucht es das schnelle Unterbrechen von Infektionsketten – auch und gerade während einer Impfkampagne. Wird dies nicht gemacht, droht neues Unheil. Natürlich müssen die Impfungen weitergeführt werden, aber auch hier treffen viele Regierungen – vor allem die Bundesregierung – die falschen Entscheidungen. Zum einen werden die Patente für die Impfstoffproduktion nicht freigegeben, so dass weltweit nicht genügend Impfstoff zur Verfügung steht. Zum anderen sind die Impfkampagnen schlecht ausgeführt. In Deutschland werden Impfzentren abgebaut und es gibt kaum persönliche Aufklärung zur Impfung vor allem unter den Bevölkerungsteilen, die noch nicht geimpft sind.
Ja zur Impfung, Nein zur Impfpflicht
Weil die Regierungen sich aber auf das Impfen verlassen haben, greifen sie mittlerweile zu Zwang und Repression, um die Impfungen in der Bevölkerung durchzusetzen. Doch das wird nach hinten losgehen. Dass es auch anders geht, zeigt Portugal. Das Land erreichte innerhalb weniger Monate die höchste Impfquote weltweit – ohne Zwang und repressive Vorschriften. 85 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft. Bei den 60 bis 69-Jährigen sind es sogar über 96 Prozent, bei den 70 bis 79-Jährigen 100 Prozent und bei den über 80-Jährigen über 98 Prozent. Klar ist: Je weniger Infektionen in einer Gesellschaft zugelassen werden, umso besser. Die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek erklärt: »Diese Mutationen entstehen zufällig, und neue Varianten sind auch zufällig, aber umso weniger Infektionen man zulässt, umso weniger Replikationen man zulässt, umso weniger Varianten wird man erzeugen.«
Die Pandemiebekämpfung ist eine Klassenfrage
Doch ähnlich wie beim Klimawandel handeln Regierungen nicht nach rationalen, nachhaltigen oder wissenschaftlichen Kriterien. Es zeigt sich: Die Pandemiebekämpfung ist eine Klassenfrage. Das Kapital muss akkumulieren und es lässt sich nicht von einem Virus aufhalten. Eben weil die Nationalstaaten strukturell abhängig von der Kapitalakkumulation sind, fügen sie sich den von den Kapitalbesitzenden formulierten Zielen zur Wiederherstellung einer »neuen Normalität«, in der die Profitmaximierung trotz Pandemie wieder ungehindert organisiert werden kann. Selbst Staaten, die zuvor versuchten das Virus auszurotten, wechselten die Strategie, weil sie im internationalen Konkurrenzkampf das Nachsehen hatten und absehbar war, dass die meisten Staaten der Welt nicht bereit sind, ein Eliminierung von SARS-CoV-2 anzustreben.
Dieser Prozess ist nicht frei von Widersprüchen, weil bestimmte Bereiche der Wirtschaft von den Maßnahmen härter getroffen wurden als andere und Länder unterschiedliche wirtschaftliche und medizinische Ressourcen zur Verfügung haben. Aber die politische Dynamik hinter der »Mit dem Virus Leben«-Linie ist von dem Grundinteresse genährt, den Konzernen ideale Akkumulationsbedingungen zu schaffen. Es ist wiederum der auf den Weltmärkten ungebrochene Konkurrenzkampf um Rohstoffe und Absatzmärkte, der diese Dynamik entfacht. Mit der wirksamen Bekämpfung einer Pandemie hat das Ganze nichts zu tun.
Das Versagen der Herrschenden
Wir sollten bei der Betrachtung und Kritik der Pandemiepolitik eines nicht vergessen: Wir sind in diesem Schlamassel, weil die meisten Regierungen weltweit, sowohl in der Ursachenbekämpfung von Seuchen als auch in der Seuchen-Prävention, und nach Ausbruch der Seuche im klassischen »Containment«, versagt haben. Die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, ist nicht gebannt. Das liegt nicht zuvorderst an dem Virus selbst, sondern an der politischen Reaktion auf die Seuche.
Die Linke kann keinen Bogen um die Frage der Pandemiebekämpfung machen
Das Virus ist gefährlich, aber noch bedrohlicher ist das Agieren der politischen Klasse. Das betrifft die Strategie der akuten Notfallmaßnahmen, aber auch die Frage der Ursachenbekämpfung von Pandemien – also den Zusammenhang von Klimawandel, Entwaldung, der industriellen Massentierhaltung, weltweiter Armut und der Entstehung von Zoonosen. Delta war nur ein Vorspiel für die nächste Pandemie, und die Welt hat es vergeigt. Das liegt auf der abstrakten Ebene im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise, die einer nachhaltige Bekämpfung der Pandemie entgegensteht, und auf einer konkreten Ebene an der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte – vor allem im Gesundheitswesen.
Die Linke kann keinen Bogen um die Frage der Pandemiebekämpfung machen. Wenn sie ausstrahlen und gewinnen will, muss sie Forderungen stellen und Kämpfe organisieren, die an den medizinischen und sozialen Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung orientiert sind. Die Linke steht in der Pflicht, nicht nur gegen den unsozialen und undemokratischen Charakter der Coronamaßnahmen einzutreten, sie muss auch Konzepte einfordern, die eine schnelle, aber ebenso sichere Rückkehr zur »Normalität« möglich machen. Wenn die letzten zwei Jahre eines gelehrt haben, dann, dass wir das Virus nicht unterschätzen dürfen. Unsere Regierungen machen gerade aber genau das. Die Frage ist, ob die Linke sie damit durchkommen lässt.
Bild: Taylor Brandon / Unsplash
Schlagwörter: Corona, Inland