Wie der rechte Kampfbegriff des Islamismus eine ganze Weltreligion unter Generalverdacht stellt. Von Martin Haller
»Islamismus« sei der »wohl blindeste Fleck« der politischen Linken, meinte Kevin Kühnert in einem Gastbeitrag für den »Spiegel« im vergangenen Jahr. Der Fraktionsvorsitzende der LINKEN Dietmar Bartsch pflichtete Kühnert bei und kritisierte, die Linke würde »die Islamismuskritik den Rechten überlassen«. Doch was versteht Bartsch unter »Islamismuskritik« und wie grenzt er sie von der angeblichen »Islamkritik« ab, unter deren Deckmantel Rechte und Rassist:innen ihre Hetze gegen Muslime und »den Islam« betreiben?
Verdeckte Hetze gegen Muslime
»Der Islam und Muslime gehören zu Deutschland und Europa. Islamismus hingegen steht für Fanatismus und Terrorismus. Das ist mit unseren demokratischen Werten nicht vereinbar und muss bekämpft werden«, so Bartsch. Er stützt sich damit auf eine Definition des Begriffs »Islamismus«, wie sie im heutigen Sprachgebrauch weit verbreitet ist: »Islamisten« seien Fanatiker und Terroristen, die im Namen des Islam schlimmste Gewalttaten begehen und die ganze Welt terrorisieren und unterjochen wollen.
Der Islam an sich sowie die große Mehrheit der Muslime, also die Religion und ihre Gläubigen, werden von Bartsch gegen den grassierenden antimuslimischen Rassismus in Schutz genommen, die »Islamisten« gelte es hingegen entschlossen zu bekämpfen.
Was hier auf den ersten Blick als folgerichtig erscheint, erweist sich bei einem genaueren Blick auf den Diskurs über Islam, Muslime und den sogenannten Islamismus als hoch problematisch. Denn Mit dem Suffix –ismus wurde aus dem Namen der islamischen Religion ein Schreckgespenst gemacht. Er dient Rechten und Rassist:innen, um Muslime unter Generalverdacht zu stellen sowie als Rechtfertigung für staatliche Repression. Um zu verstehen, warum Linke einen schweren Fehler begehen, wenn sie meinen, mit »Islamismuskritik« der rassistischen Stimmungsmache der Rechten gegen Muslime etwas entgegenzusetzen, lohnt ein Blick auf die Frage, was mit dem Begriff des »Islamismus« überhaupt gemeint ist, in welchem Kontext er entstanden ist und wie sich seine Bedeutung und Verwendung seither gewandelt haben.
Ursprünge der Begrifflichkeit
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde »Islamismus« in Frankreich, aber auch in Deutschland, noch synonym mit Islam verwendet. Insbesondere Denker der Aufklärung wie Voltaire verwendeten den Begriff als Alternative zur damals verbreiteten Bezeichnung »Mohammedanismus«.
Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich überall in Europa der Begriff Islam zur Bezeichnung der Weltreligion durch. »Islamismus« wurde erst wieder in den 1970er Jahren en vogue angesichts des Wirkens des iranischen Ajatollahs Chomeini in Paris sowie den in Ägypten und Algerien aufkeimenden Protestbewegungen, die sich auf den Islam bezogen. Als »islamistisch« wurden dabei verschiedenste politische Kräfte gekennzeichnet, die sich in unterschiedlicher Weise auf den Islam bezogen – darunter sowohl extrem konservative als auch gemäßigte Gruppierungen, sowie antikoloniale Bewegungen in mehrheitlich muslimischen Ländern.
Linke Stimmen kritisierten schon damals den Begriff aufgrund seiner Unschärfe und mangelnden Aussagekraft sowie der Tatsache, dass unter »Islamismus« völlig verschiedene soziale und politische Kräfte zusammengefasst würden, die teilweise diametral entgegengesetzte Interessen und politische Ausrichtungen vertreten würden, je nachdem welche gesellschaftlichen Akteure und sozialen Klassen dahinter stünden. Es gebe im Islam schlicht nicht die eine konsistente religiöse Doktrin, die sich auf den Bereich der Politik anwenden ließe. Zudem gaben Kritiker:innen zu bedenken, dass die Verwendung des Begriffs »Islamismus« es aufgrund seiner Geschichte als Synonym zum Islam erschweren würde, zwischen einfachen Gläubigen und verschiedensten politischen Kräften in islamischen Ländern zu unterscheiden.
Wandel des Begriffs »Islamismus«
Das Aufkommen der neuen sich auf den Islam berufenden Kräfte analysierte sie zugleich als Folge des Kolonialismus und Neokolonislismus des »Westens« sowie der Enttäuschung über die säkularen Kräfte in der Region, die erst einmal an der Macht nicht selten bald ihren Frieden mit den imperialistischen Unterdrückern gemacht hatten.
In all diesen Kritikpunkten haben sie bis heute Recht behalten. Dennoch hat sich der Begriff des »Islamismus« in seiner Bedeutung und Verwendung seither deutlich gewandelt. Während das Wort seinerzeit zur Bezeichnung von Phänomenen verwendet wurde, die im Nahen Osten und Nordafrika mit verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Parteien, Reformbewegungen und Revolutionsbewegungen in Verbindung gebracht wurden, wurde der Begriff nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im Sprachgebrauch in das semantische Feld von Terror und Gewalt verschoben. Seither erlebte die Bezeichnung eine Hochkonjunktur und wird im öffentlichen Diskurs mit Formulierungen wie »islamischer Terrorismus« oder auch »Dschihadismus« – ein Begriff, der es ebenfalls in den allgemeinen Sprachgebrauch geschafft hat – synonym verwendet.
Orientalistische Vorstellungen
Die neue Wahrnehmung des Wortes »Islamismus« in Verbindung mit Gewalt und Terror und als Gegenkultur zum »Westen« geht mit der orientalistischen Vorstellung vom »Islamismus« als Antithese zur Moderne einher. Dabei werden dem »Islamismus« mittelalterliche Eigenschaften zugeschrieben, wobei der »Westen« für die Moderne steht.
So ist auch heute der Begriff »Islamismus« keineswegs besser definiert. Und noch immer gibt es weder im wissenschaftlichen noch im medialen Diskurs eine Übereinstimmung darüber, wofür das Wort »Islamismus« eigentlich steht. Während es einerseits mit Terror »im Namen des Islam« gleichgesetzt wird, dient es andererseits zur Bezeichnung jeglicher politischer Ideologie oder Bewegung, die sich auf die islamische Religion bezieht. Deutlich wurde dies etwa infolge des Arabischen Frühlings, nachdem in Tunesien und Ägypten Revolutionen die langjährigen Diktaturen stürzten und in den ersten freien Wahlen mit Ennahda in Tunesien und den Muslimbrüdern in Ägypten jeweils religiös-orientierte konservative Parteien zur stärksten politischen Kraft wurden.
Diese bekamen in der deutschen Presse durchgängig das Label »islamistisch« aufgedrückt: »Die freie Welt wundert sich, wie Menschen, die für Freiheit, Demokratie und Prosperität kämpften, den Islamisten ihre Stimme geben konnten«, schrieb »Die Welt«. »Die Zeit« fragte sich: »Triumphieren dank der Demokratie nun Religion, Islam, Islamismus?« Und die »taz« beschwichtigte, dass trotz der Wahl der »Islamisten« in Tunesien »kein islamistischer Flächenbrand am Südufer des Mittelmeers« drohe.
Definitionen von »Islamismus«
Während der Begriff also einerseits für terroristische Gruppierungen wie al-Qaida verwendet wurde, diente er gleichzeitig zur Kennzeichnung religiös motivierter gewaltfreier Parteien wie der Ennahda in Tunesien. Bis heute werden in deutschen Medien moderat-konservative Reformkräfte regelmäßig mit denselben Ausdrücken belegt wie terroristische Vereinigungen und Attentäter.
Und auch in der Wissenschaft herrscht nicht ansatzweise Konsens darüber, was mit »Islamismus« gemeint ist. Wenngleich eine direkte Gleichsetzung mit Terrorismus unüblich ist, gehen auch hier die Meinungen weit auseinander. Eine gängige Verwendung entspricht der Definition, wie sie der Politologe und ehemalige Referatsleiter beim Verfassungsschutz Armin Pfahl-Traughber für die Bundeszentrale für politische Bildung vornimmt. Er bezeichnet »Islamismus« als »Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und Handlungen, die im Namen des Islam die Errichtung einer religiös legitimierten Gesellschafts- und Staatsordnung anstreben«.
Dazu zählen sowohl »gewaltgeneigte und reformorientierte Strömungen«, also einerseits terroristische Gruppierungen, andererseits aber auch Parteien, »welche auf parlamentarischem Weg nach erfolgreichen Wahlen wirken wollen«, sowie »Islamisten, die mehr auf die Sozialarbeit ausgerichtet sind«. Dennoch bezeichnet Pfahl-Traughber den »Islamismus« insgesamt als »eine Form des religiösen Extremismus, ein Phänomen des politischen Fundamentalismus und eine Variante des ideologischen Totalitarismus«. Es wird hier also unterstellt, dass im Prinzip jede Form von politischer Ideologie oder Bewegung, die sich auf den Islam beruft, »extremistisch«, »fundamentalistisch« und »totalitär« sei.
Warnungen vor »legalistischem Islamismus«
Dieser Definition schließt sich auch das Bundesamt für Verfassungsschutz an, das im »Islamismus eine religiös verbrämte Form des politischen Extremismus« sieht, die auf die »teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« abziele. Verdächtig macht sich somit jede:r Gläubige, die oder der sich in irgendeiner Form politisch betätigt. So warnt der Verfassungsschutz auch vor der Gefahr eines »legalistischen Islamismus«, worunter er vermeintliche »Islamisten« fasst, die zwar gewaltfrei und gesetzestreu agieren, aber angeblich andere Ziele hätten und ihre wahren Absichten verschleiern würden. Ähnliche Vorwürfe hören Musliminnen und Muslime oft. Ihr Eintreten für Gleichberechtigung und Solidarität, für Demokratie und Menschenwürde sei nur eine Tarnung ihrer eigentlichen demokratie- und menschenfeindlichen Absichten. Anknüpfend an antisemitische Denkmuster, nach denen Jüdinnen und Juden ihre eigenen Absichten verbergen würden, wird dies auch auf den Islam angewandt.
Der Gedanke, der dem zugrunde liegt, ist eine vermeintliche Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie und die Unterstellung, dass das Ziel aller Muslime, die politisch aktiv sind, die Errichtung eines »Kalifats« sei. Das ist nicht nur eine rassistische, sondern auch verschwörungstheoretische Annahme.
Hetze unter wissenschaftlichem Deckmantel
Eine andere einflussreiche Definition des »Islamismus« geht sogar noch weiter. Sie wird beispielsweise vom Islamwissenschaftler Tilman Nagel vertreten, der meint, eine Unterscheidung zwischen Islam und »Islamismus« sei generell »ohne Erkenntniswert«, da der Islam von Hause aus »fundamentalistisch« sei. »Islamismus« sei somit auch keine Fehlentwicklung des Islam, sondern vielmehr mit ihm identisch. Deshalb wehre sich die schweigende Mehrheit der Muslime auch nicht gegen religiös-motivierte Gewalt, weil sie aus ihrer Sicht gar kein Missbrauch sei, so Nagel.
Damit macht sich der renommierte Wissenschaftler zum Kronzeugen von Rassist:innen wie der Pegida-Bewegung oder der AfD, die die Weltreligion Islam mit »dem Islamismus« gleichsetzen und pauschal zu einer Religion der Gewalt, des Hasses und des Terrorismus erklären, die es aus Deutschland zu verbannen gelte. So stößt etwa Hans-Thomas Tillschneider vom neofaschistischen Flügel der AfD in das gleiche Horn, wenn er kritisiert, dass der Verfassungsschutz »die falsche Differenzierung in einen angeblich harmlosen Islam und einen gefährlichen Islamismus« reproduziere.
Rassistische Wissensproduktion
Nagel ist mit seiner islamfeindlichen Pauschalisierung alles andere als eine Randfigur im wissenschaftlichen Betrieb. Und auch im medialen Diskurs verschwimmen regelmäßig die Grenzen zwischen dem sogenannten Islamismus und der Religion des Islam. Diverse Titelgeschichten auflagenstarker Magazine wie »Spiegel«, »Stern« oder »Focus« reihen sich hier ein und porträtieren den Islam als böse, reaktionär und gewalttätig. Die Religion wird als aggressiv, unveränderlich, fremd und minderwertig dargestellt. Und sie wird immer wieder mit dem »Islamismus« gleichgesetzt.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Forderung nach einer linken »Islamismuskritik«, wie Dietmar Bartsch sie stellt, hochproblematisch ist. »Islamismus« ist nicht nur eine extrem schwammige Bezeichnung, mit der wahlweise Terroristen, verschiedenste politische Kräfte oder auch der Islam an sich und mit ihm alle Musliminnen und Muslime gekennzeichnet werden. Es ist ein rechter Kampfbegriff, dessen Übernahme durch die Linke dem Kampf gegen rechts einen Bärendienst erweist.
Kampfbegriff »politischer Islam«
Ähnlich verhält es sich bei dem Begriff »politischer Islam«, der im Verlaufe des vergangenen Jahrzehnts einen Aufschwung erfahren hat und ebenso wie »Islamismus« fast durchgängig negativ besetzt ist. Die Ethnologin und Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam Susanne Schröter verwendet den Begriff des »politischen Islam«, um eine angebliche Kulturfremdheit von Musliminnen und Muslimen zu unterstellen. »Politischer Islam« sei »eine Herrschaftsordnung, die einen fundamentalen Gegenentwurf zu Demokratie, Pluralismus und individuellen Freiheitsrechten darstellt«, so Schröter. Man stelle sich vor, dieser pauschale Vorwurf würde gegen politisches Christentum oder Judentum erhoben.
Tatsächlich legt der Begriff nahe, dass es per se falsch sei, wenn der Islam »politisch« ist – ein Vorwurf, der gegen keine andere Religion erhoben wird. Der Begriff ergibt auch deshalb keinen Sinn, weil Religionen sich nie im luftleeren Raum bewegen. Der Islam ist nicht nur die zweitgrößte Religion der Welt, sondern auch in Deutschland die Religion mit den nach dem Christentum meisten Gläubigen. Wie bei jeder anderen Religion gibt es im Islam viele verschiedene Strömungen, die beispielsweise als liberal, konservativ oder auch links eingestuft werden könnnen.
Doppelte Standards
Politisch ist auch ein islamischer Liberalismus oder ein islamischer Sozialismus, wie ihn manche antikapitalistischen Musliminnen und Muslime fordern. Politisch sind die Flüchtlingssolidarität, die viele Musliminnen und Muslimen auch religiös begründen, oder Aufrufe von Imamen gegen Nazi-Demonstrationen. Diese Formen des »politischen Islam« werden jedoch bewusst übergegangen. Denn anders als beim Christentum soll der politische Islam dem Negativen vorbehalten bleiben.
Und es ist längst nicht nur die radikale Rechte, die unter Berufung auf vermeintlichen »Islamismus« oder das Konsrukt des »politischen Islam« gegen Muslime agitiert. So verabschiedete die CSU – eine politische Partei, die den Bezug auf das Christentum im Namen trägt – auf ihrem Parteitag im Jahr 2016 einen Leitantrag, der mit dem Satz beginnt: »Der Politische Islam ist die größte Herausforderung unserer Zeit.« Unter Verweis auf den »legalistischen Islamismus« werden muslimische Organisationen und Verbände in Deutschland seit Jahren diskreditiert und vom Verfassungsschutz beobachtet. Dieser agiert nach der Logik der »Kontaktschuldthese«, wonach allein der Kontakt zu einer Organisation, die verdächtigt wird, Teil der Muslimbruderschaft zu sein, ausreicht, um ebenso ins Visier der Geheimdienste zu geraten.
Rassismus, Überwachung und Razzien
In Frankreich werden muslimische Organisationen, denen vorgeworfen wird, in den »politischen Islam« verwickelt zu sein, durch die Regierung von Emmanuel Macron reihenweise kriminalisiert. Dazu zählen auch Wohltätigkeitsorganisationen, Rechtshilfestellen oder antirassistische Gruppen. Innenminister Gérald Darmanin veranlasste Razzien bei mehr als fünfzig Nichtregierungsorganisationen und Moscheen sowie die Zwangsauflösung einiger von ihnen, darunter auch das »Kollektiv gegen Islamfeindlichkeit«.
Auch der ehemalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz forderte einen Strafbestand »politischen Islam« und veranlasste 2020 unter dem Namen »Operation Luxur« rassistische Groß-Razzien bei muslimischen Mitbürger:innen, die verdächtigt wurden, einen »politischen Islam« zu propagieren.
So dient auch dieser Begriff heute in erster Linie zur Stigmatisierung von Muslimen, dem Schüren von Rassismus und als Rechtfertigung für staatliche Repression. Er ist zu einem Kunstbegriff für Islamhasser geworden. Linke dürfen sich an diesem perfiden Spiel nicht beteiligen. Statt »Islamismuskritik« oder Warnungen vor einem »politischen Islam« braucht es Solidarität mit den Betroffenen des Rassismus, der sich mithilfe dieser Kampfbegriffe zu tarnen versucht.
Foto: m.p.3. via flickr.com
Schlagwörter: Antimuslimischer Rassismus, Islam, Islamfeindlichkeit, Islamismus