Das Unbehagen von Amnesty Deutschland, den neuen Bericht über die israelische Apartheid zu veröffentlichen, wirft ein Schlaglicht auf den traurigen Zustand des Menschenrechtsdiskurses in diesem Land. Von Michael Sappir
Anfang Februar beteiligte sich die deutsche Sektion von Amnesty International, scheinbar etwas lustlos, an der Vorstellung des neuen Berichts der Organisation, in dem der Staat Israel beschuldigt wird, das Verbrechen der Apartheid gegen Palästinenser:innen zu begehen – und wo entsprechende Konsequenzen gefordert werden, wie etwa gezielte Sanktionen und die Strafverfolgung israelischer Täter.
Apartheid beim Namen nennen
Einen Tag später wurde die Ankündigung des Berichts von der Website der Organisation gelöscht, so dass in deutscher Sprach nur noch separate Übersichten auf den Websites der österreichischen beziehungsweise der schweizerischen Sektionen zu finden waren. Zeitweise konnte man unter »Aktuelles« auf der Website der deutschen Sektion zwar noch eine Überschrift zum Thema finden, doch führte diese auf die internationale Homepage des Berichts. Später erschien ein neues Statement der deutschen Sektion und eine neue Informationsseite über den Bericht.
Die schnell gelöschte deutsche Ankündigung (die zwischengespeichert wurde und hier weiterhin abrufbar ist) war nicht genau das, was man erwartet hätte. Diese begann mit einer eher allgemeinen Beschreibung des Berichts, in der Amnesty gerade die Anerkennung des Staates Israel und dessen Recht betont, »und nach internationalem Recht die Pflicht, auch Israelis zu schützen. Abschließend ruft Amnesty International die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas dazu auf, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten – während beide auf der viel längeren internationalen Kampagnenseite gar nicht erst erwähnt werden.«
Ganz zum Schluss folgte ein noch ungewöhnlicherer Disclaimer:
»In eigener Sache: In Deutschland wurde die systematische Vernichtung jüdischer Menschen geplant und umgesetzt. Antisemitische gewalttätige Übergriffe, Sachbeschädigungen oder Verschwörungsideologien sind in Deutschland präsent und auf einem beunruhigenden Höchststand. Daraus erwächst für die deutsche Amnesty-Sektion eine besondere Verantwortung. Im nationalen aktuellen wie historischen Kontext ist eine objektive, sachbezogene Debatte zu der vom Bericht vorgenommenen Einordnung nur schwer möglich. Um der Gefahr der Instrumentalisierung oder Missinterpretationen des Berichts entgegen zu wirken, wird die deutsche Amnesty-Sektion zu diesem Bericht keine Aktivitäten planen und durchführen.«
Diese Kontextualisierung ist zwar seltsam, im deutschen Kontext aber nicht ungewohnt. Wirklich bizarr wird es in den letzten beiden Sätzen, in denen eine Vorgehensweise dargelegt wird, die der vorgeschlagenen Argumentation diametral entgegengesetzt zu sein scheint:
»Um der Gefahr der Instrumentalisierung oder Missinterpretationen des Berichts entgegen zu wirken, wird die deutsche Amnesty-Sektion zu diesem Bericht keine Aktivitäten planen und durchführen.«
Angesichts der Notwendigkeit einer substanziellen Debatte und der Befürchtung, dass der Bericht in Deutschland falsch interpretiert werden könnte, beschloss die lokale Sektion zunächst, sich einfach zurückzuhalten und nichts zu tun.
»Verteidigung der deutschen Befindlichkeiten«
Obwohl der Disclaimer in der Sprache der Verantwortung daherkommt, ist er ja in Wirklichkeit nichts weniger als eine völlige Abkehr von eben dieser Verantwortung. Und obwohl er sich als Verteidigung des jüdischen Volkes ausgibt, wirkt der Disclaimer viel eher wie eine Verteidigung der deutschen Befindlichkeiten.
Mit dem Erscheinen des späteren Statements wurde zwar nicht mehr versucht, den Bericht in Deutschland verschwinden zu lassen, angekündigt wurden aber vor allem interne Diskussionen, die den Umgang mit solchen Situationen bearbeiten sollten.
Amnesty Deutschland macht sich zu Recht sorgen darum, antisemitischen Verschwörungsideologien keine Nahrung zu geben. Doch wie würde eine Person, die zu antisemitischem Verschwörungsdenken neigt, diese Aussagen und diese Verhaltensweise interpretieren? Er würde sehen, dass vermeintliche Sorgen um Antisemitismus sich auch auf bloße faktenbasierte Kritik an der israelischen Politik beziehen können, dass darüber nicht offen gesprochen werden kann, und – was am schlimmsten ist – wie schnell solche Kritik mysteriös zum Verschwinden gebracht wird.
Von Amnesty würde man erwarten, dass sie, wenn sie sich mit den Bedenken über die mögliche Interpretation des Berichts befasst, aktiv daran arbeitet, die Diskussion über den Bericht zu gestalten. Tatsächlich deutet der Disclaimer darauf hin, dass die deutsche Sektion darüber nachgedacht hat, was nötig wäre, um die internationale Veröffentlichung des Berichts verantwortungsvoll zu begleiten – »eine objektive, sachbezogene Debatte zu der vom Bericht vorgenommenen Einordnung« – doch entschieden hat sie sich vorerst, dies nicht zu unternehmen.
Anstatt gleichzeitig für die Menschenrechte der Palästinenser:innen und gegen Antisemitismus zu kämpfen, kündigte die deutsche Sektion beschämend ihren Rückzug aus der Debatte über den Bericht an und überließ damit das Feld der »Instrumentalisierung oder Fehlinterpretation« – also genau dem, dem sie entgegenzuwirken hoffte.
Verleumdungen und Hetze
Der Einsatz für die Menschenrechte der Palästinenser:innen in Deutschland hat allerdings wirklich seinen Preis. Dieser wird von Mainstream-Politikern und -Medien reflexartig des Antisemitismus bezichtigt, was ausreichen kann, um die Karriere einer Person zu beenden oder einer Gruppe den Zugang zu öffentlichen Mitteln und Räumen zu verwehren. Man kann sich vorstellen, dass die nationale Führung von Amnesty International die Situation einschätzte und zu dem Schluss kam, dass sie es sich aufgrund des unmöglichen politischen Klimas in Deutschland einfach nicht leisten kann, den Bericht aktiv zu fördern.
Leider ist es aber doch genauso wahrscheinlich, dass Amnesty Deutschland überhaupt nicht geneigt war, sich zu den Rechten der Palästinenser:innen zu äußern, oder dass die Führung wusste, dass ihre Mitglieder dazu nicht motiviert sein würden. Schließlich ist die Ausnahme palästinensischer Rechte in deutschen linksliberalen Kreisen die erbärmliche Norm.
Palästinasolidarität als Prüfstein des Antirassismus
Dieser beschämende Vorfall wirft ein Schlaglicht auf den traurigen Zustand der Menschenrechte in Deutschland. In diesem Land kann selbst eine große internationale Organisation, die sich angeblich für die Rechte aller Menschen überall einsetzt, nicht umhin, die Rechte der Palästinenser:innen beiseitezulassen. Die Linke sollte stattdessen deren Rechte verteidigen und klar sagen: Ja, Israel ist ein Apartheidstaat! Das zeigt der Bericht von Amnesty nur allzu deutlich.
Aber die Rechte der Palästinenser:innen zu opfern, scheint der Preis für öffentliche Legitimität in Deutschland zu sein. Doch die nationale Führung , von Amnesty Deutschland ist weder Opfer noch passiver Teilnehmer an dieser Travestie. Dieser Zustand hält zum Teil deshalb an, weil selbst sie nur allzu bereit sind, diesen Preis weiter zu zahlen.
Doch den höchsten Preis zahlen weiterhin die Palästinenser:innen, die unter der israelischen Apartheid die Strafe für die historischen Verbrechen Deutschlands tragen müssen – mit standhafter Unterstützung der deutschen Regierung.
Eine frühere Version dieses Texts erschien bei +972 Magazine in englischer Sprache.
Über den Autor: Michael Sappir ist ein israelischer Publizist. Er lebt in Leipzig, studiert Philosophie, und organisiert sich im linke.SDS sowie im Jüdisch-israelischen Dissens (JID Leipzig).
Foto: Activestills.org
Schlagwörter: Apartheid, Israel, Palästina