Wir sprachen mit Helga Baumgarten über ihr neues Buch, das die historische Entwicklung des Nahostkonflikts und der Unterdrückung der Palästinenser:innen skizziert. Sie berichtet von der zugespitzten Lage vor Ort, den Bildzeitungsangriffen aus Deutschland und stellt eine unangenehme Gegenfrage
Helga Baumgarten ist Politikwissenschaftlerin und Autorin zahlreicher Bücher. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zu Palästina, dem Nahostkonflikt und zu politischen Transformationen in der arabischen Region. Von 1993 bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 2019 lehrte sie als Professorin an der Universität Birzeit nördlich von Ramallah im Westjordanland.
Dein neues Buch behandelt den Nahost-Konflikt. Warum gerade jetzt ein Buch darüber?
Der Anlass für das Buch waren die Gewalt gegen Palästinenser in Jerusalem im Mai 2021 mit dem daran anschließenden weiteren Krieg Israels gegen Gaza. Entscheidend für mich war jedoch die Reaktion in Deutschland auf ein kurzes Interview im Deutschlandfunk und die typischen Bildzeitungsangriffe, wie immer unter der Gürtellinie, deshalb lese ich diesen Dreck auch grundsätzlich nicht. Die Reaktion kam in erster Linie von deutschen Muslimen, die mich einerseits bewunderten für meinen Mut, Israel zu kritisieren. Schlimm, dass man das nicht völlig normal machen kann, wie man andere Regierungen in der Welt auch für nicht akzeptable Politik und Gewalt kritisiert und dass man dazu Mut braucht! Vor allem aber, und das war für mich das Erschütternde, berichteten sie mir von ihrem Gefühl, in Deutschland nicht als Mitbürger respektiert und geachtet zu werden, sondern immer wieder als Terroristen abgestempelt zu werden, einfach weil sie Muslime sind.
Du lebst seit Jahrzehnten dort, hast lange Jahre an der Universität von Birzeit gearbeitet. Wie ist die reale Situation vor Ort?
Seit 2021 spitzt sich die Lage für die Palästinenser zu. Tag für Tag gibt es mehr Gewalt gegen Palästinenser, ausgehend von kolonialistischen Siedlern in der Westbank, die fast grundsätzlich von der israelischen Armee unterstützt werden. Zur Verantwortung für ihre Gewalt – inklusive Mord und Totschlag – werden sie so gut wie nie, selbst wenn sie gegen linke Israelis, die in Solidarität mit Palästinensern demonstrieren, mit offener Gewalt vorgehen.
In Birzeit speziell werden immer wieder Studenten von der Armee verhaftet und die Armee dringt auch immer wieder in den Campus ein, um dort Verhaftungen durchzuführen und studentische Papiere zu beschlagnahmen.
Du sprichst von einem spezifischen nahöstlichen System von Apartheid. Kannst du das genauer erklären?
Das Apartheidsystem in Israel ist eine direkte Konsequenz des Siedlerkolonialismus. Das Spezifische in Israel ist, dass dort, im Gegensatz zu Südafrika, die Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung, also der Palästinenser, nicht gebraucht wird, sondern im Gegenteil von Beginn der Kolonisation an dezidiert vermieden wurde. Der Siedlerkolonialismus in Israel zielt langfristig auf die Eliminierung der Kolonisierten, wie zuletzt Patrick Wolfe glasklar herausgearbeitet hat.
Aber ist es nicht übertrieben von Apartheid zu sprechen? Immerhin ist Israel eine Demokratie!
Auch Südafrika hat sich als Demokratie gesehen. Die wenigen linken Israelis werden sicher lachen, wenn sie lesen, dass Israel eine Demokratie sei. Was da zu hören bzw. zu lesen ist, ist schlicht, dass Israel sich als demokratischer und jüdischer Staat versteht, demokratisch ausschließlich für Juden (inzwischen auch nicht mehr uneingeschränkt für linksradikale jüdische Israelis), jüdisch für den Rest, also für Palästinenser, die ein „Problem“ haben : sie sind halt keine Juden!
Was bedeutet der Siedlerkolonialismus konkret im Alltag der Menschen?
Er bedeutet, dass ein Palästinenser keinerlei Rechte hat im Gegenüber mit jüdischen Israelis, zuerst und vor allem in der besetzten Westbank. Ein jüdischer rechtsradikaler und meist rassistischer Siedler kann sich Palästinensern gegenüber alles erlauben. Er weiß, dass er kaum jemals zur Verantwortung gezogen wird. Den Palästinensern wird Tag für Tag Land weggenommen, sie dürfen nicht bauen, gebaute Häuser werden zerstört, Straßen werden nach Belieben durch die Armee abgesperrt, Menschen stehen unendliche Stunden ihres Lebens an Straßensperren, es gibt die Gewalt der Siedler plus die Gewalt der Armee. Siedler in der Westbank leben unter einem anderen Rechtssystem, dem Israels, als die Palästinenser, die unter Armeebeschlüssen leben müssen.
In Israel innerhalb der Grenzen von 1967 sind Palästinenser, die ja Staatsbürger sind, bis heute Staatsbürger zweiter Klasse. Auch für sie gilt eine andere Realität als für jüdische Israelis. Es empfiehlt sich, einfach den Bericht von Amnesty International oder den von B’Tselem von Anfang 2021 zu lesen.
Diese palästinensische Perspektive spielt in der Berichterstattung in den deutschen Medien über den Nahost-Konflikt so gut wie keine Rolle. Wieso wird die realexistierende Besatzung »übersehen«?
Weil sich die deutsche Presse, wie die überwiegende Mehrzahl der Medien im Norden unseres Weltsystems, ausschließlich mit Israeli identifiziert. Interessanterweise ist hier die israelische Presse durchaus anders. Ich empfehle deutschen Journalist:innen immer wieder, einfach jeden Morgen Haaretz, eine liberale israelische Zeitung, zu lesen und daraus zu berichten. Das allein wäre schon eine Revolution für Deutschland. Allerdings muss man sagen, dass eine ganze Reihe von Rundfunksendern in Deutschland anders berichten, sehr viel offener und kritischer als die Tageszeitungen oder das Fernsehen.
Siehst du eine Verbindung zwischen Angela Merkels Bekenntnis der Solidarität mit Israel als deutsche Staatsräson und der Berichterstattung in den Medien?
Nein, das war schon vor Merkel so!
Welche Mittel setzen die Unterstützer:innen Israels dafür ein?
Wir haben zum einen den israelischen Propagandaapparat, der mit seiner Propaganda, hasbara auf Hebräisch, weltweit präsent ist und seine Lesart der Dinge verbreitet. Zum anderen haben wir in Deutschland z.B. die offizielle jüdische Gemeinde, die sehr aktiv ist. Und wir haben die deutschen Philosemiten, eine sehr problematische Gruppe. Ich argumentiere oft, dass die alten Antisemit:innen jetzt, da die Juden weit weg ihren eigenen Staat haben, problemlos Philosemit:innen sein können. Das umso mehr, als Israel eine militaristische Politik verfolgt, mit der sich diese Menschen liebend gerne identifizieren. Auch das ist ein langes Thema. Gruppen wie Jewish Voice for Peace bzw. in Deutschland Jüdische Stimme für Frieden kommen dagegen kaum an.
Linke, die sich an die Seite der palästinensischen Bewegung stellen, werden in Deutschland scharf angegriffen. Insbesondere Unterstützer:innen der BDS-Bewegung sehen sich einer heftigen Repression ausgesetzt. Welche Rolle spielt dabei die Bundesregierung?
Die entscheidende Rolle dabei hat sicher der unsinnige Beschluss des Bundestages gegen die BDS-Bewegung gespielt. Und es bleibt ja nicht nur bei der Bundesregierung. Auf lokaler Ebene ist es ja fast schlimmer. Gut, dass alle Klagen von Betroffenen vor deutschen Gerichten fast durchweg Recht bekommen. Man darf sich also nicht einschüchtern lassen, sich nichts gefallen lassen und man muss im Zweifelsfall klagen.
Aber hat die deutsche Linke angesichts des Holocaust nicht eine besondere Verantwortung gegenüber dem Antisemitismus?
Die deutsche Linke hat, wie alle Menschen, eine Verantwortung für die Opfer des deutschen Nazisystems. Vor allem hat sie, so denke ich, eine Verantwortung, jede Form des Rassismus zu bekämpfen, zuerst und vor allem in Deutschland selbst.
In deinem Buch skizzierst du die historische Entwicklung seit der Staatsgründung Israels. Warum ist der Blick in die Geschichte wichtig, um den aktuellen Konflikt zu verstehen?
Ich denke, dass es keinen Konflikt in der Welt gibt, den man verstehen kann, ohne zu seinen Wurzeln zurückzugehen. Das ist auch im Falle Israels so. Besser wäre es gewesen, wenn ich Platz gehabt hätte und bis zum Beginn der jüdischen Kolonisation im Lande Ende des 19.Jahrhunderts hätte zurückgehen können.
Du beschreibst, dass sich die Situation für die Palästinenser:innen mit dem Jahr 1967 veränderte. Warum?
1967 wurden die letzten Gebiete des historischen Palästina von Israel besetzt. Die Palästinenser hatten nun keinen Flecken Land mehr, auf dem sie als Palästinenser hätten frei leben können.
Die Geschichte der Palästinenser:innen ist auch eine Geschichte des Widerstandes. Warum ist das Jahr 1987 dabei so wichtig und was bedeutet »Intifada«?
1987 erhoben sich die Palästinenser in einem fast spontanen Massenaufstand gegen die damals schon 20 Jahre andauernde Besatzung in der Intifada. Intifada heisst schlicht: Abschütteln. Also
»Abschütteln“ der Besatzung, der Unterdrückung, der Gewalt, der Unfreiheit. Es gab einen historischen Vorläufer mit der palästinensischen »Revolution 1936-39, in dem sich vor allem die palästinensischen Bauern gegen die britische Besatzung, die sogenannte Mandatsregierung, also in Wirklichkeit den britischen Kolonialismus im Lande, und die von ihm unterstützte zionistische Einwanderung erhoben. Diese Revolution wurde von britischen Truppen mit aller Brutalität und Gewalt blutig niedergeschlagen.
Warum sind die Proteste so bedeutsam?
Das Wichtigste, so denke ich, ist die Entscheidung der Menschen unter Besatzung, diese nicht länger zu erdulden. Also das Vertrauen auf die eigene Stärke, auf die Fähigkeit, ein kollektives Nein zu formulieren. Die bis heute andauernde israelische koloniale Besatzung hat allerdings dieses Vertrauen in die eigene Kraft enorm geschwächt.
Welche Konsequenzen zogen die Fatah und die Hamas aus der Intifada?
Hier nur kurz. Im Buch ist das sehr viel ausführlicher. Fatah formulierte das strategische Ziel eines palästinensischen Staates in den 1967 besetzten Gebieten, eines Staates, der bereit war, mit Israel friedlich zu koexistieren. Israel hat dieses historisch geradezu einmalige Angebot brutal vom Tisch gewischt. Die Hamas bestand auf dem Ziel, das gesamte historische Palästina zu befreien. Gleichzeitig können wir allerdings beobachten, dass alle Forderungen der Hamas seit 1987 in Richtung Beendigung der Besatzung von 1967 gingen.
Du schreibst in deinem Buch, dass in den USA, im Gegensatz zur israelischen Bevölkerung, es eine immer größere Zahl von Jüdinnen und Juden gibt, die Israel gegenüber sehr kritisch eingestellt sind. Woran machst du das fest?
Es gibt zum einen die Jewish Voice for Peace, eine Organisation, die immer stärker wird unter den Juden in den USA. Und, wie ich im Buch ausführlich zeige, haben wir die bemerkenswerte Stimme von Peter Beinart aus New York, der eine radikale politisch-ideologische Kehrtwendung vollzogen hat hin zur vollen Anerkennung der Palästinenser, der Anerkennung des Rückkehrrechtes der vertriebenen Palästinenser und des Zusammenlebens von Juden und Palästinensern in einem Staat.
Warum ist die Abkehr von einem rein jüdischen Staat so bemerkenswert?
Bis zur Gründung von Jewish Voice for Peace wäre eine ähnliche Position in den USA noch undenkbar gewesen. Vergessen und übersehen wird leider immer wieder, wie umstritten der Zionismus innerhalb der Juden in Europa war, wie viele das Ziel, einen jüdischen Staat zu errichten, ablehnten oder negativ betrachteten. Und vergessen wird dabei auch die Position der Intellektuellen, die von Anfang an für ein friedliches Zusammenleben und für einen bi-nationalen Staat eintraten, Martin Buber zum Beispiel.
Warum ist die Linke in Israel selbst so schwach?
Gegenfrage: Warum ist die Linke in Deutschland so schwach?
Du kritisierst in deinem Buch auch die Politik der Fatah unter der Führung von Mahmud Abbas scharf. Warum?
Mahmud Abbas hat im Prinzip alle Ziele der Befreiung der Palästinenser verraten. Er hat in der Westbank ein autoritäres System errichtet, nicht zuletzt basierend auf der Zusammenarbeit seiner Geheimdienste mit dem israelischen Geheimdienst. Mein Kollege Joseph Massad von der Columbia University in New York hat das über die Jahre hin immer wieder schärfstens kritisiert und gegeiselt.
Der Mord an dem Fatah-Kritiker Nizar Banat führte zu Demonstrationen gegen das Abbas-Regime überall in der West Bank. Was waren die Forderungen der Demonstrierenden?
Wie im Buch zu lesen ist, wollten die Demonstranten eine sofortige Reaktion der Regierung: Verhaftung der Mörder, einen transparenten juristischen Prozess und die Übernahme der Verantwortung durch die politische Führung. Sie forderten freie Wahlen und den Aufbau eines demokratischen Systems, selbst noch unter der Besatzung, gegen die sich alle gemeinsam erheben sollten.
Aber ist die Fatah nicht eine »linke Alternative« zu den religiösen Strömungen?
Zum einen ist die Fatah, entgegen des Bildes, das sie oft nach außen versucht zu projizieren bzw. das im Westen, nicht zuletzt in Deutschland, verbreitet wird, alles andere als säkular. Jedes Flugblatt der Fatah beginnt mit der religiösen Invokation. Zum zweiten ist die Fatah sicher alles andere als links. Es gab vor langen Jahren, Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre, eine linke Strömung innerhalb der Fatah. Davon ist nichts übriggeblieben.
Ist die Hamas weniger korrupt als die Fatah?
Das waren zumindestens die Berichte über die Hamas bis etwa 2007. Danach machte sich auch in der Hamas im Gazastreifen, den sie unter den unsäglichen Bedingungen, unter denen Gaza gezwungen ist zu leben, im Innern autoritär kontrolliert, die Korruption breit. Allerdings hat diese nie das Ausmaß der Korruption der Regierung in Ramallah erreicht.
Aber hat die Hamas mit der »Tunnelökonomie« nicht wenigstens die Versorgung der Bevölkerung mit den wichtigsten Gebrauchsgütern sichergestellt?
Das hat sie versucht, mit mehr oder weniger Erfolg.
Du sprichst davon, dass sowohl die Hamas als auch die Fatah in einer Krise stecken. Was ist der Grund dafür?
Die andauernde kolonialistische Besatzung durch Israel und das bis dato vergebliche Suchen nach einer erfolgversprechenden Strategie des Widerstandes.
Ist die Hamas antisemitisch?
Die 100-Dollar-Frage.Es gibt im Hamas-Manifest von 1987 eindeutig antisemitische Passagen, die in den neuen Programmen der Hamas fehlen.
Die Unterstützer:innen der israelischen Regierung verweigern den Palästinenser:innen ihr Recht auf Widerstand. Warum haben die Palästinenser:innen ein Recht auf Widerstand?
Jedes Volk, jede Gesellschaft, jeder Mensch, der mit Gewalt unterdrückt wird, unter Besatzung und Kolonialismus gezwungen wird zu leben, hat ein Recht auf Widerstrand, u.a. verbrieft in entsprechenden Beschlüssen der UN
Worüber in der deutschen Linken wenig gesprochen wird ist der Widerstand der Arbeiter:innen in Gaza, Israel, der West Bank und in Ost-Jerusalem. Im Mai 2021 kam es zum ersten Mal seit 1948 zu einem landesweiten Streik. Wie bewertest du das?
Hier sollte man präzise sein. Der Streik war ein politischer Streik, der die gesamte Gesellschaft umfasste, keineswegs nur die Arbeiterschaft. Überhaupt sind Streiks in den besetzten Gebieten immer wieder vor allem politische Streiks gegen die Besatzung. Eine Ausnahme in den vergangenen Jahren war der landesweite Streik der Lehrer, die klare gewerkschaftliche Forderungen artikulierten und massiv von Mahmud Abbas Regierung unterdrückt und dann sanktioniert wurden.
Gibt es weltweit überhaupt Unterstützung von Gewerkschaften oder Arbeiter:innen für den palästinensischen Widerstand?
Soweit ich informiert bin, haben sich durchaus Gewerkschaften für den palästinensischen Widerstand, nicht zuletzt für BDS, ausgesprochen und damit solidarisiert. Auf der Webseite von BDS kann das im Detail nachgelesen werden.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Ich würde als erstes auf Südafrika und auf Irland verweisen.
Während weltweit Gewerkschaften die palästinensische Widerstandsbewegung unterstützen hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sich an die Seite der israelischen Regierung gestellt. Wie bewertest du das?
Deutsche Politik… Punkt… Und ein Schandfleck für den DGB!
Helga, wir danken dir für das Gespräch.
Bild: Fotomovimiento/ flickr.com
Interview: Yaak Pabst
Das Buch:
Helga Baumgarten
Kein Frieden für Palästina. Der lange Krieg gegen Gaza. Besatzung und Widerstand.
191 Seiten
Promedia Verlag
2021
Schlagwörter: Antisemitismus, Fatah, Geschichte Palästinas, Hamas, Israel, Naher Osten, Nahost, Palästina, Palästinenser