Im Windschatten des Krieges in der Ukraine arbeitet die Regierung Selenskjy mit westlichen Bündnispartnern an dem Ausverkauf der ukrainischen Bodenschätze. Von Michael Roberts
Anfang August 2022 stimmten die privaten Auslandsgläubiger der Ukraine dem Antrag des Landes auf einen zweijährigen Zahlungsstopp für Auslandsschulden in Höhe von rund 20 Milliarden US-Dollar zu. Damit könnte die Ukraine einen Zahlungsausfall bei ihren Auslandsschulden vermeiden. Im Gegensatz zu anderen »Schwellenländern«, die sich in einer Schuldenkrise befinden, sind die ausländischen Anleihegläubiger offenbar bereit, der Ukraine zu helfen – wenn auch nur für zwei Jahre. Durch diesen Schritt spart die Ukraine in diesem Zeitraum 6 Milliarden US-Dollar und kann so den Druck auf die Reserven der Zentralbank verringern, die trotz umfangreicher ausländischer Hilfe seit Jahresbeginn um 28 Prozent gesunken sind (Lies hier den marx21-Artikel: Die Ukraine – eine Geschichte von Krieg und Unterdrückung).
Ukraine: Der Preis für den Schuldenerlass
Es überrascht nicht, dass sich die ukrainische Wirtschaft in einem desolaten Zustand befindet. Für 2022 wird ein Rückgang des realen BIP um mehr als 30 Prozent prognostiziert und die Arbeitslosenquote liegt bei 35 Prozent (Constantinescu et al. 2022, Blinov und Djankov 2022, Nationalbank der Ukraine 2022). »Wir sind dankbar für die Unterstützung unseres Vorschlags durch den Privatsektor in diesen für unser Land so schrecklichen Zeiten«, antwortete Yuriy Butsa, der stellvertretende Finanzminister der Ukraine, »ich möchte betonen, dass die Unterstützung, die wir bei dieser Transaktion erhalten haben, kaum zu unterschätzen ist…. Wir werden auch in Zukunft mit der Investorengemeinschaft zusammenarbeiten und hoffen, dass sie sich an der Finanzierung des Wiederaufbaus unseres Landes beteiligen, nachdem wir den Krieg gewonnen haben«, so Butsa. Hier offenbart Butsa den Preis, der für diese begrenzte Großzügigkeit ausländischer Gläubiger zu zahlen ist: die zunehmende Forderung ausländischer multinationaler Konzerne und Regierungen, die Kontrolle über die ukrainischen Ressourcen zu übernehmen und sie ohne jegliche Einschränkungen und Begrenzungen unter die Kontrolle ausländischen Kapitals zu bringen.
Privatisierung der landwirtschaftlichen Ressourcen in der Ukraine
Es gibt umfassende Pläne die riesigen landwirtschaftlichen Ressourcen der Ukraine zu privatisieren und ausländischen multinationalen Unternehmen zu überlassen. Seit mehreren Jahren dokumentiert eine Reihe von Berichten des Oakland Institutes die Übernahme durch ausländisches Kapital. Vieles von dem, was hier steht, stammt aus den Recherchen des Oakland Institutes.
Die postsowjetische Ukraine verfügt mit ihren 32 Millionen Hektar fruchtbarer Schwarzerde (»Chernozem Böden«) über ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Europäischen Union. Die »Kornkammer Europas«, wie sie genannt wird, hat eine Jahresproduktion von 64 Millionen Tonnen Getreide und Saatgut und gehört zu den weltweit größten Produzenten von Gerste, Weizen und Sonnenblumenöl (bei letzterem produziert die Ukraine etwa 30 Prozent der Weltproduktion). Wie das Oakland Institute dargelegt hat, wurde 2001 ein Moratorium für den Verkauf von Grundstücken an Ausländer verhängt, um die ungezügelte Privatisierung zu begrenzen. Seitdem ist die Aufhebung dieser Regelung ein Hauptziel westlicher Institutionen. So stellte die Weltbank bereits 2013 ein Darlehen in Höhe von 89 Millionen Dollar für die Entwicklung eines Programms für Grundbucheintragungen und Landtitel bereit, das für die Kommerzialisierung von staatlichem und genossenschaftlichem Land benötigt wird. In den Worten eines Weltbankpapiers von 2019 war das Ziel eine »Beschleunigung privater Investitionen in die Landwirtschaft.« Diese Vereinbarung, die damals von Russland als Hintertür zur Erleichterung des Markteintritts westlicher multinationaler Unternehmen angeprangert wurde, beinhaltet die Förderung »moderner landwirtschaftlicher Produktion … einschließlich des Einsatzes von Biotechnologien«, eine offensichtliche Öffnung für Genetisch modifitierte Organismen (GMO) auf ukrainischen Feldern.
Das Schachern der Agrarkonzerne
Trotz des Moratoriums für Landverkäufe an Ausländer:innen kontrollierten zehn multinationale Agrarkonzerne im Jahr 2016 bereits 2,8 Millionen Hektar Land. Heute sprechen einige Schätzungen von 3,4 Millionen Hektar in den Händen ausländischer Unternehmen und ukrainischer Unternehmen mit ausländischen Fonds als Anteilseigner:innen. Andere Schätzungen gehen von bis zu 6 Millionen Hektar aus. Das Verkaufsmoratorium, dessen Aufhebung das US-Außenministerium, der IWF und die Weltbank wiederholt gefordert hatten, wurde schließlich von der Regierung Selenskyj im Jahr 2020 aufgehoben, noch vor einem für 2024 anberaumten endgültigen Referendum zu diesem Thema.
Nun, da der Krieg weitergeht, verstärken westliche Regierungen und Unternehmen ihre Pläne, die Ukraine und ihre Ressourcen in die kapitalistischen Volkswirtschaften des Westens einzubinden. Am 4. und 5. Juli 2022 trafen sich Spitzenbeamte aus den USA, der EU, Großbritannien, Japan und Südkorea in der Schweiz zu einer sogenannten »Ukraine Recovery Conference« (URC).
Die Ukraine Recovery Conference
Die Agenda der URC war ausdrücklich darauf ausgerichtet, dem Land politische Veränderungen aufzuzwingen – nämlich »Stärkung der Marktwirtschaft«, »Dezentralisierung, Privatisierung, Reform staatlicher Unternehmen, Landreform, Reform der staatlichen Verwaltung« und »euro-atlantische Integration«.
Die Agenda war eigentlich eine Fortsetzung der Reformkonferenz 2018 in der Ukraine, auf der die Bedeutung der Privatisierung des größten Teils des verbleibenden öffentlichen Sektors der Ukraine betont wurde, wobei erklärt wurde, dass das »ultimative Ziel der Reform der Verkauf staatlicher Unternehmen an private Investoren« sei, zusammen mit der Forderung nach mehr »Privatisierung, Deregulierung, Energiereform, Steuer- und Zollreform.« Der Bericht beklagt, dass die »Regierung der größte Vermögensbesitzer der Ukraine ist« und stellt fest: »Die Reform der Privatisierung und der staatlichen Unternehmen wurde lange erwartet, da dieser Sektor der ukrainischen Wirtschaft seit 1991 weitgehend unverändert geblieben ist.«
Die Ironie ist, dass die Pläne der URC von 2018 von den meisten Ukrainer:innen abgelehnt wurden. Eine Meinungsumfrage ergab, dass nur 12,4 Prozent die Privatisierung staatlicher Unternehmen (SOE) unterstützten, während 49,9 Prozent sie ablehnten (Weitere 12 Prozent waren gleichgültig, während 25,7 Prozent keine Antwort gaben).
Die Lugano-Erklärung
Ein Krieg kann jedoch den Unterschied ausmachen. Im Juni 2020 genehmigte der IWF ein 18-monatiges Kreditprogramm in Höhe von 5 Milliarden Dollar für die Ukraine. Im Gegenzug hob die ukrainische Regierung nach anhaltendem Druck der internationalen Finanzinstitutionen das 19-jährige Moratorium für den Verkauf staatlicher Agrarflächen auf. Olena Borodina vom ukrainischen Netzwerk für ländliche Entwicklung kommentierte, dass »die Interessen der Agrarindustrie und der Oligarchen die Hauptnutznießer einer solchen Reform sein werden… [Dies] wird die Kleinbauern nur weiter marginalisieren und birgt die Gefahr, dass sie von ihrer wertvollsten Ressource abgeschnitten werden.«
Und nun hat die URC im Juli ihre Pläne zur Übernahme der ukrainischen Wirtschaft durch das Kapital erneut bekräftigt, wobei sie von der Regierung Selenskyj voll unterstützt wurde. Zum Abschluss des Treffens verabschiedeten alle anwesenden Regierungen und Institutionen eine gemeinsame Erklärung, die so genannte Lugano-Erklärung. Diese Erklärung wurde durch einen »Nationalen Sanierungsplan« ergänzt, der wiederum von einem von der ukrainischen Regierung eingerichteten »Nationalen Sanierungsrat« ausgearbeitet wurde.
Eine Reihe kapitalfreundlicher Maßnahmen
In diesem Plan wurde eine Reihe kapitalfreundlicher Maßnahmen befürwortet, darunter die »Privatisierung nicht führender Unternehmen« und der »Abschluss der Vergesellschaftung staatlicher Unternehmen« – als Beispiel wurde der Verkauf des staatlichen ukrainischen Kernenergieunternehmens EnergoAtom genannt. Um »privates Kapital in das Bankensystem zu locken«, forderte der Vorschlag ebenfalls die »Privatisierung von SOBs« (staatseigenen Banken). In dem Bestreben, »private Investitionen zu erhöhen und das Unternehmertum im ganzen Land anzukurbeln«, drängte das Nationale Konjunkturprogramm auf eine erhebliche »Deregulierung« und schlug die Schaffung von »Katalysatorprojekten« vor, um private Investitionen in vorrangigen Sektoren freizusetzen.
Abbau von Arbeitnehmerrechten
In einem ausdrücklichen Aufruf zum Abbau des Arbeitsschutzes griff das Dokument die verbleibenden arbeitnehmerfreundlichen Gesetze in der Ukraine an, von denen einige noch aus der Sowjetzeit stammen. Das Nationale Wiederaufbauprogramm beklagte »veraltete Arbeitsgesetze, die zu komplizierten Einstellungs- und Entlassungsverfahren, Überstundenregelungen usw. führen«. Als Beispiel für diese vermeintlich »veraltete Arbeitsgesetzgebung« beklagte der vom Westen unterstützte Plan, dass Arbeitnehmer:innen in der Ukraine mit einem Jahr Berufserfahrung eine neunwöchige »Kündigungsfrist für Entlassungen« gewährt wird, verglichen mit nur vier Wochen in Polen und Südkorea. Im März 2022 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Notstandsgesetz, das es den Arbeitgebern erlaubt, Tarifverträge auszusetzen.
Im Mai verabschiedete es dann ein dauerhaftes Reformpaket, das die große Mehrheit der ukrainischen Lohnabhängigen (in Unternehmen mit weniger als 200 Beschäftigten) vom ukrainischen Arbeitsrecht ausnimmt. Aus Dokumenten, die im Jahr 2021 an die Öffentlichkeit gelangten, geht hervor, dass die britische Regierung ukrainische Beamte darin unterrichtete, wie man eine widerspenstige Öffentlichkeit davon überzeugen kann, Arbeitnehmerrechte aufzugeben und gewerkschaftsfeindliche Maßnahmen umzusetzen.
Umgestaltung des Steuerwesens
In den Schulungsunterlagen wurde beklagt, dass die Bevölkerung den vorgeschlagenen Reformen überwiegend ablehnend gegenüberstehe, aber es wurden auch Strategien vermittelt, um die Ukrainer:innen zur Unterstützung der Reformen zu verleiten. Während die Arbeitnehmerrechte in der »neuen Ukraine« abgeschafft werden sollen, zielt der Nationale Sanierungsplan darauf ab, Unternehmen und Wohlhabende durch Steuersenkungen zu unterstützen. Der Plan beklagte, dass 40 Prozent des ukrainischen BIP aus Steuereinnahmen stammten, und nannte dies im Vergleich zu seinem Vorbild Südkorea eine »ziemlich hohe Steuerlast«. Der Plan forderte daher eine »Umgestaltung des Steuerwesens« und »die Prüfung von Möglichkeiten zur Senkung des Anteils der Steuereinnahmen am BIP«. Im Namen der »EU-Integration und des Marktzugangs« schlug sie ebenfalls die »Beseitigung von Zöllen und nichttarifären, nichttechnischen Hemmnissen für alle ukrainischen Waren« vor, während sie gleichzeitig dazu aufrief, »die Anziehung ausländischer Direktinvestitionen zu erleichtern, um die größten internationalen Unternehmen in die Ukraine zu bringen«, mit »besonderen Investitionsanreizen« für ausländische Unternehmen. Neben dem Nationalen Sanierungsplan und dem strategischen Briefing wurde auf der Sanierungskonferenz für die Ukraine im Juli 2022 ein Bericht vorgestellt, der von Economist Impact, einer Unternehmensberatungsfirma, die zur Economist Group gehört, erstellt wurde. Das Unternehmen veröffentlicht den »Ukraine Reform Tracker«.
Der Ukraine Reform Tracker
In dem Bericht wird darauf gedrängt, »ausländische Direktinvestitionen« von internationalen Unternehmen zu erhöhen und nicht in Sozialprogramme für die ukrainische Bevölkerung zu investieren. Weiterhin wird die Bedeutung der Entwicklung des Finanzsektors betont und die Beseitigung übermäßiger Regulierungen und Zölle gefordert. Er fordert eine weitere »Liberalisierung der Landwirtschaft«, um »ausländische Investitionen anzuziehen und das einheimische Unternehmertum zu fördern«, sowie »Verfahrensvereinfachungen«, um es »kleinen und mittleren Unternehmen« zu erleichtern, »durch den Kauf und die Investition in staatseigene Vermögenswerte zu expandieren«, wodurch »ausländischen Investoren der Markteintritt nach dem Konflikt erleichtert wird«.
Krieg als eine Gelegenheit?
Der »Ukraine Reform Tracker« stellte den Krieg als eine Gelegenheit dar, die Übernahme durch ausländisches Kapital zu erzwingen: »Die Nachkriegszeit könnte eine Gelegenheit bieten, die schwierige Landreform zu vollenden, indem das Recht auf den Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen auf juristische Personen, einschließlich ausländischer, ausgeweitet wird«, heißt es in dem Bericht. »Die Öffnung des Weges für internationales Kapital, das in die ukrainische Landwirtschaft fließt, wird wahrscheinlich die Produktivität des gesamten Sektors steigern und seine Wettbewerbsfähigkeit auf dem EU-Markt erhöhen«, heißt es weiter. »Nach Beendigung des Krieges wird die Regierung auch die Privatisierung der Privatbank, des größten Kreditgebers des Landes, und der Oschadbank, eines großen Abwicklers von Renten und Sozialleistungen, in Erwägung ziehen müssen, um den Anteil der staatlichen Banken deutlich zu senken«, so der Bericht.
Umfassende radikale Deregulierung
Andernorts gibt es weniger explizite Pro-Kapital-Politiken, die von halb-keynesianischen westlichen Wirtschaftswissenschaftlern angeboten werden. In einer aktuellen Zusammenstellung des Center for Economic Policy Research (CEPR) haben verschiedene Ökonomen makroökonomische Maßnahmen für die Ukraine in Kriegszeiten vorgeschlagen. Darin betonen die Autor:innen zu Beginn, dass die Krise in der Ukraine kein typisches makroökonomisches Anpassungsprogramm darstellt, d. h. nicht die üblichen IWF-Fiskalsparmaßnahmen und Privatisierungsforderungen. Aber nach vielen Seiten wird klar, dass sich ihre Vorschläge kaum von denen der URC unterscheiden. Wie sie sagen, »sollte das Ziel darin bestehen, eine umfassende radikale Deregulierung der Wirtschaftstätigkeit zu verfolgen, Preiskontrollen zu vermeiden, die Angleichung von Arbeit und Kapital zu erleichtern und die Verwaltung der beschlagnahmten russischen und anderen sanktionierten Vermögenswerte zu verbessern.«
Die Übernahme der Ukraine durch das (hauptsächlich ausländische) Kapital wird damit abgeschlossen sein, und die Ukraine kann damit beginnen, ihre Schulden zurückzuzahlen und dem westlichen Imperialismus neue Profite zu bescheren.
Bild: Polina Rytova / Unsplash
Zum Artikel: Der Artikel erschien zuerst auf Englisch hier. Übersetzung aus dem Englischen Volkhard Mosler und Yaak Pabst.
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