Das Sanktionsregime des Westens gegen Russland ist immens. Doch was haben die Sanktionen bisher erreicht? Sind Kontensperrungen und Importverbote wirklich die friedliche Alternative zu Panzern und Granaten? Und vor allem: Sollten Linke Sanktionen unterstützen und gar ihre Verschärfung fordern? Von Yaak Pabst
Die Regierenden in Europa und den USA haben die Sanktionen mit einem zentralen Versprechen gerechtfertigt. Die Sanktionen sollten Putins völkerrechtswidrigen Krieg stoppen und seine Macht schwächen. Die Zivilbevölkerung in Russland sollte von den Sanktionen weitgehend verschont bleiben. Die gezielten Sanktionen (»Smart Sanctions«) sollten vor allem diejenigen treffen, die für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sind – Putins Macht-Clique.
Der Aufwand, den die beteiligten Staaten unter Führung der USA dafür betreiben, ist enorm. Mittlerweile sind mehr als 12.000 Sanktionen verabschiedet – im Fadenkreuz sind Multimillionäre, Politiker:innen, Banken, Konzerne, aber eben auch der russische Staat selbst. Vermögen von Politiker:innen des Putin-Regimes und ihm nahestehende Oligarchen sind eingefroren, russische Banken von den Kapitalmärkten ausgeschlossen und umfassende Exportverbote verhängt.
Politiker:innen der sich an den Sanktionen beteiligenden Staaten sparen nicht mit martialischen Aussagen über ihre Zielrichtung. So erklärte Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire: »Wir werden einen vollständigen wirtschaftlichen und finanziellen Krieg gegen Russland führen. Wir werden den Zusammenfall der russischen Wirtschaft bewirken.« Ähnliche Aussagen gibt es auch von Politiker:innen aus Deutschland und den USA. Auch von linker Seite werden die Sanktionen weitgehend begrüßt. Die Linkspartei ist zwar weiterhin gegen Waffenlieferungen, aber auch sie stimmte dem »Sanktionsdurchsetzungsgesetz« im Bundestag zu. Der ehemalige Vorsitzenden der LINKEN, Bernd Riexinger, meint sogar: »Es gibt keinen ›Wirtschaftskrieg gegen Russland‹.« Auch der aktuelle Parteivorsitzende Martin Schirdewan spricht sich für weitere »Sanktionen gegen den militärisch-industriellen Komplex und die Oligarchen« aus. Zwar gibt es auch innerhalb der Linken kritische Stimmen gegen das Sanktionsregime, aber die Partei als Ganzes erscheint nicht als Oppositionskraft gegen die vom Westen verhängten Sanktionen. Nur die Alternative für Deutschland steht für die Ablehnung der Sanktionen. Mit diesem Kurs kann die Nazi-Partei sich als einzige Oppositionskraft aufbauen und bei Wahlumfragen neue Spitzenwerte generieren. Auch deswegen ist es höchste Zeit für die Linke, Bilanz zu ziehen: Was haben die Sanktionen bisher erreicht? Wirken sie wie gewünscht? Und sollte die Linke gar eine weitere Verschärfung fordern?
Statt Putins Macht-Clique leiden die Armen
Gemessen an den Versprechungen der Politiker:innen ist die Bilanz der Sanktionen gegen das Putin-Regime ernüchternd. Trotz der umfassenden Maßnahmen ist offensichtlich, dass die Sanktionen weder Putins Krieg schnell beendet haben, noch seine politische Herrschaft ernsthaft schwächen. Der Krieg tobt weiterhin und Putin sitzt nach wie vor fest im Sattel. Die Oppositionsbewegung gegen den Krieg konnte er bisher im Keim ersticken. Wie aber konnte es dazu kommen, dass trotz des enormen Aufwandes durch die Sanktionen weder die Finanzierung des Krieges wesentlich erschwert, noch die politischen Entscheidungen erkennbar beeinflusst wurden?
Ein wichtiger Grund: Der Westen hat die Wehrhaftigkeit der russischen herrschenden Klasse unter- und die Durchsetzungsfähigkeit des westlichen Blocks überschätzt. So verurteilen zwar die meisten Staaten Putins Angriffskrieg. Doch wichtige Staaten wie China, Brasilien, Indien oder Pakistan haben sich gegen die Wirtschaftssanktionen entschieden. Ebenso verzichtet das Nato-Mitglied Türkei auf Sanktionen. Das Sanktionsregime war von Beginn an löchrig.
Die russische Regierung wiederum leitete verschiedene Maßnahmen ein, um die Wucht der Sanktionen abzufedern. So gelang es ihr, unter anderem mit einer Leitzinserhöhung, ziemlich schnell den Sturz des Rubels abzuwenden. Gleichzeitig war die russische Energiewirtschaft von den Sanktionen nicht in vollem Umfang getroffen, weil eine große Abhängigkeit besonders vieler europäischer Länder von den russischen Öl-, Kohle- oder Gaslieferungen besteht. Durch diese Abhängigkeit läuft der russische Energieexport auch in die EU weiter. Zwar reduzierte Russland als Gegenreaktion auf das Sanktionsregime der EU die Energielieferungen – beispielsweise nach Deutschland. Ebenso reduzierten einzelne Länder ihre Energieimporte. Aber die im Zuge der Sanktionen stark gestiegenen Weltmarktpreise für fossile Brennstoffe wirkten den Importbeschränkungen entgegen. Dementsprechend exportierte Russland im ersten Halbjahr zwar deutlich weniger Öl, Kohle oder Gas in die westliche Welt, aber der Preisanstieg für diese Energieträger glich den Rückgang aus. Laut dem »Russia Fossil Tracker« des »Centre for Research on Energy and Clean Air« (Crea) hat Russland seit Beginn des Krieges mehr als 200 Milliarden Euro Einnahmen aus dem Export fossiler Brennstoffe erzielt. Länder der Europäischen Union kauften trotz Sanktionen für mehr als 105 Milliarden Euro beim russischen Staat ein.
(Lies hier die drei marx21-Artikel »Warum Sanktionen alles noch schlimmer machen«, »Sanktionen und das Kapital« und »Warum Sanktionen den Diktator Putin nicht stoppen werden«.)
Sanktionen sind Bestandteil des imperialistischen Kräftemessens
Nach Angaben des kremlkritischen Exil-Internetportals Meduza konnte sich die russische Wirtschaft nach anfänglichem Schock wieder stabilisieren. Das Blatt bilanziert: »Der Geschäftsklimaindikator der Zentralbank im September kehrte zu seinen Januar-Werten zurück. Das zeigt, russische Unternehmen beginnen, sich allmählich an die Sanktionsbedingungen anzupassen: Sie schaffen es, neue Produktions- und Logistikketten aufzubauen.«
Das führt zu einem weiteren Punkt, warum die russische Regierung die Wirkungsmacht der Sanktionen abdämpfen konnte: Die globale Umorientierung der Handels- und Kapitalströme. Während die G7 Staaten das Sanktionsregime immer weiter verschärfen, bauen andere Länder ihre Handelsbeziehungen mit Russland aus. Beispiel Indien: Tatsächlich importierte das Land vor der Invasion fast kein russisches Öl. Seit der russischen Invasion in der Ukraine haben indische Raffinerien ihre Einfuhr von Rohöl aus Russland jedoch massiv gesteigert. Ähnliches gilt für China. Auf Indien und China entfallen inzwischen mehr als die Hälfte aller russischen Ölexporte über den Seeweg. Russland ist jetzt Chinas größter Öllieferant und löst Saudi-Arabien im Jahr 2022 ab. Sobald eine weitere neue Pipeline, bekannt als »Kraft Sibiriens 2«, Ende dieses Jahrzehnts fertiggestellt wird, könnte Russland auch wichtigster Gaslieferant werden.
Der Versuch von der G7-Gruppe (Großbritannien, USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien und Japan) hier gegenzusteuern und den Preis des von Russland gekauften Öls zu begrenzen, erscheint jedoch weitgehend symbolisch. Russisches Öl ist bereits jetzt deutlich billiger als Öl aus anderen Quellen und Moskau hat angekündigt, den Verkauf an Länder einzustellen, die versuchen, Preisobergrenzen einzuführen. Gleichzeitig lehnte die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) Öl-Preiskontrollen ab. Trotz des Druckes der G7-Staaten beschlossen die OPEC-Staaten sogar, weniger Rohöl zu fördern, um den Fall des Ölpreises zu stoppen. Der Sprecher des US-Präsidenten kommentierte den Beschluss zur Förderkürzung schmallippig: »Jede Verknappung des Angebots kommt Russland zugute, das versucht, den Preis zu treiben, um seine Kriegsmaschine in der Ukraine zu finanzieren«.
Militärische Gewalt folgt einer enormen Zuspitzung ökonomischer Konkurrenz
Die Debatte über Sanktionen in der deutschen Linken krankt daran, dass dieser Kontext der geopolitischen Konkurrenz wenig beleuchtet wird: Sanktionen sind Teil imperialistischer Politik des einen Blocks gegen seinen Konkurrenten. Letzterer wehrt sich durch neue Allianzen. Imperialismus beschreibt nicht nur eine bestimmte gewaltsame Politik oder die Tatsache, dass mächtigere Nationen, wie beispielsweise Russland, USA oder Deutschland, über kleinere Nationen bestimmen können. Militärische Gewalt folgt einer enormen Zuspitzung ökonomischer Konkurrenz. Dies erleben wir gerade im Krieg um die Ukraine. Die wirtschaftliche Konkurrenz schlägt in politisch-militärische um und insofern nimmt diese die Form eines globalen Systems von konkurrierenden kapitalistischen Staaten an. Sanktionen sind Bestandteil des Kräftemessens.
Ein Blick in die Geschichte von Sanktionen zeigt, dass diese keine friedliche Alternative zum Krieg sind. In der Vergangenheit waren Sanktionen oft nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Sie dienten als Vorstufe für eine weitere Eskalation, an deren Ende auch der Einsatz von militärischen Mitteln stand.
Beispiel Irak: Ende 1990 beschlossen die Vereinten Nationen, den Irak mit Sanktionen zu belegen. Dieser »Wirtschaftskrieg« dauerte dreizehn Jahre lang und war unfassbar brutal. Unter den Sanktionen gegen den Irak starben mehr Menschen als durch die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki. Die Wirtschaft des Irak wurde systematisch angegriffen und den Menschen die Chance auf Entwicklung genommen – UNICEF beziffert die Zahl der toten Kinder mit mehr als einer halben Million. Der damalige Diktator Saddam Hussein und die ihn stützende Elite herrschte in dieser Zeit ungehindert weiter. Im Irak folgte auf diese für die Menschen katastrophalen UN-Sanktionen der Angriffskrieg der USA und ihrer »Koalition der Willigen«.
»Leer gekaufte Läden, rasant steigende Preise: Die Sanktionen treffen die russische Bevölkerung hart.«
Heute geben die Regierenden vor, aus dem »Fiasko« Irak gelernt zu haben. Verantwortliche Politiker:innen und Befürworter:innen von Wirtschaftssanktionen argumentieren, dass heute an der Stelle wirtschaftlicher Totalblockaden ein breites Arsenal intelligenter Druckmittel stünde, bei denen die Zivilbevölkerung verschont bliebe. Doch der Glaube, »gezielte Sanktionen« würden nur die politisch Verantwortlichen eines Landes treffen, ist falsch. Klar: Anders als bei den Sanktionsregimen in den 1990iger Jahren tauchen heute beispielsweise Nahrungsmittel oder Medikamente nicht auf den Sanktionslisten gegen Russland auf. Die EU brüstet sich gar: »Von den Ausfuhr- und Einfuhrbeschränkungen ausgenommen sind Erzeugnisse, die in erster Linie für den Verzehr bestimmt sind, sowie gewisse Erzeugnisse für den Gesundheits-, Pharma-, Nahrungsmittel- und Agrarbereich, um der russischen Bevölkerung nicht zu schaden.«
Aber führt das im Umkehrschluss auch dazu, dass die russische Bevölkerung wirklich nicht ins Fadenkreuz der Sanktionen gerät? Befürworter:innen der Sanktionen machen um diese Frage lieber einen großen Bogen. Denn hier betreten sie dünnes Eis. Schon zu Beginn des Sanktionsregimes mehrten sich die Berichte in westlichen Medien, dass die Zivilbevölkerung besonders von den Strafmaßnahmen betroffen ist. Die Zeit schreibt Anfang März: »Leer gekaufte Läden, rasant steigende Preise: Die Sanktionen treffen die russische Bevölkerung hart.« Und die TAZ schreibt in ihrem Artikel »Putin wird nicht leiden« zur selben Zeit: »Die Sanktionen machen sich in Russland besonders bei der medizinischen Versorgung bemerkbar. Darunter leiden vor allem ärmere Leute.«
(Lies hier den marx21-Artikel »Antikriegsaktivist aus Russland: Die Sanktionen treffen die Falschen!«.)
Die Gefahr von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch für Kinder steigt
Die Klassenspaltung in Russland ist sowieso schon eine der schärfsten auf der ganzen Welt. Und die Auswirkungen der Sanktionen treffen natürlich diejenigen am härtesten, denen es sowieso schon schlecht geht. Nach monatelangem Krieg und immer weiteren Sanktionsverschärfungen sind die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung sowohl in Russland also auch weltweit gut dokumentiert. In einer UN Studie zu Kinderarmut in Osteuropa und Russland heißt es: »Je ärmer eine Familie ist, desto größer ist der Anteil ihres Einkommens, der für lebensnotwendige Güter wie Lebensmittel und Benzin aufgewendet werden muss. (…) Der Krieg in der Ukraine und die anschließende Lebenshaltungskostenkrise bedeuten, dass die ärmsten Kinder noch weniger Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen haben und stärker von Kinderheirat, Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch bedroht sind.«
Aber auch jene, die in Lohn und Brot stehen, werden getroffen. Es ist nicht Vladimir Putin, der arbeitslos wird, wenn westliche Konzerne ihre Zelte in Russland abbrechen. Und es ist auch nicht Dmitri Medwedew, der unter den höheren Preisen, den Reisebeschränkungen oder der Einschränkung des Zahlungsverkehrs leidet. Die Sanktionen treffen aber nicht nur die russische Bevölkerung. Weil Russland ein tief in den Weltmarkt integriertes Land ist, haben die Sanktionen dramatische Auswirkungen auf die Armen und Lohnabhängigen auf der ganzen Welt. Von den gestiegenen Energiekosten über die Schwierigkeiten für Millionen von Wanderarbeiter:innen in den ehemaligen Sowjetrepubliken, die dringend benötigten Rücküberweisungen für ihre Familien zu tätigen, bis hin zur Krise in der globalen Ernährungsversorgung. Die Sanktionen gegen Russland sind sicher nicht die alleinige Ursache der Probleme, aber sie verschärfen die angespannte Situation der Weltwirtschaft zusätzlich und tragen zur Vertiefung der globalen Armut bei.
Es gibt keine guten Sanktionen
Hier befinden sich die Unterstützer:innen von Sanktionen in einem Dilemma. Denn je konsequenter Sanktionen umgesetzt werden und je erfolgreicher die Wirtschaft eines Landes – in diesem Fall Russland – unter Druck gesetzt wird, desto umfassender wird die Zivilbevölkerung davon betroffen sein. Oder anders formuliert: Das Ziel, die russische Wirtschaft hart zu beschädigen, wird nur erreicht werden, wenn sogenannte Kollateralschäden in Kauf genommen werden.
Die in den Sanktionsregimen festgeschriebenen Ausnahmeregelungen für humanitäre Güter ändern daran wenig. Sie dienen mehr als moralische Beruhigungspillen für die westlichen Gesellschaften. Mit dem Verweis auf diese Ausnahmeregelungen versuchen die Architekt:innen der Sanktionen, das Image der Strafmaßnahmen aufzupolieren.
»Eine Sache müssen wir alle verstehen: Heutige Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden sind vergleichbar der mittelalterlichen Belagerung von Städten, um sie zur Kapitulation zu zwingen«, schrieb der amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas im Juni 2019, nachdem er im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates die Folgen der US-Sanktionen gegen Venezuela und Ecuador untersucht hatte.
Russland ist seit 2014 sanktioniert
Befürworter:innen von Sanktionen rechtfertigen die tödlichen Kosten der Strafmaßnahmen mit den größeren politischen Zielen, die durch sie langfristig erreicht werden könnten. Doch die Geschichte zeigt, dass die Herrschenden in den von Sanktionen betroffenen Ländern keinen Machtverlust durch diese Sanktionen fürchten müssen. Putins Regime wurde schon nach der Krim Annektion 2014 mit EU-Sanktionen belegt. Statt sich gegen ihren Präsidenten Putin aufzulehnen, hat die russische Bevölkerung bekannterweise selbigen 2018 mit einem Rekordergebnis erneut zum Präsidenten gewählt. Auch in anderen Ländern mit Diktatoren haben Sanktionen gar nichts bewirkt, außer der Zivilbevölkerung noch mehr Armut, Hunger und Tod zu bringen. Ob Irak, Nordkorea, Haiti, Serbien, Syrien – trotz Sanktionen blieben jene, die eigentlich aus dem Amt gedrängt werden sollten, fest im Sattel. Denn: Politiker in den von Sanktionen betroffenen Ländern können die Aggression westlicher Staaten nutzen, um die Reihen hinter sich zu schließen.
Auf lange Sicht weiß niemand genau, wie die Sanktionen die russische Wirtschaft treffen werden. Während Weltbank und IWF vor dem Risiko einer globalen Rezession warnen, korrigierten beide Institutionen ihre Prognose für Russland nach oben. Laut IWF wird das Bruttoinlandsprodukt Russlands 2022 nicht mehr um 6 Prozent, sondern nur noch um 3,4 Prozent zurückgehen und 2023 noch einmal um 2,3 Prozent. Unterm Strich hält das Handelsblatt fest: »Russische Wirtschaft robuster als erwartet – was vor allem am Staat liegt«.
Die russische Wirtschaft ist robuster als erwartet
Befürworter:innen der Sanktionen fordern deswegen ihre Verschärfung. Das jetzige stumpfe Schwert der Sanktionen müsse nur schärfer gemacht werden. Sie steigen voll in die Logik des Wirtschaftskrieges ein. Je konsequenter dieser geführt würde, desto erfolgversprechender sei er. Der Blätter-Autor Michael R. Krätke schreibt in seinem Beitrag »Putins großer Bluff – Wie Russland den Wirtschaftskrieg verliert«: »Wenn der Westen den Wirtschaftskrieg konsequent führen will, bleibt nur eins: den Druck weiter erhöhen, die Sanktionen weiter verschärfen. Auch im Wirtschaftskrieg gilt es, sich nicht vom Nebel des Krieges und von der Propaganda des Gegners einschüchtern zu lassen.«
Was Krätke übersieht ist, dass sein Vorschlag längst Programm der Regierenden ist. Unbeirrt von der »Propaganda Putins« (als ob diese irgendeinen Einfluss auf Politiker:innen ausüben würde) haben verantwortliche westliche Politiker:innen die Sanktionen immer weiter verschärft. Die EU hat mittlerweile ihr achtes Sanktionspaket verabschiedet. In den Sanktionsverschärfungen steckt die Dynamik der Eskalation. Denn längst sind aus vereinzelten »gezielten Sanktionen« gegen Personen ein ganzes Bündel an Strafmaßnahmen geworden. Die Schwelle zum totalen Wirtschaftsembargo, wie im Irak in den 1990iger Jahren, wird nur wegen der im Sanktionsregime formulierten Ausnahmeregelungen noch nicht überschritten. Eine weitere Verschärfung würde bedeuten, diese Richtung einzuschlagen.
Sanktionen sind Teil der Eskalationsspirale in diesen Krieg hinein
Es ist bezeichnend, dass sein Text weder das Wort Imperialismus noch das Wort Zivilbevölkerung enthält. Genauso wie andere Beiträge drückt sich Krätke sowohl um die Frage, welche Auswirkungen seine Vorschläge der weiteren Verschärfung der Sanktionen auf die Zivilbevölkerung haben werden, als auch um die Einordnung von Sanktionen in die Geopolitik des Westens. Wie viele andere Linke auch, gerät er in gefährliches Fahrwasser, weil er unkritisch einen herrschenden Block unterstützt. Ohne Frage: Putin hat einen Angriffskrieg begonnen. Aber seit wann ergibt sich aus dem völkerrechtswidrigen Verhalten von imperialistischen Ländern ein Automatismus, wonach die Linke auch einem Sanktionsregime zustimmen müsse? Als die USA im Frühjahr 2003 den Angriffskrieg gegen den Irak starteten, kam niemand auf die Idee, Sanktionen gegen die USA zu fordern oder Sanktionen gegen die »Oligarchen« in den USA oder Sanktionen gegen die verantwortlichen Politiker:innen der 43 Ländern, die der »Koalition der Willigen« beigetreten waren.
Wie soll also die Linke mit der jetzigen Situation umgehen? Die Linke sollte ehrlich Bilanz ziehen: Die Unterstützung von Sanktionen des Westens führt in die Irre. Die Sanktionen sind nicht nur politisch eine Sackgasse. Schlimmer noch: Sie sind Teil der Eskalationsspirale zwischen zwei imperialen Blöcken. Wie andere Sanktionsregime zuvor treffen sie vor allem die Zivilbevölkerung. Und je länger sie dauern und je mehr Strafmaßnahmen hinzukommen, desto brutaler wird es – vor allem für die Menschen in Russland. Linke sollten den kollektiven und individuellen Dissens gegen repressive Regierungen oder Diktaturen unterstützen und verteidigen, aber nicht Maßnahmen befürworten, welche diejenigen bestrafen, die das Pech haben, unter solchen Regimen zu leben.
Sanktionen bringen der Ukraine den Frieden nicht näher
Die beschlossenen Sanktionen gegen Russland dienen genauso wenig der ukrainischen Bevölkerung. Auch sie leidet, denn sie bringen den Menschen dort den Frieden keinen Schritt näher. Die Sanktionen verwischen die Grenze zwischen Krieg und Frieden. Sie normalisieren einen Zustand, den der britische Linksliberale Edmund Morel 1920 als »Friedenskrieg« bezeichnet hat. In diesem Zustand werden Maßnahmen auf den Weg gebracht, die darauf abzielen, die wirtschaftlichen Ressourcen eines anderen Landes in Zeiten des nominellen Friedens zu zerstören. »Krieg ist Frieden« – mit dieser Losung bombardiert der Große Bruder in George Orwells Roman 1984 seine Untertanen im Reich Ozeanien. Die Umdeutung der Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil in der Fähigkeit von Imperien, ihre Macht zu zementieren. Will die Linke Geschichte schreiben, ist sie gefordert, die verbalen Täuschungen ihrer Zeit achtsam zu entschlüsseln. Das gilt für Putins-Regime allemal. Aber der Sanktions-Bluff des Westens sollte dabei nicht fehlen.
Titelfoto: Ian Simmonds
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Schlagwörter: Krieg, Russland, Sanktionen, Weltwirtschaft