Über den Aufstand in Jerusalem und Jesus. Von John Rose
Um gleich den richtigen gotteslästerlichen Ton anzuschlagen, selbst wenn es intellektuell etwas unfein ist, lasst uns mit Elvis statt mit Jesus beginnen. Eine bedeutende Minderheit Amerikaner denkt, dass Elvis immer noch am Leben sein könnte. Und wer diese Bilder von Gracelands sieht, Elvis’ ehemaligem Landsitz, dem wird schnell klar, dass viele von den Massen, die dort hinpilgern, Gracelands in eine Art Schrein verwandelt haben. Es ist leicht, sich über diese alternden Rock’n’Roller lustig zu machen – »traurig« ist das Wort, das mir dazu in den Sinn kommt. Aber sind es nicht vor allem recht normale ältere Männer und Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, die den zerschellten Träumen ihrer Jugend nachtrauern? (Lies hier den marx21-Artikel »War Jesus ein Roter?«.)
Tatsächlich gibt es ein Beispiel dieses Phänomens, das uns viel näher ist, die Aufregung nach dem Tod von Prinzessin Diana. Die britische Socialist Workers Party wies sie in ihrer Zeitung, Socialist Worker, zu Recht als Massenhysterie zurück, sie erklärte aber auch, dass diese Hysterie ihre Ursache in dem hatte, was Marx einmal Entfremdung nannte. Die Klassengesellschaft zerstört die Fähigkeit fast aller Menschen, in sich selbst einen ursprünglichen, kreativen Ausdruck zu finden, deshalb suchen sie nach allen Arten von Ersatz, einschließlich der Verwandlung von Toten in Ikonen der Heldenverehrung und in Symbole für ihre Träume, und Ideale für ihr Leben. Und außerdem: Haben wir nicht auch Beispiele bei den Linken? Che Guevara nahm nach seinem Tod einen mystischen Status an, völlig unverhältnismäßig angesichts seines wirklichen Beitrags für die Weltrevolution. Und schlimmer, viel schlimmer, es gab einmal eine außerordentlich unerfreuliche orthodox-trotzkistische Gruppe, die besessen war von einer so genannten Totenmaske Leo Trotzkis, viele Jahre nach dessen Ermordung. Und das alles im 20. Jahrhundert, im Zeitalter des Humanismus, der Wissenschaft und Rationalität. Kein Wunder, dass so etwas vor 2.000 Jahren ein üblicher Vorgang war.
Götter und Gott
Wenn wir versuchen, uns der Welt von vor 2.000 Jahren zu nähern, müssen wir uns erinnern, dass Götter und Gott als etwas Gegebenes hingenommen wurden. Götter und Gott griffen auf unterschiedlichste Weise in das Alltagsleben der Menschen ein, dachten jedenfalls die Menschen. Einem Traum, einem Gewitter, einem unerwarteten Ereignis, einem plötzlichen Tod wurde unmittelbar religiöse und schicksalhafte Bedeutung zugewiesen. Außerdem wurden Menschen zu Göttern – besonders römische Kaiser. [1]
Ich verwende die Formulierung »Götter und Gott« bewusst. Ich möchte vermeiden, den Glauben an den einen Gott als notwendigerweise »fortschrittlicher« darzustellen, als den Glauben an viele Götter. Immerhin brauchen wir nur an Weltzivilisationen von heute zu denken. Es steht außer Zweifel, dass der Beitrag des monotheistischen Judaismus und des monotheistischen Christentums und des monotheistischen Islams gewaltig ist, aber wer kann behaupten, dass ihr Beitrag größer ist als der der Vielgötterwelt des alten Ägyptens, Griechenlands und Roms, oder wenn wir schon dabei sind, der anderen religiösen Kulturen Asiens und Afrikas? Dennoch ist die Idee von dem einen Gott wichtig. Und ich möchte nebenbei den brillanten Archäologen und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, C. Gordon Childe, erwähnen. Er war, für einen Menschen seines Berufs ungewöhnlich, ein Marxist, und sein Buch »What Happened in History« ist zu Recht nach wie vor ein Klassiker. Er machte eine faszinierende Beobachtung über die Eisenzeit, die Periode vor etwa 2.500 Jahren. Er stellte fest, dass sich die Verbreitung neuer, rationalerer Religionen, einschließlich Varianten von Ideen des einen Gottes, wie ein roter Faden quer über die bekannte Welt zieht: Judaismus, Zoroastrismus der Perser und der Aufstieg von Buddha und Konfuzius im Fernen Osten. Etwa zur selben Zeit hatte sich das klassische Athen mit den Anfängen von Wissenschaft sogar noch darüber hinaus entwickelt.
Childe argumentiert, dass eine erste Idee von einer allgemeinen Menschlichkeit auftrat, und er setzte sie in Beziehung zur plötzlichen, relativ leichten Verfügbarkeit billiger landwirtschaftlicher Eisenwerkzeuge, mit denen das Land bestellt werden konnte. Die Produktivität auf dem Land erlebte einen Aufschwung. Handel mit Gütern fand in nie zuvor gesehenem Ausmaß statt. Ideen wurden ausgetauscht und miteinander verschmolzen. Neue Ideen, neue Weisen zu denken und Dinge zu tun, kamen auf. Gesellschaften begannen sich aus der, wie Childe es nennt, »Stammesbarbarei« zu entwickeln. [2] Wenn Childe Recht hat, dann ist dies sicher ein Wendepunkt, den wir zu jedem Jahresende feierten sollten – was vor 2.500 Jahren geschah, nicht die Geburt einer Nichtperson vor 2.000 Jahren. Dazu gleich mehr.
Widerstandskrieg gegen Rom
Tatsächlich ist die Idee von dem einen Gott ziemlich sicher noch älter. Das Londoner British Museum beherbergt, unter den vielen wundervollen Kunstwerken, die es anderen Zivilisationen geraubt hat, einige Armana-Briefe. Das sind Tontafeln, Briefe, die der ägyptische Pharao Echnaton aussenden ließ, ein paar davon an ein Habiruvolk. Es gibt einen alten Streit, ob diese Hebräer waren. Das Wesentliche hier ist jedoch, dass Echnatons Sonnengottanbetung die Anbetung des einen Gottes vorwegnahm. (Übrigens, ist Sonnenanbetung nicht höchst vernünftig?) Neuere archäologische Ausgrabungen in Galiläa, Israel, haben rund 1.800 Jahre alte Sonnengottbilder auf Mosaikböden von Synagogen freigelegt. Sonnengottbilder auf Synagogenböden sind nahezu unglaublich. Schließlich verbietet gerade die jüdische Religion die Anbetung von Idolen. Sonnenanbetung fällt in diese Kategorie. Es gibt eine große Debatte über die Bedeutung dieser Bilder – vielleicht sind sie Verzierungen. In jedem Fall erzählt uns diese Debatte etwas darüber, was Jüdischsein vor 2.000 Jahren bedeutete: Dass es viele verschiedene Formen des Jüdischseins und der Anbetung des einen Gottes gab.
Zum Beispiel beteten die Jüdinnen und Juden von Judäa, einer kleinen römischen Provinz mit der Stadt Jerusalem als Mittelpunkt, ihren Gott in anderer Weise an als die Jüdinnen und Juden von Samaria, der benachbarten Provinz. Die Jüdinnen und Juden von Samaria erkannten nicht einmal den Jerusalemer Tempel an. Sie beteten auf einem Berg. Die Jüdinnen und Juden von Galiläa wiederum hatten eine Tradition unbedingten Unabhängigkeitswillens und des Aufstands. Es war natürlich Galiläa, von wo Jesus angeblich stammte. Zusätzlich gab es eine große jüdische Diaspora fast im gesamten römischen Reich – Jüdinnen und Juden, die sich fast hauptsächlich in städtischen Zentren sammelten, am bekanntesten ist Alexandria und, natürlich, Rom selbst. Und schließlich, als der jüdische Krieg gegen Rom Gestalt annahm, entstanden viele halbjüdische, religiös-politische Parteien, jede mit ihren eigenen Regeln für das, was Jüdischsein bedeutete.
Vor 2.000 Jahren kämpfte Rom immer noch darum, seine Autorität über Judäa zu behaupten. Seine Methode, durch einheimische herrschende Klassen zu regieren, erwies sich als außerordentlich schwierig, weil sowohl die städtischen Armen in Jerusalem als auch die Bauernschaft in den umliegenden Gebieten Jerusalems herrschende Klasse durch und durch verachteten. Rom war zu keiner Zeit wirklich erfolgreich, die Region zu unterwerfen. Die Rebellion grollte mehr als 50 Jahre lang dicht unter der Oberfläche und brach gelegentlich in offenen Aufständen und schließlich von 66 n.Chr. bis 70 n.Chr. dem regelrechten Widerstandskrieg sowohl gegen die römische Herrschaft als auch seine jüdischen Marionettenherrscher aus. Es hat eine gewisse Bedeutung, dass der erste Gospel von Markus, die erste berühmte Geschichte über Jesu Leben, ziemlich sicher im Jahre 70 n.Chr. vollendet wurde, dem Jahr, als die Römer den Widerstand zerschlugen und den Jerusalemer Tempel zerstörten. Bemerkenswerterweise haben wir für diese Zeitphase einen genauen historischen Bericht des romanisierten jüdischen Historikers Josephus. Es ist der einzige Bericht dieser Art. Jede Diskussion dieser Zeit, einschließlich aller seriösen akademischen Diskussionen, wird unvermeidlich von Josephus dominiert. Wer war dieser ungewöhnliche und gleichzeitig widerwärtige Mann?
Josephus
Erstens war er ein Verräter. Er gehörte dieser korrupten Jerusalemer herrschenden Klasse an, die unter den armen Jüdinnen und Juden keinerlei Ansehen genoss. Zunächst unterstützte er den Widerstandskrieg – aber nur weil er musste. Er war sogar einer seiner Führer. Aber dann wechselte er die Seiten auf besonders scheußliche Weise. Es scheint, dass er ein Selbstmordabkommen nach einer wichtigen militärischen Niederlage brach: Er lief buchstäblich in die Arme der erfreuten römischen Generale! In Rom wurde er gefeiert und nahm sogar an den römischen Festlichkeiten nach der endgültigen Niederlage Jerusalems und der Zerstörung des Tempels teil. Er schreibt billigend von »Kriegsbeute«, die in Rom ausgestellt wurde, einschließlich der heiligen Menora, des siebenarmigen Leuchters, der aus dem Jerusalemer Tempel geraubt worden war. [3]
Rom übertrug ihm die Rolle als halboffizieller Historiker. Seine Geschichte des jüdischen Kriegs war auf Griechisch geschrieben, für die Literati des Römischen Reiches. Sollten wir ihm auch nur ein Wort glauben? Dazu gibt es zweierlei zu sagen: Erstens versucht er mit seiner Geschichtsdarstellung, sowohl ein römisches als auch ein jüdisches Publikum zu befriedigen. Obwohl dies zu fantastischen Entstellungen führt, erzwingt der Drahtseilakt eine gewisse Disziplin. Zweitens gab es eine Tradition der griechischen und römischen Geschichtsschreibung, die, während sie alle Arten von propagandistischen und mystischen Schwächen hatte, dennoch die Bedeutung nachprüfbarer empirischer Beweise begriff. Josephus wollte sich ganz sicher in diese Tradition einordnen.
Es gibt jedoch einen weiteren Grund, warum wir Josephus ernst nehmen müssen. Tessa Rajak, die eine neuere Biografie geschrieben hat, stellte fest, dass Josephus’ Beschreibung des jüdischen Aufstands gegen Rom einen Vorgang aufdeckt, der modernen Historikern bekannt ist. Dieser Punkt ist so wichtig, dass es sich lohnt, sie zu zitieren:
»In Bezug auf die Juden Palästinas … gibt es jeden Grund anzunehmen, dass sie sich zu zwei Nationen entwickelten … reich und arm … In dem Moment, da die Auseinandersetzungen begannen … [bestätigten sie] auf verblüffende Weise das Muster und den Entwicklungsverlauf anderer Revolutionen, die zeitlich näher liegen und Historikern unvergleichlich besser bekannt sind. [4]«
Sie fährt mit einem faszinierenden Vergleich mit den verschiedenen Stufen der Französischen Revolution fort, und das Wesentliche ist: Josephus beschreibt spontan die Dynamik einer wirklichen Revolution. Das gibt seinem Bericht besonderes Gewicht.
Jesus
Aber es gibt noch mehr. Wie konnte dieses Manuskript überhaupt überleben? Es muss dutzende Male kopiert und von den frühen christlichen Mönchen, die es als ein wichtiges historisches Dokument betrachteten, aufbewahrt und gehegt worden sein, da es sich auf die Zeit von Jesus bezieht. Sie hielten das Dokument sogar für so wichtig, dass sie nicht verstehen konnten, warum die Person Jesus nicht erwähnt wurde. In dem Glauben, dass Josephus einen Fehler gemacht hatte, ergänzte einer von ihnen seinen Namen in einer kurzen Anmerkung! Es überrascht nicht, dass diese Anmerkung Quelle hitziger Debatten ist, aber fast alle modernen christlichen Historiker und Theologen erkennen dies jetzt als Fälschung an. Aber lasst uns den Fälscher preisen! Er garantierte das Überleben des Josephus-Zeugnisses von der jüdischen Revolution.
Die Wahrheit ist, dass Josephus diesen Jesus aus einem sehr guten Grund nicht erwähnte: Weil er ziemlich sicher nicht da war. Dafür erwähnte Josephus andere jüdische Rebellen, von denen einige sogar Jesus hießen – es war ein sehr häufiger Name –, und ich werde auf einige von ihnen weiter unten eingehen. Zunächst jedoch will ich mich kurz damit befassen, wie die moderne Forschung nach dem so genannten historischen oder »wahren« Jesus sucht. Geza Vermes ist einer der Forscher, die die Rollen vom Toten Meer untersuchen. Er gehört zu einer modernen Tradition, die Jesus wieder für das Judentum vereinnahmt. Am Anfang seines Buches »Jesus the Jew« argumentiert er, dass wir nach dem Mann suchen sollen, der »von christlichen wie jüdischen Mythen gleichermaßen so entstellt wurde … [der] weder ein Christ der Kirche war, noch der Abtrünnige und Butzenmann der jüdischen Volkstradition.« [5] Interessanterweise folgt das moderne Christentum demselben Pfad. Der Papst betont die jüdischen Wurzeln von Jesus und das »organische« Band zwischen Judaismus und Christentum. [6] Das ist ein bisschen spät angesichts der rund 2.000 Jahre alten christlichen Behauptung, dass die Jüdinnen und Juden Jesus getötet haben. Aber das ist nicht alles. Der Vatikan unterscheidet außerdem, und ich zitiere aus einem offiziellen Vatikandokument, zwischen der Art, wie »Jesus sich selbst seinen Zeitgenossen darstellte« und »wie diese dazu kamen …, nach der Erscheinung als ein von den Toten Auferstandener, an Jesus zu glauben«. [7] Kann jedoch dieser aufgeklärte Vorschlag, zwischen dem Leben von Jesus und denen, die nach seinem Tod über ihn schrieben, aufrechterhalten werden? Nicht wirklich, denn es gibt nicht die Spur eines historisch zuverlässigen Nachweises aus seiner Zeit. Alle wesentlichen Beschreibungen wurden nach seinem Tod verfasst, vor allem in den Evangelien. Ein Artikel, der christliche Erzieher unterweist, wie sie die Evangelien mit der Art »progressiven« Denkens, wie ich es gerade beschrieben habe, in Einklang bringen können, betont selbst den großen Einfluss der geschichtlichen Umstände auf die Evangelienschreiber.
Die Evangelien
Die Schwierigkeit, den »wahren« Jesus aus dem Kontext, in dem die Evangelisten schrieben, herauszuschälen, erfordert die erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers, weil jedes Evangelium einen anderen »wahren« Jesus beschreibt. Dazu ist eine viel gründlichere Analyse vonnöten, als hier möglich ist, aber es gibt ein paar Beispiele: Markus’ Evangelium »scheint sich besonders mit dem Leiden zu befassen und betont nachdrücklich, dass wirkliche Einsicht in die Person Jesus nur möglich ist, wenn sein Leiden und Tod betrachtet werden«. [8] Der Autor legt dar, es sei möglich, dass dieses Evangelium unmittelbar nach der jüdischen Niederlage und der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. geschrieben wurde. Tausende jüdische Rebell:innen waren gerade gekreuzigt worden. Die vorherrschende Stimmung war apokalyptische Verzweiflung. Eine gute Zeit, an einen Messias zu glauben … Der Autor weist auf Folgendes hin: In Markus’ Evangelium »reißt in dem Moment, da Jesus stirbt, der Vorhang des Tempels entzwei. Das bedeutet …, das Schicksal eines Opferkultes ist besiegelt«. [9] Es ist nicht schwierig, Jesus am Kreuz als alternativen Anziehungspunkt zum Tempel zu sehen.
Matthäus’ Evangelium wurde vermutlich rund fünfzehn Jahre später geschrieben. Matthäus’ Jesus zollt den jüdischen Gebräuchen, den Speisegesetzen, Sabbat als Ruhetag, viel mehr Respekt als Markus’ Jesus. Das geht so weit, dass der Autor sogar behauptet, Matthäus’ Jesus »verkörpert die gesamte Geschichte Israels«, indem er Jesu Bergpredigt mit der Szene von Moses auf dem Berg Sinai vergleicht. Warum ist dieser Jesus so jüdisch? Weil »Matthäus’ Gemeinde eine kleine Untergruppe verschiedener konkurrierender jüdischer Bewegungen ist, die versuchen, die Leerstelle, die durch die Zerstörung des Tempels entstand, zu füllen«. [10]
Lukas’ Evangelium, vermutlich ungefähr zur selben Zeit wie das von Markus geschrieben, bietet wiederum einen anderen Jesus an: Der Autor schreibt, dass Lukas:
»… Rom davon überzeugen möchte, dass die Kirche keine Bedrohung darstellt … und als rechtmäßige Religion legalen Status erhalten solle … [Deshalb] wird Jesu Familie als gesetzestreue Bauern aus Galiläa porträtiert … Der erwachsene Jesus antwortet auf die Nachricht von Pontius Pilatus’ neuesten Gewalttaten nicht, indem er nach Rache ruft, wie Römer vielleicht von Einwohner:innen des Unruheherds Galiläa erwarten würden, sondern indem er stattdessen seine jüdischen Genoss:innen zur Buße auffordert … Pilatus selbst hält Jesus jeden Verbrechens für unschuldig … Dieses positive Porträt von Römern hat den willkommenen Nebeneffekt, die Kirche von jenen Jüdinnen und Juden zu distanzieren, die gegen Rom revoltiert hatten … Lukas’ Jesus ist der Heilsbringer, der Versöhnung, Vergebung, Vollkommenheit und Friede bringt … . [11]«
Bevor wir die Evangelien verlassen, möchte ich noch kurz Karl Kautskys »The Foundations of Christianity« erwähnen. Anfang des letzten Jahrhunderts geschrieben, wurde Kautskys Buch für viele Generationen von Sozialist:innen und Kommunist:innen das marxistische Standardwerk zur Frage des Christentums. Ob es allerdings noch den heutigen Maßstäben einer historischen Analyse der Welt des Altertums und besonders der modernen Bibelkritik gerecht wird, ist zu bezweifeln, in jedem Fall würde ein Urteil darüber den Rahmen dieses Artikel bei weitem sprengen. Dennoch, selbst der oberflächlichste Vergleich von Kautskys Buch mit »The Class Struggle in the Ancient Greek World« des Oxforder marxistischen Gelehrten G.E.M. de Ste Croix, in den 1980er Jahren veröffentlicht, veranschaulicht die Schwierigkeit. De Ste Croix ist geradezu zwanghaft vorsichtig in Bezug auf Quellen, eine Anforderung an die Forschungsmethodologie, die in Kautskys Buch weitgehend fehlt. Wie auch immer, Kautsky hat ziemlich sicher den »Kommunismus« der frühen jüdischen Christen übertrieben. Er zeigte jedoch brillant auf, wie die Evangelien gezwungen waren, zumindest teilweise den Kampf zwischen Reich und Arm widerzuspiegeln.
Bekanntermaßen erwähnt nur das Lukasevangelium Lazarus, den armen Mann, der von Abraham, dem Propheten des Alten Testaments, gesegnet wird, während er den reichen Mann verdammt. Und wieder lässt Lukas’ Evangelium Jesus in der Bergpredigt sagen: »Selig ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes.« Dies ist dasselbe Evangelium, in dem Jesus sagt, es sei einfacher für ein Kamel durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen reichen Mann, das Reich Gottes zu betreten. In Matthäus gibt es keinen Lazarus, und Jesus segnet in der Bergpredigt die Armen nur »im Geiste«. »Alle Spuren des Klassenhasses werden mit diesem geschickten Revisionismus verwischt«, schreibt Kautsky [12], als die frühen jüdisch-christlichen Gruppen beginnen, sich den pazifistischen Anforderungen der römischen Gesellschaft anzupassen.
Zum Schluss, und wiederum kann dieser kurze Kommentar dem Thema nicht gerecht werden, müssen noch die »Gnostischen Evangelien« erwähnt werden. Diese Evangelien bieten eine völlig andere Version der Jesusgeschichte. Im Gegensatz zum orthodoxen Judaismus und Christentum wird das »Schisma, [das] die Menschheit von ihrem Schöpfer trennt«, verworfen. »Selbstgewissheit ist Wissen über Gott; das Selbst und das Göttliche sind eins«. [13] Es mag sein, dass die frühe christliche Führung diese Evangelien wegen möglicher hinduistischer und buddhistischer Einflüsse unterdrückte. Ebenso wichtig ist, dass die Doktrin von der körperlichen Auferstehung abgelehnt wird. Einem Autor zufolge könnte diese Doktrin »einem politischen Auftrag gedient haben … indem sie die Autorität … der [etablierten] Kirchen rechtfertigte«. [14]
Der Jerusalemer Tempel
Wenden wir uns jetzt dem zu, was vor rund 2.000 Jahren, als der Jerusalemer Tempel zerstört wurde, als sozioökonomische, kulturelle, politische und religiöse Atmosphäre von Judäa und Galiläa in den 70 Jahren seit Jesu angeblicher Geburt bezeichnet werden könnte. Wie konstruierten die Evangelienschreiber und andere die Persönlichkeit Jesu aus dieser Atmosphäre? Was hier vorgestellt wird, ist nicht im Geringsten systematisch. Alle Quellen sind propagandistisch, und zudem gibt es nicht viele. Josephus dominiert, und dann gibt es Fetzen aus römischen, jüdischen und christlichen religiösen Quellen. Was wir also haben, ist eine Art Flickenteppich von Charakteren und Ereignissen ohne bestimmte Ordnung. Erinnern wir uns, dass wir uns in einer vorrevolutionären und dann revolutionären Situation befinden. Religiöse Ideen sind beherrschend, und Jüdinnen und Juden erwarten den Messias. [15]
Es gab Rebell:innen und Prophet:innen, und Rom machte keinen besonderen Unterschied zwischen ihnen. Beide Gruppen wurden regelmäßig als Agitatoren gekreuzigt. Josephus schreibt über falsche Prophet:innen und verdammt sie. Aber ein Prophet, der Josephus als falsch galt, könnte für andere sehr real sein. Er beschreibt, wie kurz bevor der Tempel an Rom fiel, etwa 6.000 einfache Leute [hier übertreibt er ziemlich sicher die Zahl] durch einen falschen Propheten dorthin geführt worden waren, der ihnen erzählt hatte, dass Gott die »Beweise der Rettung« offenbaren würde. [16] Es war eine Selbstmordmission, und sie wurden alle verbrannt. [17] Josephus selbst ist jedoch bereit, Prophet:innen zu folgen, falschen oder anderen. Er lässt sich langatmig über all die Vorzeichen aus, die den Fall des Tempels ankündigten: einen Stern, einen Kometen, eine geweihte gebärende Kuh, eine Kutsche, die über den Himmel fliegt, und vier Jahre vor dem Krieg gab es einen Bauern, genannt Jesus, der Tag für Tag und Nacht für Nacht laut auf Festen prophezeite. Er wurde für seine Prophezeiungen regelmäßig ausgepeitscht, aber das brachte ihn nicht zum Schweigen. [18] Josephus ist außerdem sehr bereitwillig, die Römer als Handlanger Gottes zu sehen, die sein Volk bestrafen, weil es den Tempel beschmutzt. [19]
Aus der Zeit davor, als Josephus ein junger Mann war, berichtet er, dass er bereit war, einem Eremiten – er nennt ihn Bannus – für drei Jahre in die Wüste zu folgen. [20] Josephus’ Beschreibungen haben unter Wissenschaftler:innen zu heftigen Spekulationen über diese Aufenthalte in der Wüste geführt. Die Römer köpften oder kreuzigten Wüstenpropheten. Die berühmte Qumran-Sekte vom Toten Meer, die Essener, schuf eine Gemeinschaft in der Wüste, um der moralischen Verseuchung, und der realen Korruption von Jerusalem, zu entgehen. Politische Rebell:innen gruppierten sich in der Wüste neu. Josephus beschreibt einen Ägypter (ein »besonders plausibler Kandidat für einen Möchtegernmessias« [21]), der seine Anhänger:innen aus der Wüste führte, um auf Jerusalem zu marschieren, und der göttlichen Hilfe hinreichend vertraute, sich gegen die römische schwere Infanterie zu stellen. Aber um vom Erhabenen zum Profanen überzugehen, stellt Josephus’ Biografin auch fest, dass es möglich war, den römischen Steuereintreibern durch den Gang in die Wüste zu entgehen! [22]
Eine nicht versiegende Quelle der Agitation für Römer und die jüdischen Autoritäten in Jerusalem war Galiläa. Dies ist jetzt das »heiße« Thema für alle, die nach Jesu historischen Wurzeln suchen. Es gibt eine Auseinandersetzung über die Jüdinnen und Juden vor 2.000 Jahren in Galiläa. Waren sie gerade konvertiert? Waren Jüdinnen und Juden erst kurze Zeit zuvor dorthin eingewandert? Es gibt immerhin Übereinstimmung darüber, dass Jüdischsein in Galiläa anders war. Der Jerusalemer Tempel schien oft weit entfernt. Außerdem sprechen wir über ein Berg- und Bauernvolk auf fruchtbarem Land und mit einer starken Tradition der Selbstgenügsamkeit. Es gab eine wirkliche Feindschaft gegenüber Herrschern von außen, besonders, wenn sie ihnen schwere Steuern auferlegten.
Als zweifelhafter Führer des jüdischen Aufstands wurde Josephus von Jerusalem abgeordnet, um sich an die Spitze des Aufstands in Galiläa zu stellen. Er scheint über unglaubliches Wissen zu seiner jüngsten Geschichte zu verfügen. Josephus beschreibt etliche Generationen derselben Familie, die alle mit dieser Agitation verbunden sind. Zum Zeitpunkt von Jesu angeblicher Geburt gab es einen Judas von Galiläa, der die Bewegung gegen die römische Volkszählung anführte, um der Besteuerung zu entgehen. Vierzig Jahre später wurden zwei seiner Söhne, Jakob und Simon, wegen revolutionärer Agitation gekreuzigt. Ein überlebender Sohn, Menachem, wurde später einer der revolutionären Führer in Jerusalem. Ein Neffe von Menachem, Eleazar, war der legendäre Hauptmann in Masada, wo ein paar hundert Zeloten den Römern nach dem Fall von Jerusalem Stand hielten, was im Massenselbstmord endete. (Zufälligerweise könnte ein anderer Name für Eleazar, wie Jesus ein gebräuchlicher Name, Lazarus sein.)
Judas
War Judas ein Zelot [23] oder, wie Josephus über ihn behauptet, ein Vertreter einer »vierten Philosophie«? Es gibt eine wissenschaftliche Debatte darüber, die uns hier aber nicht weiter beschäftigen muss. Dass es eine revolutionäre politisch-religiöse Strömung gab, darüber besteht kein Zweifel. Um aus »The Ruling Class of Judaea: The Origins of the Jewish Revolt Against Rome AD 66.70« von dem Oxford-Professor Martin Goodman, einem der interessantesten Bücher zu diesem Thema, zu zitieren:
»Judas soll nicht nur dargelegt haben, dass Unterwerfung unter Rom von Übel sei, sondern auch, dass die Anerkennung jeder Art von menschlichem Herrscher falsch sei, da Jüdinnen und Juden allein von Gott regiert werden sollten … Die Auswirkung dieser Ideologie war Anarchie und politische Revolution. [24]«
Einige Juden scheinen geglaubt zu haben, dass solche Gewalt gottgewollt war. Das unwiderstehlichste Motiv für jede Jüdinn und jeden Juden, sich am gewaltsamen Kampf zu beteiligen, war ein Glaube, dass das messianische Zeitalter nicht nur eine Hoffnung für die Zukunft war … sondern von gegenwärtiger Aktualität. Mit der Ankunft des Messias und den letzten bevorstehenden Schlachten, so anschaulich in den Qumran-Kriegsrollen beschrieben … gab es keine andere Wahl, als sich daran zu beteiligen. [25]
Josephus zitiert den Glauben an den Messias »als Hauptursache der Revolte«. [26]
De Ste Croix hat den Hass zwischen Stadt und Land vor 2.000 Jahren betont. Er stellt fest, dass der Jesus der Evangelien vor allem ein Bauernprediger in Ortschaften ländlicher Gebiete Galiläas ist. [27] Die Stadt versuchte, so viel Lebensmittel wie möglich vom Land zu holen. Im Gegenzug versuchten die Bauern, heimlich so viel wie möglich zu speichern. Denn Reinheit, religiöse und moralische, lagen für die galiläischen Bauern auf dem Land. Vermes hat auch die jüdische religiöse Literatur dieser Zeit untersucht und bietet einige Beispiele von galiläischen Bauern, die versuchten, ihre Waren auf dem Jerusalemer Marktplatz zu verkaufen, und von Kaufleuten, die sich über ihre galiläischen Dialekte lustig machten! [28] Sogar das Wort für Bauer beinhaltet eine zusätzliche beleidigende Wendung. Vermes zitiert talmudische Quellen, in denen »Bauer« auch die Bedeutung von »unreines Tier« enthält. [29] Und er zitiert das Johannesevangelium, in dem jemand Verwunderung äußert, dass der Messias von Galiläa kommen soll. [30]
Die Suche nach den galiläischen Wurzeln von Jesus hat ihn zwar nicht finden können, zumindest aber eine Tradition unorthodoxer, jüdischer charismatischer Heiler freigelegt. Hanina ben Dosa gehört dazu. Sein Name taucht zum ersten Mal in der Mischna auf (einer Sammlung religionsgesetzlicher Lehren). [31] Die religiösen Texte berichten, dass seine Macht im Gebet so groß war, dass er dem tödlichen Schlangenbiss widerstehen konnte. Er war als Heiler berühmt. Von Seiten des Jerusalemer Tempels wurde ihm misstraut, dennoch wurde er geholt, als der Sohn eines Jerusalemer religiösen Führers von einem tödlichen Fieber befallen wurde. Hanina ben Dosa betete, und der Junge wurde geheilt. [32] Seine Heilergabe war verbunden mit seiner Frömmigkeit und seinem Hass auf Geld. Sünde und Krankheit gehörten zusammen, so wurde geglaubt. [33] In dieser Tradition ist Armut nahezu heilig, und ein Heiler, der sie freiwillig wählt, steigert seine Fähigkeiten. Dies ist eine Tradition, die auf den Propheten Jesaja aus dem alten Testament zurückgeht. [34] Von einem Zeitgenossen ben Dosas wird berichtet, dass er sagte, Männer wie ben Dosa »sind Männer der Wahrheit, die das üble Gewinnstreben hassen« – »sie hassen ihr eigenes Geld und umso mehr das Geld anderer Menschen«. [35]
Der Aufstand in Jerusalem und der Jesus Mythos
Wir wenden uns jetzt dem Aufstand in Jerusalem selbst zu. Zunächst der Hintergrund: Das Tempelgebäude war großartig und zog Pilger aus der gesamten jüdischen Diaspora an, die bereits in allen Städten des römischen Reiches gut entwickelt war. Jerusalem war eine sehr reiche Stadt – Bauarbeiten, Handwerke und Handel boten Beschäftigung für die verarmten Bauern vom Land. Die jüdische Religion pflegte eine einzigartige Tradition der Wohlfahrt, die das Christentum vollständig übernahm. Jedoch anders als bei der Ben-Dosa-Version des Judaismus gibt hier der reiche Geldgeber den Armen und konnte sich dadurch geheiligt fühlen, auch wenn er nach wie vor sehr reich blieb. [36] Jedenfalls war die Wohlfahrt wichtig. Dadurch wurden viel mehr Menschen, als sonst möglich gewesen wäre, über Wasser gehalten. Es gab also eine große städtische, arme Bevölkerung, die sich mit einer großen Pilgerbevölkerung mischte. Ihre Unzufriedenheit blieb eine beständige Bedrohung für Herrscher – jüdische wie römische. Die jüdische herrschende Klasse war grundsätzlich nicht in der Lage, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Zudem wurden die Reichen reicher und die Armen ärmer. Neuere archäologische Ausgrabungen haben offen gelegt, wie riesig die Häuser der Jerusalemer Reichen vor 2.000 Jahren waren. [37] Josephus erkennt ausdrücklich Klassenhass aus Ursache des Aufstands. [38] Tatsächlich ist er schockiert über die Bereitschaft der Armen, die Reichen umzubringen und ihr Eigentum an sich zu nehmen. Es gibt somit zwei Kämpfe: Jüdinnen und Juden gegen römische Herrscher und arme Jüdinnen und Juden gegen Reiche.
Das griechische Wort »Stasis« spielt eine große Rolle: Es bedeutet »innerer Unfriede«. Teilweise spiegelt dies die Fraktionskämpfe unter den Führern des Aufstands wider; aber auch das ständige Misstrauen der armen Juden gegenüber den reicheren Führern des Aufstands. Der römische Historiker Tacitus war erstaunt, wie bitter die Stasis selbst noch dann war, als die römische Armee im Jahr 70 n.Chr. gegen Jerusalem vorrückte. [39] In der vorrevolutionären Zeit wurde der Unfriede manchmal benutzt, um die jüdische Führung zu zwingen, sich gegen Rom zu stellen. So erzählt uns Josephus, dass Pontius Pilatus – ja, das ist er, der oberste römische Beamte, der im Kreuzigungsmythos von Jesus vorkommt –, der angeordnet hatte, Legionsstandarten mit dem Bild des Kaisers nach Jerusalem zu bringen, durch Massenaktionen zu ihrer Beseitigung gezwungen wurde. [40] Und als der besonders widerliche Kaiser Caligula befahl, seine Statue im Jerusalemer Tempel aufzustellen, berichtet Josephus, dass ein Streik, eine vollständige Arbeitsverweigerung, das verhinderte. [41]
Eine der ersten Handlungen in diesem Aufstand war die Verbrennung der Schuldnerarchive im Tempel. Ein Bauer lieh sich meistens Geld von einem in Jerusalem wohnenden Landbesitzer. Dann stellte er fest, dass er die Zinszahlung nicht leisten konnte. [42] Somit erwarb der Landbesitzer schließlich das Stück Land des Bauern und verwandelte den Bauern in einen landlosen Arbeiter – und sehr wahrscheinlich in einen Banditen, der sich einer Räuberbande von ehemaligen Bauern anschloss, die nicht in der Lage waren, Steuern zu zahlen. [43] Der Angriff auf die Geldmacht im Herzen des Tempels ist sicher in dem Jesusmythos, wo er die Geldwechsler aus dem Tempel vertreibt, versinnbildlicht. Ein:e landlose:r Arbeiter:in konnte auch als Schuldsklav:in (Zinsknecht) enden. Matthäus’ Evangelium enthält ein Gleichnis über einen Schuldsklaven, der samt Frau und Kindern verkauft werden soll. [44]
Der berühmteste Banditenführer ist Barabbas – zusammen mit Jesus im Gefängnis. Der jüdische Gelehrte Hyam Maccoby schrieb ein sehr aufregendes Buch über Jesus und den jüdischen Aufstand im Gefolge der 68er Bewegung, in dem er Jesus als Barabbas identifiziert. [45] Leider wird sein Buch nicht ernst genommen. Josephus beschrieb verschiedene andere Bandenchefs, Robin-Hood-Figuren, einschließlich eines Jesus aus Galiläa. [46] Für einige gibt es Bestätigungen in der rabbinischen Literatur. Archäologische Funde stützen die Möglichkeit von Räuberhöhlen in der Nähe bestimmter verarmter Dörfer [47], von denen aus eine Art humanitäre Lebensmittelhilfe nach dem Muster der Vereinten Nationen organisiert wurde, mit Gütern, die den Reichen geraubt worden waren! Die Zelot:innen rekrutierten einige dieser Banditen, um ihre Machtbasis in Jerusalem zu stärken; [48] einige mögen die sicarii, die Dolchmänner, gewesen sein, die mit verborgenen Dolchen in der Menge untertauchten, um dann die Feinde der Revolution zu ermorden.
Wie sollen wir die Zelot:innen einschätzen? Das Wort wird bis heute als Beleidigung im Sinne von »fanatisch« benutzt. Die französischen Revolutionär:innen, die Jakobiner:innen, und natürlich die Bolschewiki wurden mit dieser Beleidigung belegt, aber wir sollten das ignorieren. Es ist verführerisch, die Zelot:innen als best organisierte revolutionäre Partei in der Stadt zu betrachten. Es scheint, als seien sie die best organisierten Verteidiger:innen der Stadt gewesen, und sie prägten einige der besten Münzen der Revolte [49] mit ihrer »Freiheits«-Parole, die Gegenstand heftiger Spekulationen über ihre religiöse oder säkulare Bedeutung bleibt. [50] Faszinierenderweise wählten sie, als sie den Tempel eroberten, einen neuen Hohen Priester per Los, und vermieden bewusst Kandidaten aus den traditionellen Familien der herrschenden Klasse. Der Hohe Priester war ein Dorfsteinmetz, möglicherweise der erste Hohe Priester solch niedrige Herkunft – von Josephus als Flegel und Dummkopf abgetan! [51]
Tessa Rajak ergänzt in ihrer Biografie über Josephus, dass sein Urteil an dieser Stelle zu leichtfertig von Wissenschaftler:innen übernommen wurde, trotz der günstigeren talmudischen Auslegung. [52] Das Problem besteht darin, dass unsere Abhängigkeit von Josephus ein endgültiges Urteil über die Zelot:innen wirklich erschwert. Es gibt ein sensationelles Beispiel dafür, warum das so ist. Josephus gibt eine brillante Beschreibung der letzten Schlacht gegen die Römer in Masada, die in einem Massenselbstmord endet. Er legt dem Zelot:innenführer Eleazar eine lange Rede zur Befürwortung des Selbstmords in den Mund. Die Rede ist eine außerordentlich mächtige Verteidigung der Freiheit. Dennoch gibt es eine sehr nachvollziehbare Meinung, dass Josephus das Ganze erfunden oder zumindest aufgebauscht hat, zum Ausgleich für sein eigenes scheußliches Verhalten in der jüdischen Revolte! [53]
Ich möchte damit enden, dass ich eine mögliche Hypothese zu den beschriebenen Ereignissen aufstelle: dass der Jesusmythos erst Wurzeln fasst und verbunden ist mit der Zerstörung des Tempels. In seiner Beschreibung des Neuen Testaments formuliert Chris Harman in seinem Buch »A People’s History of the World«, folgendermaßen:
Einerseits gab es das Gefühl revolutionärer Dringlichkeit, einer immanenten [im religiösen Sinne] Umgestaltung, die von den jüdischen Rebell:innen in Palästina vor der Zerstörung Jerusalems ausging, der Vision der Apokalypse und der Herrschaft der »Heiligen«. Die Reichen und Mächtigen gestürzt, und die Armen und Demütigen herrschen in ihrer statt … Gleichzeitig jedoch wurde die revolutionäre Botschaft verwässert, indem sie aus dem Bereich der Erde in den Bereich der Ewigkeit verschoben wurde. [54]
Sie wurde verwässert, um in der jüdischen Diaspora im ganzen römischen Reich über soziale Klassenschranken hinweg Gehör zu finden. Wie es dazu gekommen sein könnte, ist Gegenstand eines entscheidenden Kapitels in Harmans Buch.
Paulus
Eine Schlüsselfigur, vielleicht die Schlüsselfigur, sehr sicher ein wirklicher historischer Charakter, der den Jesusmythos verbreitet und hilft, die frühen christlichen Gemeinden in der jüdischen Diaspora aufzubauen, ist Paulus, früher Saulus, der das blendende Licht sah [55] und auf dem Weg nach Damaskus zum Glauben übertrat. Paulus begann lange vor dem Fall des Tempels zu predigen, vorausgesetzt, die Datierung seiner Briefe ist genau. Für ihn steht die Kreuzigung und die Wiederauferstehung im Mittelpunkt, obwohl er niemals Jesu Leben beschreibt. [56] Es ist natürlich möglich, dass er den Fall des Tempels voraussah – nach Josephus haben andere solche Prophezeiungen gemacht. Wie auch immer, dieser Griechisch sprechende jüdische Handwerker in der Diaspora, möglicherweise ein Zeltmacher, war von der relativ großen Zahl Nichtjüdinnen und Nichtjuden beeindruckt, unzufriedenen städtischen Mittelschichten, Händlern, Handwerkern und Bettlern, die überall im römischen Reich von der jüdischen Religion angezogen waren. Sie waren die »Gottesfürchtigen«, Nichtjüdinnen und Nichtjuden, die nicht bereit waren, sich beschneiden zu lassen, sich den Speisegesetzten und anderen alttestamentarischen Vorschriften zu unterwerfen. Indem er dazu mithalf, die scheinbar ausschließenden Beschränkungen im Judaismus zu beseitigen, erleichterte Paulus den Übertritt, trug so aber auch dazu bei, eine andere Religion zu schaffen. Außerdem wurden einige Riten der einheimischen Religionen – so genannten Heidenreligionen – integriert. Nach Chris Harman wurden die frühen (jüdischen) Christ:innen getrieben von »über das übliche Maß hinausgehender Empfindsamkeit für die Unsicherheiten und die Unterdrückung des Lebens in den Städten des Reiches … Das neue Testament schreibt den Aposteln die Fähigkeit zu, ›in Zungen zu sprechen‹ – mit ekstatischen Reden, die ihren innersten Gefühlen Ausdruck verliehen. In solch einem Zustand war es ihnen möglich, eine neue religiöse Vision aus Elementen von älteren zusammenzufügen.« [57] Aber es handelte sich auch um einen Appell an alle sozialen Klassen. Wie Paulus sagte, ein Sklave und eine Sklavin war dem:r Herr:in gleich, wenn sie Brüder und Schwestern in Christus waren. Und dies drückte dem Christentum auf seinem weiteren Entwicklungsweg wohl seinen Stempel auf.
Dieser Text erschien zuerst bei International Socialism 2:85, Winter 1999.
Übersetz von Rosemarie Nünning.
Titelbild: Dave Herring
Anmerkungen
- »Die Idee, dass ein Herrscher ein Gott sein könne, war den Römern keinesfalls fremd. Nach dem Tod von Julius Cäsar erkannte der Senat ihn als einen Gott an, und ein Tempel wurde ihm 29 v.Chr. gewidmet. Oktavian, sein adoptierter Sohn, nutzte diese Beziehung begeistert aus und erklärte sich selbst auf seinen Münzen zum Divifilius, dem Sohn Gottes.« M. Goodman, The Roman World (44 BC–180 AD), Routledge, 1997.
- C. Gordon Childe, What Happened in History, Penguin, 1985, S. 221.
- T. Rajak, Josephus, Duckworth, 1983, S. 168-173, 218-219 (siehe auch: Flavius Josephus, Der Jüdische Krieg, München 1994–7. Aufl., S. 262-294, 533-536).
- Ebd., S. 26.
- G. Vermes, Jesus the Jew, SCM Press, 1983, S. 17.
- P. Cunningham, The Synoptic Gospels and their Presentation of Judaism, in: D. Efroyinson, E. Fisher und L. Klenicki (Hrsg.), Within Context: Essays on Jews and Judaism in the New Testament, Collegeville, 1993, S. 42.
- Pontifical Biblical Commission instruction (1984), zit. ebd., S. 43.
- Ebd., S. 47.
- Ebd. S. 50.
- Ebd., S. 55.
- Ebd., S. 57-58.
- K. Kautsky, The Foundations of Christianity, Russel & Russel, 1953, S. 279.
- E. Pagels, The Gnostic Gospels, Pelican, 1985, S. 19. Ich bin Michael Rosen sehr dankbar, dass er meine Aufmerksamkeit auf die Gnostischen Evangelien gelenkt hat..
- Ebd., S. 38.
- M. Goodman, The Ruling Class of Judea, Cambridge University Press, 1995, S. 1.
- T. Rajak, a.a.O., S. 90.
- M. Goodman, The Ruling Class of Judaea, a.a.O., S. 90-91.
- T. Rajak, a.a.O., S. 91 [siehe auch: Josephus, VI 5, 3].
- Ebd., S. 94-95.
- Ebd., S. 37-38.
- M. Goodman, The Ruling Class of Judaea, a.a.O., S. 93 [Josephus II 13, 5].
- T. Rajak, a.a.O., S. 38.
- G. Vermes, a.a.O., S. 47.
- M. Goodman, The Ruling Class of Judaea, a.a.O., S. 93-94.
- Ebd., S. 91-92.
- Ebd., S. 89, und T. Rajak, a.a.O., S. 141.
- G.E.M. de Ste Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World, Duckworth, 1983, S. 427, und G. Vermes, a.a.O., S. 48.
- G. Vermes, a.a.O., S. 52.
- Ebd., S. 54-55.
- Ebd., S. 5.
- Ebd., S. 73.
- Ebd. S. 75.
- Ebd., S. 58-72.
- M. Goodman, The Ruling Class of Judaea, a.a.O., S. 64-65.
- G. Vermes, a.a.O., S. 7.
- M. Goodman, The Ruling Class of Judaea, a.a.O., 64-65.
- Ebd., S. 5.
- Ebd., S. 13.
- Ebd., S. 20.
- Ebd., S. 45-46 [Josephus II 9, 1ff.].
- Ebd., S. 7.
- Ebd., S. 57-154.
- Ebd., S. 60-61.
- T. Rajak, a.a.O., S. 117, Fußnote 40 [Matt 18, 23].
- H. Maccoby, Revolution in Judaea: Jesus and the Jewish Resistance, Ocean Books, 1973.
- M. Goodman, The Ruling Class of Judaea, a.a.O., S. 63 [Josephus über Räuber, II 13, 3].
- Ebd., S. 63-64.
- Ebd., S. 225.
- Ebd., S. 201, Fußnote 3.
- T. Rajak, a.a.O., S. 139; und M. Goodman, The Ruling Class of Judaea, a.a.O., S. 17-19.
- T. Rajak, a.a.O., S. 133 [Josephus IV 3, 3ff.].
- Ebd., S. 13. Martin Goodman tut den Hohen Priester ebenfalls als unbedeutenden Menschen ab, S. 186..
- M. Goodman, The Ruling Class of Judaea, a.a.O., S. 214; T. Rajak, a.a.O., S. 220 Josephus VII 8, 1ff..
- C. Harman, A People’s History of the World, Bookmarks, 1999, S. 93.
- M. Goodman, The Roman World (44 BC–180 AD), a.a.O., S. 319-320.
- Ebd., S. 20.
- C. Harman, a.a.O., S. 95.
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