Die neue Regierungskoalition mit Netanjahu an der Spitze ist die rechteste Regierung der Geschichte Israels. Es geht dabei um weit mehr als die Person Benjamin Netanjahu. Wie groß ist die Gefahr einer faschistischen Entwicklung? Von Ramsis Kilani
Deutsche Medienrezeption
In Deutschland wird die neu gewählte israelische Regierungskoalition als »ultrarechts« bezeichnet. Das sagt aber nur wenig über ihren Charakter. Stattdessen steht für gewöhnlich weiter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Mittelpunkt der Berichterstattung: Er sei aufgrund des laufenden Korruptionsprozesses gegen ihn ein Zweckbündnis mit dem rechten Rand eingegangen, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Auch wenn es stimmt, dass die Entmachtung des Obersten Gerichtshofs Netanjahus Likud mit noch rechteren Parteien verbindet, blendet der Fokus auf Einzelpersonen die treibenden Faktoren des Rechtsrutsches in Israel aus.
Tiefere Wurzeln
Weder Netanjahu noch faschistische Galionsfiguren wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich sind alleine dafür verantwortlich, dass es jetzt 61 rechtsextreme Koalitionsmitglieder gibt. Abgesehen von den Mehrheitsverhältnissen bei den Wahlen lässt auch die Erklärung Minister Miki Zohars von der Partei Likud tief blicken. Laut ihm würden Israelis den Korruptionsvorwüfen an Netanjahu niemals glauben, weil er »zur jüdischen Rasse gehört und die jüdische Rasse über das größte Humankapital verfügt, am klügsten und begabtesten ist. Die Öffentlichkeit weiß, was der Ministerpräsident für das Land tut und wie ausgezeichnet er seinen Job macht.« Netanjahu hingegen behauptet, er wolle und könne die noch rechteren Kräfte in der Koalition zügeln.
Religiöser Zionismus
Der Wahlerfolg der Liste Religiöser Zionismus ist Ausdruck einer israelischen Rechtsentwicklung. Der Grund dafür ist nicht, dass sie religiös ist. Die jüdische Religion muss wie andere Religionen nicht per se Ausdruck in reaktionärer Politik finden. Der Grund ist, dass Teile des Bündnisses im Kern als faschistisch einzustufen sind. Sie wollen die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs einschränken, um auf Grundlage des israelischen »Nationalstaatsgesetzes« die Unterdrückung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung zu verschärfen und darüber hinaus auch demokratische Grundrechte für jüdische Frauen, sexuelle Minderheiten und alle anderen auszuhebeln.
Aufstieg des Kahanismus
Was mehrere Parteien auf der Wahlliste und nun in der Koalition verbindet, ist der Bezug auf die Ideen Meir Kahanes. Kahane war ein rechter Rabbi aus den USA, der die sofortige Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und die gewaltsame Errichtung eines theokratischen Staates „Großisrael“ vom Nil bis zum Euphrat verfolgte. Die Koalitionsparteien Noam (Lieblichkeit) und insbesondere Otzma Jehudit (Jüdische Macht) stehen in kahanistischer Tradition. Noam vertritt eine aggressive frauenfeindliche und LGBT-feindliche Politik, Otzma Jehudit setzt sich in ihrem Parteiprogramm das Ziel eines »totalen Kriegs« für einen »jüdischen Kapitalismus«. Verschiedene Minister und führende Aktivisten bekennen sich offen zum Faschismus und beziehen sich positiv auf den Nationalsozialismus.
Gefahr des Faschismus
Otzma Jehudit stützt sich nicht vorwiegend auf die taktische Einbindung in Parlament und Regierung, sondern auf ihren paramilitärischen Straßenarm. Die vom Parteivorsitzenden Ben-Gvir befehligte Straßenbewegung Lehava führt den Kampf gegen nichtjüdische geschäftliche und persönliche Beziehungen. Der ehemalige Polizeichef Almog Cohen stellte im Negev zusätzlich die Barelmiliz auf und besetzt mittlerweile ebenfalls einen Ministerposten. Ben Gvirs Kontrolle über die »Grenzpolizei« im besetzten Westjordanland und annektierten Ostjerusalem hat eine militärische Parallelinstitution von der traditionellen Staatsgewalt abgekoppelt. Zwei Besatzungssoldaten in Hebron bezogen sich auf Ben Gvirs neue »Ordnung«, als sie einen linken Israeli angriffen.
Nährboden des Rechtsrucks in Israel
Faschistische Kräfte haben angesichts der ökonomischen Krise in Israel Aufwind bekommen. Zentrale wirtschaftliche Stützpfeiler haben in letzter Zeit gelitten. Etwa die für die Nationalökonomie wichtige IT-Branche hat in den letzten Jahren 34 Milliarden US-Dollar an Wert verloren. In der Pandemie stieg die Arbeitslosigkeit zeitweise auf 25 Prozent an. Der Lebensstandard hat sich besonders für die Mittelschicht massiv verschlechtert. Die Coronakrise und der Ukrainekrieg schwächen die Wirksamkeit der einseitigen Subventionierung Israels durch eine Reihe von Großmächten ab. Gleichzeitig bereiten die Formierung neuer palästinensischer Widerstandsgruppen im Westjordanland und der steigende internationale Druck Israel Kopfzerbrechen.
Siedlungskolonialer Kontext
Obwohl die neue israelische Regierung offen faschistische Kräfte einbindet, darf man nicht ausblenden, dass unabhängig von der jeweiligen zionistischen Regierungspartei der israelische Staat ein siedlungskolonialistischer ist, der sich auf die fortwährende Unterdrückung und ethnische Säuberung der Palästinenser:innen stützt. Die Wahl einer Regierungskoalition ohne faschistische Kräfte wird daran nichts ändern, wie die gesamte Geschichte des Staats Israel zeigt, sondern nur das Ende des Zionismus, die Beseitigung aller Mauern und Checkpoints und die Schaffung eines gemeinsamen säkularen Staates.
Schwache Opposition
Trotz großer Protestaktionen in israelischen Städten gegen die rechtsextreme Regierung sollte die reale Kraft der Oppositionsbewegung nicht überschätzt werden. In den Demonstrationen vereinen sich Widersprüche, die in der Ablehnung Netanjahus nur kurzfristig überbrückt werden können. Die Opposition basiert nicht nur auf in der Bedeutungslosigkeit verschwundenen linksliberalen Kleinstparteien wie Meretz. Treibende Teile des anti-Netanjahu-Lagers sind auch andere Rechtsextreme wie Avigdor Lieberman, der Vorsitzende der oppositionellen Siedlerpartei Unser Jüdisches Heim. Die palästinensische Frage ist auch für die zukünftige Perspektive der Siedlergesellschaft selbst zentral. Aber sie ist auch in einer israelischen Oppositionsbewegung zu Netanjahu nicht lösbar. Die neue Regierungskoalition und die drohende Stärkung faschistischer Kräfte in Israel erhöhen die Dringlichkeit des Aufbaus einer internationalen Palästina-Solidaritätsbewegung, die es mit den eigenen Regierungen aufnehmen kann. In Deutschland bietet der Kampf gegen die Kriminalisierung von Palästinasolidarität und des Gedenkens an die Vertreibung der Palästinenser:innen vor 75 Jahren, der Nakba, einen Ansatzpunkt dafür.
Schlagwörter: Faschismus, Israel, Palästina