Die Proteste gegen das Regime im Iran halten an – ebenso die staatliche Repression. Wir sprachen mit Peyman Jafari über die Dynamik der Proteste, die Durchsetzungskraft des Regimes und Denkzettel für die Linke
Peyman Jafari ist Sozialist und arbeitet als Assistenzprofessor für Geschichte und Internationale Beziehungen am College of William and Mary in Williamsburg, Virginia. Seine Dissertation »Oil, Labor and Revolution: A Social History of Labor in the Iranian Oil Industry, 1973-83«, wurde 2020 mit dem »The Mehrdad Mashayekhi Dissertation Award« der Vereinigung für Iranische Studien ausgezeichnet. Zuletzt auf Deutsch von ihm erschienen ist das Buch: »Der andere Iran: Geschichte und Kultur von 1900 bis zur Gegenwart«.
marx21: Das Regime hat signalisiert, dass es die Sittenpolizei abschaffen wird. Zeigt dies, dass die Bewegung gewinnt?
Peyman: Wir können feststellen, dass die Bewegung bereits einige Erfolge und Veränderungen erzielt hat. Einer davon ist, dass sie die Frage der Frauenrechte in den Vordergrund gestellt hat. Das Bild der Frau ist nicht mehr das eines Opfers, sondern eher das einer kämpferischen Akteurin des Wandels. Das hat die Mentalität und das Bewusstsein von Tausenden von Menschen im Iran wirklich verändert. Was die Strategie des Staates angeht, so reagiert er sowohl mit Repression als auch mit Zugeständnissen – allerdings überwiegt die Repression. Das Regime experimentiert mit der Idee, die Sittenpolizei abzuschaffen. Damit soll die Bewegung getestet werden, um zu sehen, ob den Menschen dieses Zugeständnis ausreicht. Ich denke, dass das Regime flexibel genug ist, das Gesetz zu gegebener Zeit aufzugeben. Wenn die Proteste weitergehen und das Überleben des Regimes bedrohen, wird sie das Gesetz fallen lassen. Aber die Bewegung reagiert sehr skeptisch. Es geht nicht mehr nur um das sogenannte Kopftuch-Gesetz. Ein sehr bedeutender Teil der Gesellschaft sagt, dass sich das gesamte politische System ändern muss.
Ist die heutige Bewegung im Iran vor allem durch Widersprüche an der Spitze des Regimes entstanden?
Ich denke, der Bruch an der Spitze des Regimes geht auf die Revolution 1979 zurück. Die iranische Revolution wurde von verschiedenen Kräften getragen – der Arbeiter:innenbewegung, der Frauenbewegung, der Linken, den säkularen Nationalist:innen und den Islamisten. Die Islamisten waren die dominierende Kraft, aber die Revolution wurde von allen gemacht. Die Islamisten um ihren Führer Ayatollah Khomeini unterdrückten die anderen Kräfte und konzentrierten die Macht in ihren Händen. Dies hat zu einem inneren Widerspruch in Staat und Gesellschaft geführt. Die Revolution war so populär, dass sie Zugeständnisse machen mussten. Wenn es nach Khomeini gegangen wäre, hätte er die Macht ausschließlich in den Händen der Kleriker und seiner Anhänger:innen konzentriert, aber das konnte er nicht. Er hat die Macht der Geistlichen gefestigt, ausgedrückt durch den Obersten Führer und den Wächterrat -, aber es gab auch Parlaments-, Präsidentschafts- und Kommunalwahlen.
Außerdem gab es alle Arten von Volksorganisationen auf der Ebene der Stadtviertel sowie Organisationen von Studierenden- und Arbeiter:innen. Es bestand also ein Widerspruch zwischen der Machtkonzentration in den Händen der Kleriker und dem anhaltenden Einfluss dieser Volksorganisationen.
Es gibt eine Dialektik zwischen den Widersprüchen an der Spitze des Regimes und dem, was im Rest der Gesellschaft geschieht. Die Arbeiterräte, die aus der Revolution 1979 hervorgegangen waren, wurden 1982 aufgelöst. Unabhängige Arbeiter:innenorganisationen wurden unterdrückt. Doch die Netzwerke überlebten. In den 1990er Jahren begannen sie wieder aufzutauchen. Die Beschäftigten begannen, sich neu zu organisieren. Islamische und säkulare Feministinnen schlossen sich Anfang der 1990er Jahre zusammen und gründeten Frauenzeitschriften. Die Studentierenden begannen sich wieder zu organisieren. Auch dieser Druck führte zu Konflikten an der Spitze.
Der Westen ist nicht verlässlich. Ihr streckt ihnen die Hand entgegen, während sie sich darauf vorbereiten, uns anzugreifen
In den 1990er Jahren kam es nach dem Iran-Irak-Krieg zu einem Zusammenstoß zwischen Konservativen und Reformisten. Ali Akbar Haschemi Rafsandschani schuf einen Gesellschaftsvertrag, der jede große politische Liberalisierung verhinderte. Gleichzeitig führte er eine wirtschaftliche Liberalisierung ein. Das Regime verstärkte die Ungleichheit in der Gesellschaft. Die Inflation stieg, was 1992, 1993 und 1995 zu Aufständen führte. Dadurch entstand zusätzlicher Druck, der 1997 den Reformisten den Raum öffnete. Die Reformisten forderten kulturelle Freiheiten, beispielsweise sollten sich Frauen und Männer in der Öffentlichkeit frei bewegen können. Der Hidschab sollte den Menschen nicht so restriktiv aufgezwungen werden. Die Zahl der Veröffentlichungen im Iran nahm zu. Filme kamen in die Kinos. Der öffentliche Raum wuchs. Der Reformer Mohammad Khatami wurde 1997 mit einem erdrutschartigen Sieg zum Präsidenten gewählt und 2001 wiedergewählt.
Allerdings setzten die Reformisten die liberale Wirtschaftspolitik fort. Das führte zu mehr Unzufriedenheit in den unteren Schichten. So erklärten die Reformisten beispielsweise, dass ein Arbeitsschutzgesetz nicht mehr für Betriebe mit weniger als zehn Beschäftigten gelten würde. Die Mehrheit der Betriebe im Iran hatte weniger als zehn Beschäftigte, so dass sich die unteren Schichten von den Reformern entfremdeten. Außerdem begannen die Konservativen, die Reformisten zu unterminieren, indem sie Akademiker, Schriftsteller und reformorientierte Politiker verhafteten.
Ein zusätzlicher Faktor schwächte die Reformisten. Die USA waren in Afghanistan und im Irak einmarschiert und drohten, dass der Iran als nächstes dran sei. Präsident George Bush hatte den Iran 2002 als Teil der »Achse des Bösen« bezeichnet. Präsident Khatami, ein Reformist, versuchte sich dem Westen zu öffnen, wurde Mitglied der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds und sprach von Dialog. Die Konservativen hingegen sagten: »Der Westen ist nicht verlässlich. Ihr streckt ihnen die Hand entgegen, während sie sich darauf vorbereiten, uns anzugreifen. Solange wir bedroht sind, werden wir keine reformistischen Experimente dulden.« Sie verschärften das Vorgehen gegen die Reformisten und die Opposition. Die Islamischen Revolutionsgarden erhielten mehr Macht.
Einige der gegen den Iran verhängten Sanktionen kamen dem Regime sogar zugute. Der Schwarzmarkt wird von Personen kontrolliert, die mit dem Staat verbündet sind. So konnten sie Produkte einführen und illegal weiterverkaufen. Die Revolutionsgarden bereicherten sich, weil sie die Grenzen kontrollierten. Außerdem lieferte die Bedrohung aus dem Ausland den Revolutionsgarden einen zusätzlichen Vorwand, um jede Art von Organisation zu unterdrücken. Die Sanktionen haben die Ungleichheit verschärft und die Zivilgesellschaft und die sozialen Bewegungen im Iran untergraben. Sie stärkten die repressivsten Elemente in der iranischen Gesellschaft.
Dies eröffnete Mahmoud Ahmadineschad die Möglichkeit, 2005 zum Präsidenten gewählt zu werden. Ahmadinejad vertrat eine dritte Strategie jenseits der Reformisten und Konservativen. Er bediente sich einer populistischen Rhetorik, versprach, die Armen zu schützen und die Einnahmen aus den Ölexporten zum Wohle der Bevölkerung einzusetzen. Allerdings ging er auch hart gegen alle gewonnenen sozialen und politischen Freiheiten vor. Ahmadineschad privatisierte große Teile der Industrie, die von Angehörigen der Revolutionsgarden und der Bürokratie aufgekauft wurden. Dieser Teil des Privatsektors bildet eine neue soziale Basis für den Staat, einen privaten Kapitalismus, der sehr stark auf den Staat ausgerichtet ist. Die Wiederwahl Ahmadinedschads 2009 wurde von Protesten begleitet. Es gab Beweise für Wahlbetrug. Die grüne Bewegung brachte zwischen Juni 2009 und Januar 2010 in Teheran rund drei Millionen Menschen auf die Straße. Viele wurden verhaftet und getötet.
Damit sind wir beim Bruch an der Spitze angelangt. Infolge der Grünen Bewegung stellte sich die Regierung auf die Seite der Reformisten, und der Kreis der Macht wurde kleiner. Die Proteste wurden unterdrückt, und die Repression nahm zu. Dann kam der »Atom-Deal« mit den USA im Jahr 2015. Der gemäßigte Hassan Rouhani hatte 2013 die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Rouhani versprach, dass die Unterzeichnung des Atomabkommens die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des iranischen Volkes verbessern würde. Frauen und junge Menschen sollten mehr soziale Freiheiten erhalten. Mit dem Atomabkommen wurden die Sanktionen für kurze Zeit aufgehoben. Aber Rouhani enttäuschte die Menschen. Er stellte sich nicht wirklich gegen die Konservativen und lockerte die sozialen Beschränkungen nur begrenzt.
Das wichtigste Element zur Untergrabung der gemäßigten Kräfte um Rouhani war die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im Jahr 2016. Trump ließ das Atomabkommen fallen und kehrte zu den Sanktionen zurück. Die gemäßigten Kräfte im Iran wurden erneut vom Imperialismus unterminiert. Der Bruch an der Spitze setzte sich fort. Aktuell regiert ein kleiner Kreis von konservativen Hardlinern im Iran.
Kannst Du beschreiben, wie die Proteste jetzt organisiert sind?
Die Beschäftigten spielten während der iranischen Revolution eine wichtige Rolle, wurden dann aber unterdrückt. Angesichts der liberalen Wirtschaftsreformen begannen sie jedoch, sich erneut zu organisieren. 1997 gab es zwei Streiks, die zwar unterdrückt wurden, aber dennoch den Wiederaufbau der Arbeiter:innenbewegung beflügelten. Im Jahr 2003 gründeten Busfahrer in Teheran eine unabhängige Gewerkschaft. Zwei Jahre später gründeten Arbeiter einer Zuckerrohrfabrik im Süden Irans eine unabhängige Gewerkschaft. In den 2000er Jahren wurde der 1. Mai zu einem Bezugspunkt für Arbeiter:innen, die Proteste organisierten. Dies hat sich in den letzten 20 Jahren fortgesetzt, wenn auch mit vielen Repressionen, insbesondere nach 2009.
In den letzten Jahren hat die Zahl der Streiks im Iran zugenommen. In den letzten Jahren gab es zwei Wellen von Massenprotesten. Eine richtete sich gegen die steigende Inflation im Dezember 2017 und Januar 2018. Im November 2019 versuchte die Regierung, die Treibstoffsubventionen abzuschaffen. Die Preise stiegen, was erneut zu Aufständen in Dutzenden von Städten führte. Ein wichtiger Aspekt ist die wechselnde soziale Zusammensetzung der Proteste. Im Jahr 2009 war es vor allem die Mittelschicht, die mit politischen Forderungen auf die Straße ging. Bei den Protesten von 2017 und 2019 war jedoch die Arbeiter:innenklasse – vor allem die Arbeitslosen und die verarmten Teile der Arbeiter:innenklasse – mit ihren sozioökonomischen Forderungen die eigentliche treibende Kraft. (Lies hier die marx21-Artikel: »Iran: Die Proteste gehen weiter« und »Revolte im Iran: gegen Sexismus, Armut und Unterdrückung«.)
Welche Beziehung besteht zwischen den aktuellen Protesten und der Arbeiter:innenbewegung?
Für den Erfolg der Bewegung ist es wichtig, dass sie mehr Menschen einbezieht. Im Moment sehen wir Tausende von Menschen auf der Straße, aber noch nicht Hunderttausende oder Millionen. Der andere entscheidende Aspekt ist, dass sich die Arbeiter:innen der Bewegung anschließen. Ein Generalstreik würde der Bewegung auch ihre eigene Lebensfähigkeit beweisen und zeigen, dass es sich um eine Bewegung handelt, die Massen von Menschen mobilisieren und gewinnen kann. Es gibt jedoch ernsthafte Hindernisse, die dem entgegenstehen. Da ist der Mangel an Organisation unter den Beschäftigten. Mit der Fortsetzung der Streiks schließen sich jedoch immer mehr Beschäftigte den bestehenden Netzwerken der LKW-Fahrer, der Lehrer:innen und der Teheraner Busfahrer an. Ein weiteres Hindernis ist die Tatsache, dass die Liberalisierung der Arbeitswelt zu einer großen Zahl von prekär Beschäftigten geführt hat.
So sind etwa 200.000 Menschen in der Ölindustrie beschäftigt, aber die Hälfte von ihnen ist entweder über Subunternehmer angestellt oder hat einen Zeitvertrag. Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Bewegung ein klares sozioökonomisches Programm fehlt. Die sich abzeichnende Koalition zwischen Aktivist:innen aus der Arbeiter:innenklasse und der Mittelschicht ist noch sehr zerbrechlich, und die Mittelschicht dominiert. Es ist notwendig, dass die Bewegung neben Slogans gegen den Autoritarismus und für kulturelle Freiheiten auch sehr klare sozioökonomische Forderungen gegen Privatisierung, prekäre Arbeit, Outsourcing und Liberalisierung sowie für die Begrenzung der Einkommen von Vorstandsvorsitzenden erhebt.
Die Lehrer:innengewerkschaft hat in den letzten Jahren eine Reihe von Streiks organisiert
Wie wichtig sind die Ölarbeiter für die Bewegung?
Die Bedeutung der Ölarbeiter ist symbolisch und strategisch. Sie ist symbolisch, weil die Ölarbeiter die Idee der iranischen Revolution und früherer Bewegungen heraufbeschwören. Aber der Beitritt der Arbeiter wäre auch von strategischer Bedeutung. Öl ist im Iran sehr wichtig, sowohl für den Inlandsverbrauch als auch für den Export. Jedoch hat die Bedeutung der Ölarbeiter im Vergleich zur Zeit der Revolution von 1978 und 1979 abgenommen. Die iranische Wirtschaft hat sich diversifiziert und ist nicht mehr so stark vom Öl abhängig wie vor 40 Jahren. Die Rolle der Ölarbeiter hat sich auch aufgrund der Sanktionen verringert. Wir müssen also auch die anderen Wirtschaftssektoren betrachten.
Ich denke, dass die Transportarbeiter von entscheidender Bedeutung sind, weil der Vertrieb von Ölprodukten von ihnen abhängt. Wenn sie Streiks organisieren, können sie dem Regime wirklich schaden. Ein Industriezweig, der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ist die Lebensmittelverarbeitung. Die Metall- und Autoindustrie im Iran ist die größte im Nahen Osten. Auch der Dienstleistungssektor im Iran ist gewachsen. Die Rolle der Lehrer:innen und des Gesundheitspersonals ist sehr viel wichtiger geworden. Die Lehrer:innengewerkschaft hat in den letzten Jahren eine Reihe von Streiks organisiert. Ich glaube, dass die Lehrer:innen eine wichtige Rolle spielen werden, weil sie die Mittelschicht und die Arbeiter:innenklasse miteinander verbinden können. Ihre Arbeitsbedingungen sind denen der anderen Beschäftigten sehr ähnlich geworden. Kulturell werden sie jedoch immer noch als Teil der Mittelschicht angesehen, und ich denke, dass sie aus diesem Grund eine sehr wichtige verbindende Rolle spielen werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Feminisierung der Arbeitskräfte. Wie ich bereits erwähnt habe, haben viele Frauen eine Ausbildung absolviert, aber sie haben es schwer, nach dem Abschluss einen Arbeitsplatz zu finden. Wenn sie einen Arbeitsplatz finden, werden sie diskriminiert. Einige Stellen werden ihnen gar nicht angeboten. Es gibt Sexismus an den Arbeitsplätzen, Lohnungleichheit und keine Kinderbetreuung. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen liegt bei nur etwa 18 Prozent, das ist eine der niedrigsten Quoten der Welt. Viel Wut, die wir bei den Frauen beobachten, ist auch eine Art Klassenwut – die Frustration darüber, dass sie Teil des Arbeitsmarktes sein wollen und dies nicht können.
Du hast gesagt, dass Sanktionen und Imperialismus die repressiven Kräfte gestärkt haben. Kannst du uns etwas über die Haltung des Westens gegenüber der aktuellen Bewegung sagen? Wie soll sich die Linke im Westen positionieren?
Es ist positiv, dass die Mehrheit der linken Organisationen im Westen die Bewegung unterstützt. Die Linke muss sich bedingungslos auf die Seite der Proteste im Iran stellen, aber dazu brauchen wir eine Debatte über den Imperialismus. Die westlichen Regierungen sind nicht an Demokratie interessiert. Sie würden die iranische Demokratiebewegung in den Abgrund stürzen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen. Ein Teil der Opposition, vor allem außerhalb des Irans, sucht nach Abkürzungen für die Revolution. Was im Iran geschieht, ist ein Massenaufstand mit einer revolutionären Perspektive, aber wir können noch nicht von einer Revolution sprechen, weil die Massenbewegung nicht stark genug ist. Einige Kräfte, die gute Absichten haben, denken: »Wenn die USA uns nur unterstützen würden! Wenn es mehr Sanktionen gegen den Iran gäbe, würde das zu Veränderungen führen.« Das ist ein Irrtum. Es gibt keine Abkürzung für einen Wandel, er kann nur von unten kommen.
Mit dem Atomabkommen wurden die Sanktionen für kurze Zeit aufgehoben
Ich denke, dass die Aktivist:innen vor Ort weit links von den Stimmen stehen, die die Bewegung außerhalb des Irans vertreten. Ich beziehe mich auf Diaspora-Politiker:innen, die auch von europäischen und US-amerikanischen Hauptstädten als Führer:innen der Bewegung gefördert werden, weil sie eine neoliberale Politik vertreten. Was mit dem Iran passieren soll, ist dasselbe, was mit anderen Ländern des globalen Südens geschehen ist. Im Grunde wollen sie ein gewisses Maß an politischer und sozialer Freiheit, aber auch eine Intensivierung der neoliberalen Reformen, die den iranischen Arbeitnehmern schaden werden.
Eine andere Gruppe ruftzu weiteren Wirtschaftssanktionen gegen den Iran. Solche Sanktionen würden den Iran isolieren und die Zivilgesellschaft schwächen und den Boden für weitere Spannungen bereiten, die möglicherweise in einen militärischen Konflikt münden könnten. Einige Oppositionelle sprechen sogar davon, dass Israel zum Beispiel die Atomanlagen im Iran angreifen könnte. Diese Vorstellung ist kriminell, denn im Iran leben 85 Millionen Menschen, und die Folgen würden so vielen Menschen körperlichen Schaden zufügen. Darüber hinaus würde das Regime aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigen und mit der Herstellung von Atomwaffen beginnen. Wie ich bereits erklärt habe, schaden die Sanktionen bereits der Bewegung und schwächen die Durchschlagskraft der Beschäftigten im Iran. Die Arbeiter:innen sind verarmt, sie haben keine Rücklagen, und es gibt keine Streikkasse. Sie haben also kein Geld, auf das sie für ein paar Tage oder ein paar Wochen zurückgreifen könnten, was einen Streik erschwert. Die Leute machen den Fehler zu denken, dass je ärmer die Arbeiter:innen sind, desto eher werden sie streiken. In Wirklichkeit geht es bei der Organisation von Streiks um das Vertrauen der Arbeiter:innen. Wenn das Selbstvertrauen zunimmt, werden sie auch streiken.
Heute könnte eine Revolution im Iran die erste einer neuen Welle von Umwälzungen in der Region und weltweit sein
Viele Kommentatoren sehen die Bewegung nur als eine Revolte gegen die Islamisten. Was denkst du dazu?
Ich denke, die größte Einmischung des Westens ist ideologischer Natur. Die westlichen Eliten versuchen den Kampf im Iran und um den Hidschab als eine Ausnahme darzustellen. Aber das ist nicht der Fall. Ähnliche gibt es in einer Reihe von Ländern in der Region, z.B. in Saudi-Arabien. In diesen Staaten gibt es soziale Beschränkungen und Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum. In Saudi-Arabien sitzt eine große Zahl von Frauen, die sich für ihre Rechte eingesetzt haben, im Gefängnis. Das, was im Iran geschieht, und sei es nur die Kleiderordnung, ist also mehr als nur ein iranisches Problem. Der Kampf dagegen berührt also die Freiheit von Frauen überall. Die republikanischen Politiker in den USA, die sich für die iranischen Frauen einsetzen, gehören zu den größten Heuchlern der Welt, denn sie haben Angriffe auf das Abtreibungsrecht mitgetragen. Auf politischer Ebene ist der Iran zwar ein autoritäres Land, aber weit weniger autoritär als viele Verbündete der USA. Obwohl es im Iran in den letzten vier Jahrzehnten Massenproteste gegeben hat, sind solche Bewegungen in Ländern wie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten mehr oder weniger ausgeblieben. Wenn es in Staaten des Nahen Ostens wie Ägypten zu Protesten und Revolutionen kam, organisierten die herrschenden Eliten in den USA und Saudi-Arabien Interventionen gegen diese Bewegungen. Das beste Ergebnis, das sie sich vorstellen können, ist etwas wie Ägypten – eine Militärdiktatur mit geringen politischen und sozialen Freiheiten, die aber mit den USA und ihrer neoliberalen Politik verbündet ist.
Ja, es muss Freiheit im Iran geben, aber der iranische Kampf ist Teil eines größeren Kampfes für unsere politischen Freiheiten in der gesamten Region und auf der ganzen Welt. Die Privatisierung und die zunehmende Prekarisierung der Arbeit, die wir im Iran beobachten, haben in der ganzen Welt stattgefunden, auch im Westen. Die iranische Revolution von 1978/79 war die letzte große Revolution des 20. Jahrhunderts. Heute könnte eine Revolution im Iran die erste einer neuen Welle von Umwälzungen in der Region und weltweit sein, die Fragen der kulturellen und sozialen Freiheiten sowie des politischen und wirtschaftlichen Wandels zusammenführen. Im Iran laufen alle diese Fragen zusammen. Der Kampf ist bereits im Gange.
Zum Text: Das Interview wurde zuerst auf Englisch in der Zeitschrift International Socialism veröffentlicht. Abdruck in gekürzter und leicht überarbeiteter Version. Aus dem Englischen von Nicolai Pfaff. Das Gespräch führten Naima Omar und Nick Clark.
Titelbild: Iranische Demonstranten auf dem Keshavrz Boulvard, 20.09.2022 – Darafsh
Schlagwörter: Iran, Jina Amini, Revolution