Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst wirft ein Schlaglicht auf die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Demokratisierung und Erneuerung, zeigt aber auch, wo es noch hakt
Anja Voigt ist Intensivpflegerin am Vivantes-Klinikum in Berlin-Neukölln und Mitglied im Betriebsrat. Seit Jahren ist sie als Gewerkschafterin bei ver.di aktiv für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. In der aktuellen Tarifrunde im öffentlichen Dienst bei Bund und Kommunen ist sie Mitglied der Berliner Arbeitskampfleitung.
marx21: Mit einer großen Welle von Warnstreiks haben die Kolleg:innen im öffentlichen Dienst dieses Frühjahr für Aufsehen gesorgt. Nun gibt es eine Tarifeinigung auf Grundlage der Empfehlung aus der Schlichtung. Wie bewertest du diese?
Anja Voigt: Die Einigung ist absolut ungenügend. Und die Schuld dafür liegt bei den Arbeitgebern. Die haben von Anfang an gemauert und klar gezeigt, dass sie nicht bereit sind, die Probleme im öffentlichen Dienst ernsthaft anzugehen. Sie haben in den Verhandlungen und in der Presse den Personalmangel bestritten und wollten uns mit niedrigen Lohnerhöhungen abspeisen. Jeder zusätzliche Euro musste erkämpft werden.
Ist das nicht auch gelungen?
Es geht in dieser Tarifrunde auch darum, den öffentlichen Dienst aufzuwerten oder zumindest die Personalflucht aufzuhalten. Mit dieser Einigung schafft man das sicher nicht. Im Gegenteil: Der Personalmangel wird noch schlimmer werden und der öffentliche Dienst weiter ausbluten.
Also kein adäquater Ausdruck der derzeitigen Kräfteverhältnisse?
Wenn ich sehe, wie stark unsere Warnstreiks waren, finde ich nicht, dass die Schlichtungsempfehlung und die jetzige Einigung die Kräfteverhältnisse widerspiegeln. Zehntausende Kolleg:innen haben sich seit Anfang des Jahres neu bei ver.di organisiert. Eine halbe Million Beschäftigte haben sich an den Warnstreiks beteiligt. Da kann man ja nicht sagen, wir hätten nicht die Macht, unsere Forderungen durchzusetzen.
Wo siehst du die Probleme bei der Einigung?
Wenn die Tarifeinigung, wie sie jetzt auf dem Tisch liegt, angenommen wird, wäre das für die meisten Beschäftigten nicht einmal ein Inflationsausgleich. Man muss den hohen Reallohnverlust aus 2022 ja mit einberechnen. Außerdem soll es jetzt ein Jahr lang nur eine Inflationsprämie geben, statt einer tabellenwirksamen Lohnerhöhung. Klar, die Prämie ist steuerfrei und man hat direkt was auf der Hand. Aber es handelt sich eben nicht um eine echte Erhöhung und es werden auch keine Beiträge in die Renten- und Sozialversicherungen eingezahlt.
Aber sind insgesamt 3000 Euro steuer- und abgabenfreie Inflationsprämie für viele Kolleg:innen, die das Geld jetzt dringend brauchen, nicht auch sehr attraktiv?
Das mag sein, aber eine Inflationsprämie darf keine tabellenwirksame Erhöhung ersetzen! Dazu kommt noch, dass die vorgesehene Laufzeit der Einigung mit 24 Monaten viel zu lang ist. Wir wissen überhaupt nicht, was in zwei Jahren sein wird und wie es mit der Inflation weitergeht.
Nach Ablauf der 24 Monate wären es insgesamt aber tabellenwirksame Lohnerhöhungen von durchschnittlich rund elf Prozent. Das ist doch nicht schlecht.
Das ist noch immer zu wenig. Wir haben letztes Jahr im öffentlichen Dienst einen dramatischen Reallohnverlust von mehr als fünf Prozent gehabt. Selbst wenn die Inflation nächstes Jahr entsprechend den Prognosen deutlich zurückgehen sollte, bliebe mit der jetzigen Einigung insgesamt ein Kaufkraftverlust. Gerade in den unteren Lohngruppen können sich die Leute die Mieten und das Leben in Städten wie Berlin, Hamburg oder München aber schon jetzt kaum noch leisten. Unsere Forderung nach 10,5 Prozent und mindestens 500 Euro mehr bei einer Laufzeit von 12 Monaten ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern angesichts der Inflation absolut nötig. Wir sind als Beschäftigte nicht bereit, die Krisenkosten zu zahlen und die gestiegenen Preise auf uns abwälzen zu lassen. Wozu wir aber bereit sind, ist zu kämpfen. Das haben wir mit unseren sehr starken Warnstreiks bewiesen.
Die Warnstreiks waren beeindruckend. Aber ist die Einigung nicht auch Ausdruck dessen? Immerhin sieht sie höhere Lohnsteigerungen vor als beim Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie, also einer Branche mit einem wesentlich höheren Organisationsgrad als der öffentliche Dienst.
Ohne unsere starken Streiks wäre das Ergebnis mit Sicherheit noch viel schlechter ausgefallen. Es ist richtig, dass wir auch sehen müssen, was wir schon erreicht haben. Wir haben klar gezeigt, dass es sich lohnt zu kämpfen. Aber ich glaube, mit einer Urabstimmung und einem anschließenden Erzwingungsstreik hätten wir noch einmal substantiell mehr rausholen können.
Die Mehrheit der Bundestarifkommission sieht das offensichtlich anders und empfiehlt eine Annahme.
Ich habe großen Respekt davor, dass sich die Kolleg:innen da die Nächte um die Ohren hauen. Ich habe selbst erlebt, wie krass das ist, in einer Tarifkommission zu sitzen und sich ständig zu fragen: Wie weit wollen wir gehen? Was können wir noch erreichen? Wir erleben aber, dass sich viele Kolleg:innen in der Bundestarifkommission einen unbefristeten Streik gar nicht richtig zutrauen und davor zurückschrecken. Hier müssen wir in die Diskussion kommen und überlegen: Woran liegt das eigentlich? Wir brauchen doch perspektivisch diese Karte in der Hand, wenn wir wirklich erfolgreich sein wollen als Gewerkschaft.
Und woran liegt das?
Meiner Erfahrung nach brauchen wir dafür eine Tarifkommission, in der nicht nur die langjährig freigestellten Betriebs- und Personalräte sind, sondern auch neue Kolleg:innen direkt aus den Betrieben und insbesondere aus den Bereichen, die gerade besonders hohe Beteiligung haben. Mit den Tarifbotschafter:innen haben wir hier schon einen Schritt nach vorne gemacht, aber es gibt keine lange Tradition einer systematischen Rückkopplung in die Betriebe. Da wäre noch viel mehr möglich!
Die etwa einhundert Mitglieder der Bundestarifkommission vertreten Tausende Betriebe und Dienststellen. Eigentlich müssten sie vor und während der Tarifbewegung ständig auf Betriebsversammlungen, Mitgliederversammlungen und Streiks reden und sich überall ein eigenes Bild der Lage machen. Einige machen das auch, aber eigentlich müsste das zum normalen Ablauf dazugehören und in die Kampagne eingeplant werden.
Nun kommst du auch aus einem relativ gut organisierten und streikerfahrenen Betrieb. Das ist aber ja tatsächlich längst nicht überall der Fall. Ist da die Sorge vor einer weiteren Eskalation der Tarifbewegung nicht auch verständlich?
Es ist natürlich wahr, dass es nicht überall im öffentlichen Dienst die große Kampfstärke gibt, insbesondere in den Kernverwaltungen sieht es oft düster aus. Das liegt aber auch daran, dass eben nicht überall systematisch aufgebaut wird. Das müssen wir ändern. Ich bin überzeugt, es wäre richtig gewesen, die Auseinandersetzung zu führen und daraus stärker zu werden. Es wäre mehr drin gewesen – nicht nur durch wirtschaftlichen Streikdruck, sondern auch durch ein Framing der Tarifbewegung als politische Bewegung für Umverteilung und eine Aufwertung des öffentlichen Dienstes im Interesse aller. Jetzt sollten wir gut auswerten, was wir aus unseren Erfahrungen lernen können und wie wir die guten Aspekte der Tarifrunde verallgemeinern. Davon gab es nämlich außergewöhnlich viele für eine TVöD-Runde.
Ich denke aber auch, dass es mal an der Zeit für eine Reform der Bundestarifkommission wäre. Bei unseren Kämpfen in Berlin für mehr Personal haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Tarifkommission extrem wichtig für die Auseinandersetzungen ist. In der Tarifkommission müssen die Erfahrungen aus den Betrieben zusammengetragen werden. Uns war auch immer wichtig, dass in der Kommission diejenigen sitzen, die aus den starken Bereichen kommen und sehr eng mit ihren Kolleg:innen alles absprechen. So eine Tarifbewegung ist auch immer sehr dynamisch, deswegen hatten wir uns darauf festgelegt, auch während der laufenden Auseinandersetzung aus den wichtigsten Streikbereichen noch Kolleg:innen nachzuwählen. Ich glaube, dass sich auch für die Bundestarifkommission die Frage in Zukunft stellt, wie die Bereiche, die am stärksten in der Tarifbewegung mitkämpfen, auch möglichst gut vertreten sind.
Wie wird die Bundestarifkommission denn bislang zusammengesetzt?
Obwohl es in der Tarifrichtlinie heißt, die Wahl der Mitglieder von Tarifkommissionen solle möglichst dezentral durch die Mitglieder oder deren gewählte Vertreter:innen des Tarifbereichs erfolgen, werden die Mitglieder der Bundestarifkommission von den Landesfachbereichsvorständen nominiert und dann vom Bundesfachbereich bestimmt. Dazu gibt es überhaupt keine Diskussion in den Betrieben. Dass das auch anders geht, zeigen in Berlin etwa die Kolleg:innen der BSR (Berliner Stadtreinigung, d. Red.). Sie haben auf einer Versammlung der Vertrauensleute ihr Mitglied in der Bundestarifkommission nominiert. So stelle ich mir das in Zukunft für alle Bereiche vor. Wir brauchen einen demokratischen Diskussionsprozess zur Aufstellung der Bundestarifkommission. Sie könnte viel stärker zu einem Gremium werden, dass die streikstarken Bereiche repräsentiert und dadurch die Tarifbewegung von vorne mit viel Selbstbewusstsein prägt. Wenn wir es mit der Erneuerung der Gewerkschaft mit mehr Beteiligung und Bereitschaft zum Konflikt ernst meinen, dann sollte auch diese Diskussion geführt werden.
Ver.di startet nun eine Mitgliederbefragung. Am 15. Mai entscheidet die Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst final. Empfiehlst du deinen Kolleg:innen bei der Befragung mit Nein zu stimmen?
Ich werde mit Nein stimmen und das auch allen anderen so empfehlen. Allerdings gehe ich davon aus, dass es eine mehrheitliche Zustimmung zum Abschluss in der Mitgliederbefragung geben wird. Nach einer Schlichtung mit anschließender Einigung und Empfehlung der Bundestarifkommission zur Annahme ist eine Ablehnung durch die Mitgliedschaft unwahrscheinlich. Und man muss auch wissen: Eine Mitgliederbefragung hat nur empfehlenden Charakter. Selbst wenn die Mehrheit der Mitglieder sich gegen eine Annahme ausspricht, kann die Bundestarifkommission trotzdem annehmen. So etwas hat es in der Vergangenheit auch schon gegeben. In jedem Fall ist eine möglichst große Ablehnung der jetzigen Einigung aber wichtig, nicht nur, um zu zeigen, dass es Unzufriedenheit mit dem Abschluss gibt, sondern auch eine große Kampfbereitschaft der Kolleg:innen in den Betrieben.
Die Wucht eurer Warnstreiks hat viele überrascht. Es war die größte Warnstreik-Welle der jüngeren Geschichte. Wie erklärst du dir die Dynamik?
Es gibt, denke ich, mehrere Ursachen: Eine ist natürlich die hohe Inflation, die die Leute deutlich im Geldbeutel spüren. Sie begreifen zunehmend, dass sich die Zeiten geändert haben, dass sie nichts geschenkt bekommen und dass sie sich das, was sie brauchen, selbst holen müssen. Zudem haben viele in den letzten Jahren auch die Erfahrung gemacht, dass sich Kämpfen lohnt. Meine Kolleg:innen im Krankenhaus etwa haben durch die Kämpfe im Rahmen der Berliner Krankenhausbewegung großes Selbstbewusstsein gesammelt. Wir haben gelernt, dass auch wenn die Gegenseite behauptet, wir würden keinen Fingerbreit bekommen, wir erfolgreich für bessere Arbeitsbedingungen und spürbare Entlastung kämpfen können. Und auch in anderen Bundesländern und Regionen haben zahlreiche Kolleg:innen Erfahrungen von erfolgreichen Kämpfen und Machtaufbau von unten gesammelt. Das ist in dieser Tarifrunde deutlich spürbar gewesen.
Welche Rolle spielt der Fachkräftemangel für das gestiegene Selbstbewusstsein der Kolleg:innen im öffentlichen Dienst?
Ich würde das gar nicht als gestiegenes Selbstbewusstsein beschreiben, sondern vor allem als Wut. Wir erleben seit Jahren, dass wir mit immer weniger Personal die Arbeit hier erledigen müssen, während die Arbeitgeber sagen, mehr Lohn sei nicht drin. Das führt vor allem zu großer Wut bei vielen Kolleg:innen. Die sagen sich: Seid ihr eigentlich bescheuert? Wir brauchen dringend mehr Fachkräfte, überall fehlt Personal und ihr seid nicht bereit, uns zumindest angemessen zu bezahlen für das, was wir jeden Tag leisten?
Gestiegenes Selbstbewusstsein gibt es vor allem dort, wo man schon einmal erfolgreich gekämpft hat. Bei den anderen, die jetzt auch mit gestreikt haben, ist es, glaube ich, eher Wut, die sie antreibt.
Aber stimmt es nicht auch, dass viele Kommunen einfach pleite sind?
Ich lasse mir nicht mehr sagen, es wäre kein Geld da. Ich weiß, dass viele Kommunen überschuldet sind. Das ist ja seit mehr als zwanzig Jahren das Dauerargument, warum man den öffentlichen Dienst und damit die Daseinsfürsorge kaputtspart. Wir sind es aber, die das Land am Laufen halten. Da muss einfach genug Geld da sein. Punkt. Und das ist es eigentlich auch: Der Staat ist der große Gewinner dieser Inflation, bei Bund und Ländern sprudeln die Steuereinnahmen. Es braucht eine bessere finanzielle Ausstattung und eine Entschuldung der Kommunen, statt weiter am Personal zu sparen!
Wie blickst du auf die letzten Wochen zurück?
Es macht mir wahnsinnig viel Mut, wenn ich sehe, wieviele meiner Kolleg:innen in den letzten Wochen mit gestreikt haben. Ich bin ja schon eine Weile gewerkschaftlich aktiv und kann mich noch erinnern an TVöD-Runden mit drei Aktiven und einer ver.di-Fahne vor dem Krankenhaustor. Jetzt hatten wir 200 Leute im Warnstreik vor den Toren und dann kamen noch Kolleg:innen von der BSR dazu. Da war die ganze Rudower Straße voll – eine riesen Hauptstraße vor meinem Krankenhaus. Das sind einfach ganz andere Zeiten als noch vor ein paar Jahren.
Ist das eine bundesweite Entwicklung?
Auch in anderen Bundesländern waren die Streiks sehr stark. Nicht überall – wir müssen auch ehrlich bleiben –, aber es gibt viele Orte mit einer unglaublichen Dynamik, etwa wenn ich nach NRW blicke. Beim Warnstreik Ende März waren alleine dort mehr als 40.000 Beschäftigte auf der Straße, das war einfach nur Wahnsinn!
Es gibt ja oft die Angst, dass ein Streik im öffentlichen Dienst die Gesellschaft gegen die Beschäftigten aufbringt. Teilweise gab es auch bei euren Warnstreiks Versuche, mediale Stimmung gegen die Streiks zu machen. Die Arbeitgeberseite spricht dann schnell von »Geiselhaft durch die Streikenden«. Hast du nicht auch Angst, dass die Beschäftigten den Rückhalt in der Bevölkerung verlieren könnten, wenn es tatsächlich einen unbefristeten Streik gäbe?
Ich nehme das gar nicht in so großem Ausmaß wahr. Klar gibt es das, aber es ist nichts, womit wir uns täglich befassen oder das uns große Sorgen bereitet. Auch dem Letzten sollte mittlerweile klar sein, was wir im öffentlichen Dienst leisten und wofür wir verantwortlich sind. Wenn im Wasserwerk niemand arbeitet, kommt eben auch kein Wasser aus der Leitung. Ich glaube, das ist den Leuten auch klar. Man weiß, wie schlecht die Bürgerämter aufgestellt sind und dass man dort ewig warten muss, weil alle total überlastet sind, weil einfach niemand mehr dort zu diesen Bedingungen arbeiten will. Ich glaube, deswegen ist das Verständnis für unseren Kampf auch bei vielen Menschen da. Ich zumindest habe grundsätzlich eine große gesellschaftliche Unterstützung für unsere Forderungen und unseren Kampf wahrgenommen und sehr viel Solidarität gespürt.
Du bist Teil der Berliner Arbeitskampfleitung. Was habt ihr in dieser Tarifrunde anders gemacht als sonst?
Ein wichtiger Bereich, den wir anders angegangen sind, war die Vernetzung zwischen den Betrieben und Belegschaften. Gerade in Berlin sind wir mittlerweile sehr gut vernetzt. Es ist nicht mehr so, dass die Kolleg:innen in den Krankenhäusern, bei der BSR oder an den Hochschulen getrennt streiken und alle ihr eigenes Ding machen. Der ganze Kampf wird gemeinsam geführt, es wird gemeinsam geplant – die ganzen Warnstreiktage wurden gemeinsam organisiert. Das war absolut stark und das kannte ich so bisher auch nicht. Und weil du vorhin davon gesprochen hast: Das hat mir persönlich auch noch einmal viel Selbstbewusstsein und ein Gefühl von Stärke gegeben.
War die enge Koordination mit anderen Bereichen wie der Müllwirtschaft oder den Hochschulen eine bewusste Strategie?
Das war eine bewusste Strategie sowohl von Hauptamtlichen als auch von ehrenamtlichen ver.di-Kolleg:innen. Wir haben relativ früh angefangen, uns zu vernetzen – unter den Kolleg:innen in den Betrieben, also Vertrauensleute aus den einzelnen Betrieben, aber auch mit Unterstützung der hauptamtlichen ver.di-Strukturen. Wir haben uns getroffen, haben uns kennengelernt und dann den Kreis verbreitert. Wir haben große Teamdelegiertentreffen gemacht, also gemeinsame Treffen von Vertrauensleuten, Streikdelegierten – das heißt ja in verschiedenen Betrieben anders, ist aber im Prinzip immer das gleiche: Leute, die für ihren Bereich Verantwortung übernehmen.
Wir sind das alles sehr strategisch angegangen. Es ist nicht mehr einfach nur so ein Loslaufen und wir streiken jetzt mal. Und es geht uns bei aller Aktivität immer darum, noch stärker zu werden, uns noch besser zu organisieren und noch mehr Kolleg:innen mitzunehmen und in die Auseinandersetzung zu ziehen.
Wie seid ihr dabei bei dir im Betrieb konkret vorgegangen?
Wir haben bei uns im Krankenhaus viel in der Entlastungs-Tarifrunde 2021 gelernt und das jetzt in die TVöD-Runde mitgenommen. Das heißt, wir sind schon vor den ersten Warnstreiks gezielt in alle einzelnen Bereiche hineingegangen und haben versucht, Leute für die Auseinandersetzung zu gewinnen und sie dazu zu bringen, Verantwortung für ihren Bereich zu übernehmen. Es ist nicht mehr wie noch vor ein paar Jahren, als fünf Aktive alles gemanagt haben, sondern wir haben jetzt in allen einzelnen Teams Verantwortliche, die sich regelmäßig treffen, absprechen und das dann in die Teams rückkoppeln. Dieser Rückkopplungsprozess, auch von den Teams an die Delegierten zurück, ist enorm wichtig. Das Ziel ist, alle Kolleg:innen in die Entscheidungen einzubinden und sie zugleich selbst in Verantwortung zu nehmen. Das haben wir auch in dieser Tarifrunde wieder frühzeitig gemacht. Darüber hinaus haben wir das Format der sogenannten Arbeitsstreiks für uns entdeckt. Das sind Streiktage, an denen sich die Teamdelegierten zu Arbeitstreffen zusammenfinden und gemeinsam diskutieren, wie es weitergeht und wie wir noch mehr Stärke aufbauen können.
Was du beschreibst, ist ja einerseits eine Stärkung gewerkschaftlicher Organisierung in den Betrieben, gleichzeitig aber auch eine Form von Demokratisierung der Gewerkschaften. In dieser Hinsicht ist gerade im Krankenhaussektor in den letzten Jahren wahnsinnig viel passiert. Kannst du uns einen Einblick in diesen Prozess geben? Was waren die entscheidenden Hebel, um zum Vorreiter in Sachen gewerkschaftlicher Erneuerung von unten zu werden?
Ich glaube, die entscheidende Frage ist immer die der Mitbestimmung, also dass ich selbst entscheiden kann über die Dinge, die passieren. Und es ist eine der wichtigsten Erfahrungen unserer Entlastungs-Tarifbewegung, in der wir losgegangen sind und in jedem Bereich im Krankenhaus gefragt haben: Wie sehen für euch gute Arbeitsbedingungen aus? Was müsste passieren, damit ihr eure Arbeit gut machen könnt? Wie viel Personal und welche Ressourcen bräuchte es dafür zusätzlich? Das war für viele eine Erfahrung, die sie das erste Mal gemacht haben – dass sie überhaupt gefragt wurden. Sonst ist es ja so, dass die Gewerkschaft irgendetwas vorgibt und sagt, das ist jetzt unsere Forderung für die Tarifrunde und damit ziehen wir los. Mittlerweile ist es bei uns genau andersrum: Wir erstellen die Forderungen gemeinsam im Team und diese werden dann am Ende verhandelt. Dieses Herangehen war für viele eine Art Erweckungserlebnis. Das war absolut neu, auch für mich – und ich bin wirklich lange gewerkschaftlich aktiv. Und das hat auch den Boden bereitet für unseren wahnsinnigen Mitgliederzuwachs. Einfach, weil viele gesagt haben: Wenn das jetzt Gewerkschaft ist und ich kann mich selbst einbringen und mitbestimmen, dann bin ich dabei.
Aber es geht sicher nicht nur um das Finden der richtigen Forderungen, oder?
Nein, auch alle Dinge, die verhandelt werden, werden immer wieder rückgekoppelt, so dass auch der Letzte Bescheid weiß, wie der aktuelle Verhandlungsstand ist. Das ist etwas, was wir gelernt haben und da spreche ich nicht nur über Berlin, sondern das gab es überall in den Krankenhäusern, in denen Entlastungs-Bewegungen stattgefunden haben. Da hat nun unsere TVöD-Runde extrem gut drauf aufbauen können. Wir sind losgegangen und haben gefragt: Was wäre für euch eine gute Tarifforderung?
Wie geht ihr damit um, wenn sich am Ende nicht alle in den Forderungen wiederfinden?
Dass am Ende nicht alle Forderungen mit in die Hauptforderungen einfließen, das gehört auch zum Demokratieverständnis dazu, also zu verstehen, dass diese TVöD-Runde nicht nur in drei Berliner Krankenhäusern stattfindet, sondern bundesweit und sie auch Kolleg:innen aus anderen Betrieben und mit anderen Bedürfnissen und auch anderen Organisationsstärken mit einschließt. Das hat am Anfang durchaus für Unmut gesorgt, als die Hauptforderungen herauskamen. Aber es führt auch zu einem Verständnis davon, dass wir alle demokratisch mitbestimmen können, aber man sich am Ende auch auf etwas einigen muss. Auch das hat uns gestärkt und nicht geschwächt, weil die Leute gespürt haben, dass sie informiert und mitgenommen werden. Sie haben verstanden, wie unsere Forderungen zustande kamen. So eine enorm breite Mitbestimmung ist das, was unsere Gewerkschaften, die ja doch bürokratische Großorganisationen mit Millionen Mitgliedern sind, lernen müssen – dass es nicht mehr so weitergeht, wie es lange lief, also dass sich ohne große Beteiligung der Mitglieder mit den Arbeitgebern oder politischen Entscheidungsträgern geeinigt wird. Ich denke: Die Kolleg:innen in den Betrieben müssen sagen, wo es langgeht. Ich glaube, da haben wir in den nächsten Jahren große Chancen, uns als Gewerkschaft weiterzuentwickeln und stärker zu werden. Bei uns im Krankenhausbereich hat sich da schon viel getan, aber auch das ist längst nicht überall so und auch längst noch nicht genug.
Wieso hat sich die Verhandlungsführung der Gewerkschaften überhaupt auf eine Schlichtung eingelassen, obwohl die Streikbeteiligung so hoch war?
Es gibt eine Schlichtungsvereinbarung von Arbeitgeberseite und Gewerkschaften, die meiner Meinung nach längst hätte gekündigt werden müssen.
Seit wann besteht diese Vereinbarung?
Seit dem großen Streik im öffentlichen Dienst von 1974. Die Arbeitgeber hatten Angst, das kommt jetzt jedes Jahr so. Daher drängten sie auf diese Schlichtungsvereinbarung, in der Hoffnung, man könne damit große Streiks abwenden und im Rahmen einer Schlichtung die Tarifrunden befrieden. Das gilt leider bis heute und dadurch wurde natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Erzwingungsstreiks kommt, deutlich geschmälert.
Dann ist diese Schlichtungsvereinbarung also eines der Kernprobleme, weil sie immer, wenn ihr als Beschäftigte Stärke zeigt, das einzufangen und in institutionalisierte und konsensorientierte Bahnen zu lenken droht.
Ja, absolut. Schon innerhalb dieser TVöD-Runde gab es vermehrt Stimmen, die die Schlichtungsvereinbarung kritisch gesehen haben. Auch bei uns in Berlin haben wir bei einer Streikversammlung dazu eine Diskussion geführt. Für mich gibt es somit jetzt mehrere Punkte, die wir in den nächsten beiden Jahren angehen müssen: Erstens müssen wir weiter durchsetzungsfähiger werden. Dazu gehört auch eine Diskussion, wie wir uns auf allen Ebenen neu aufstellen: von den Tarifbotschafter:innen bis zur Bundestarifkommission. Wenn wir daraus eine Position der Stärke entwickeln, können wir uns auch zutrauen, die Schlichtungsvereinbarung zu kündigen und uns auf eine große Auseinandersetzung vorzubereiten.
Anja, danke dir für das Interview und viel Erfolg für die weiteren Kämpfe!
Das Interview führte Martin Haller.
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Foto: Lucas Maier / flickr.com
Schlagwörter: Öffentlicher Dienst, Tarifrunde