Wie die Wagenknecht-Partei BSW Arbeiter:innen-Interessen in Europa ver- und zertreten will, zeigt ihr Wahlprogramm. Eine Kritik von Michael Ferschke
Es lief wie am Schnürchen bei der Gründungsversammlung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): in nur 8 Stunden wurde eine neue Partei gegründet, ein Vorstand gewählt, ein 20-seitiges Programm für die Europawahl beschlossen und auch die dazugehörige Kandidat:innenliste aufgestellt. Es gab keine Kontroversen, keine Kampfkandidaturen, keine Änderungsanträge und auch keine einzige Gegenstimme oder Enthaltung bei der Abstimmung des Wahlprogramms.
Insbesondere letzteres ist erstaunlich, da das beschlossene Programm sich stark von den linken Traditionen der Arbeiter:innenbewegung gelöst hat, aus denen die meisten Delegierten des BSW-Parteitages kommen. Schlagwörter wie Sozialismus, Klassenkampf oder Marxismus tauchen kein einziges Mal im Programm auf. Selbst den Begriff Kapitalismus gibt es nur an einer Stelle – in Form des »Blackrock-Kapitalismus«. Das ist nicht bloß eine Stilfrage, sondern Ausdruck einer Abkehr von grundsätzlicher Systemkritik und von antikapitalistischer Programmatik.
»Fairer Wettbewerb« statt Kapitalismuskritik
In der sozialistischen Tradition, etwa auch der Partei DIE LINKE, wurde immer der Kapitalismus als System, das auf Ausbeutung, Konkurrenz und Profit basiert, verantwortlich gemacht für soziale Verwerfungen, ruinösen Wettbewerb und Militarisierung. Beim BSW gibt es diese Grundsatzkritik am Kapitalismus nicht. Im Gegenteil, die kleinen und mittleren kapitalistischen Unternehmen (KMU) sollen sich unter »fairen Wettbewerbsbedingungen« besser entfalten können. Es wird unterschieden zwischen gutem Unternehmertum und schlechten Konzernen. Anstelle von Kapitalismuskritik gibt es Kritik lediglich an vornehmlich US-dominierten Großkonzernen.
Das Credo: »Die EU sollte […] einen fairen Wettbewerb auf dem Binnenmarkt gewährleisten, die Macht von Big Tech, Big Pharma, Big Finance und anderen multinationalen Konzernen einschränken und den Mittelstand vor ruinösem Steuerwettbewerb und Überregulierung schützen.«
Der Spitzenkandidat des BSW zur Europawahl Fabio di Masi wetterte entsprechend in seiner Rede gegen US-Konzerne, wie Google und Amazon, deren Steuerdumping beendet werden müsse, und dass der deutsche Mittelstand vor den »Big Techs« geschützt werden solle. So wolle man »aktive Industriepolitik machen« und eine »irrsinnige Wirtschaftspolitik beenden, die Investitionen blockiert.«
Der langjährige Betriebsrat bei Thyssenkrupp, Erkan Kocalar, der auf Platz 7 der Europaliste gewählt wurde, will sich für die Stahlarbeiter einsetzen. Das BSW sei »Ansprechpartner für die Arbeiterklasse«, weil »vernünftige Industriepolitik Arbeitsplätze sichert.« Auch er geht davon aus, dass »falsche Politik« in Brüssel den deutschen Industriestandort ruiniere. Gemäß Wahlprogramm werde durch die Regelungen der EU »eine aktive Industriepolitik massiv eingeschränkt.«
Nationalistische Augenwischerei des BSW
Zugespitzt ließe sich das so verstehen: Das BSW schlägt den Beschäftigten ein Bündnis mit ihren Arbeitgeber:innen – also, eine Volksfront gegen Brüssel für den Standort Deutschland vor. Nicht die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften sind nach der Programmatik des BSW die Adressaten für den Kampf um soziale Gerechtigkeit und Frieden; sondern mittelständische Unternehmen, deren produktives Wirtschaften durch eine »vernünftige« Politik gefördert werden müsse.
Die gegensätzlichen Interessen von Kapital (Profit) und Arbeit (Lohn) werden verwischt zugunsten eines gemeinsamen Gegensatzes von Arbeiter:innen und Unternehmer:innen gegen große Konzerne und »EU-Technokraten« – z.B. unter reißerischen Losungen, wie: »Wir wollen die Flut an bürokratischen Übergriffen auf Unternehmen und Bürger stoppen.« Diese Gemeinsamkeit ist konstruiert. Denn auch die kleinen und mittelgroßen Unternehmen können in der Konkurrenz untereinander nur überleben, wenn sie wie die großen Konzerne ihre Beschäftigten ausbeuten können. Tatsächlich schneiden Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten sogar deutlich besser ab, was Löhne oder Arbeitnehmervertretungen angeht, als kleine Firmen. Die Arbeiterklasse wäre schlecht daran beraten, sich den Profitinteressen von KMU-Bossen unterzuordnen.
Diese Volksfront-Perspektive ist nicht nur aus grundsätzlichen Erwägungen problematisch. Sie entspringt zudem einer falschen Analyse der Probleme und der Kräfteverhältnisse in der EU. Es grenzt an nationalistische Augenwischerei, dass im Europaprogramm des BSW die Interessen der deutschen Konzerne nicht als wesentliche Treiber der EU-Politik benannt werden:
»Die einst starken europäischen Sozialstaaten wurden in den meisten Ländern von einem angelsächsisch geprägten Blackrock-Kapitalismus abgelöst, der von großen Finanz- und Digitalkonzernen gesteuert und von börsennotierten Unternehmen geprägt wird und in dem Mittelstand und Arbeitnehmer unter die Räder geraten.«
It’s German capital, stupid!
Diese Erzählung ist falsch. Am unsozialen Kurs der EU sind nicht das anglo-amerikanische Finanzkapital oder andere externe Mächte Schuld. Ein Blick auf die jüngere Geschichte zeigt: Die deutsche Wirtschaft wird nicht durch die Politik der EU ruiniert – sie ist die treibende Kraft und der Hauptprofiteur derselben. It’s German Capital, stupid!
Deutschland ist ökonomisch das Schwergewicht in Europa und hat entsprechendes politisches Gewicht in Brüssel. Die aktuelle Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, fühlt sich in erster Linie den Interessen der deutschen Wirtschaft verpflichtet, wenn sie die EU zu einem neoliberalen, undemokratischen und zunehmend militaristischen Standort im Weltkapitalismus ausbaut.
Das hat Tradition: Seit der Gründung der Europäischen Union wurden wesentliche neoliberale Reformen in der EU von Deutschland vorangetrieben – etwa die diversen Stabilitäts- und Fiskalpakte oder die »Lissabon-Strategie« aus dem Jahr 2000 –, welche im Kern die gleiche Stoßrichtung hatten, wie die »Agenda 2010« des damaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder.
Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise und der Knechtung Griechenlands durch die EU im Jahr 2011 brachte der damalige CDU-Fraktionschef Volker Kauder die Rolle Deutschlands auf den Punkt: »Jetzt wird in Europa deutsch gesprochen.« Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble war zu dieser Zeit federführend darin, Griechenland zur Kapitulation unter die Bedingungen eines neoliberalen Schuldenpaktes zu bringen, der dem Land einen drastischen Sparkurs aufzwang. Der Philosoph Jürgen Habermas empörte sich darüber, dass Deutschland sich als »Europas Chef-Zuchtmeister« aufspiele.
BSW: Eine irreführende Frontstellung
Nutznießer dieser Politik sind deutsche Konzerne – wie VW, Deutsche Bahn oder Telekom, Handelsketten, wie Lidl , Penny oder Aldi, aber auch weniger große Unternehmen, wie der Reinigungsgeräte-Hersteller Kärcher – die massiv nach Süd- und Osteuropa expandierten und dabei ihre Konkurrenten aufkauften oder vom Markt drängten. Als Griechenland während der Eurokrise vor dem Staatsbankrott stand, wurde das Land im Gegenzug für Kredite im Jahr 2014 dazu gezwungen, seine Flughäfen zu privatisieren. Das deutsche Unternehmen Fraport schlug zu und übernahm den Betrieb von 14 griechischen Regionalflughäfen für 40 Jahre.
Vor dem Hintergrund dieser deutschen Zustände ist es eine irreführende Frontstellung des BSW-Europaprogramms, von der EU als »Vasall der USA« zu sprechen, oder zur »großen Aufgabe« zu erklären, dass »Europa nicht länger digitale Kolonie der Vereinigten Staaten« sein dürfe. Wer von deutschen Konzernen nicht sprechen will, möge vom schlechten Treiben »angelsächsisch geprägter« multinationaler Konzerne, oder von finsteren »einflussreichen Lobbys« und »EU-Technokraten«, die angeblich Deutschland deindustriealisieren wollen, bitte schweigen.
Etliche ehemalige Anhänger der Partei DIE LINKE hegen große Hoffnungen in Wagenknechts neue Partei – insbesondere als politische Anlaufstelle für Arbeiter:innen, die sich durch die etablierte Politik nicht mehr vertreten fühlen. Diese Vorschusslorbeeren scheinen ungerechtfertigt. Denn programmatisch bietet die im Europaprogramm angestrebte »vernünftige« Volksfront mit allen möglichen deutschen Unternehmer:innen gegen vermeintlich standortgefährdende EU-Politik den sozialen Interessen der einfachen Beschäftigten, den Niedriglöhner:innen oder Arbeitslosen keine Perspektive. Auch die zahlreichen richtigen (linken) Forderungen im Europaprogramm des BSW, wie etwa gegen rigide Schuldenbremsen, für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Verstaatlichung der Energienetze, gegen Privatisierung der Daseinsvorsorge, für einen Mindestlohn von 14 Euro oder gegen Aufrüstung, werden sich mit der bürgerlichen Bündnisperspektive von Wagenknecht und Co. niemals durchsetzen lassen. Ein friedliches und soziales Europa kann nur durch eine politisch eigenständig agierende Arbeiterbewegung erkämpft werden. Gegen die zerstörerische kapitalistische Dynamik von Konkurrenz und Profit, die eben auch das Handeln der kleineren und mittelständischen Unternehmen prägt, braucht es sozialistische Politik mit klassenkämpferischer Orientierung. Damit hat das BSW aber offenbar nichts am Hut.
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