Das Tempest Collective Editorial Board hat mit David McNally die aktuelle weltpolitische Dynamik, die ökonomischen Entwicklungen und Arbeitskämpfe und die daraus folgenden Perspektiven für Sozialist:innen 2024 diskutiert. Dies ist der erste Teil des zweiteiligen Interviews. Den zweiten Teil findest du hier
David McNally ist spezialisiert auf die Geschichte und die politische Ökonomie des Kapitalismus. Er lehrt am Department of History der University of Houston in Texas, USA und hat unter anderem folgende Bücher geschrieben:
Global Slump: The Economics and Politics of Crisis and Resistance
Monsters of the Market: Zombies, Vampires and Global Capitalism
Blood and Money: War, Slavery, Finance, and Empire
Vorbemerkungen der marx21-Redaktion:
Im folgenden Interview mit David McNally wird nicht weiter auf die ökonomische und politische Entwicklung in Deutschland eingegangen. Diese unterscheidet sich in einigen Punkten von der in den USA.
So hat es auch in Deutschland einen deutlichen Aufschwung von gewerkschaftlichen Kämpfen gegeben. Diese konzentrieren sich jedoch im Gegensatz zu den USA auf den öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor sowie den Pflegebereich. In den für den deutschen Kapitalismus zentralen Industriebranchen wie dem Automobilbau und der Chemieindustrie geht dagegen die Angst vor weiteren Entlassungen um.
Die Energie- und Rohstoffversorgung ist für den deutschen Kapitalismus mit dem Ukraine-Krieg wesentlich schwieriger und teurer geworden. Die USA profitieren dagegen von dieser veränderten Situation in doppelter Hinsicht. Sie müssen kein teures Gas importieren und haben als Ersatz für das billige russische Gas ihr deutlich teureres Fracking-Gas an Deutschland verkauft.
Neben den vergleichsweise hohen Energiekosten, ist es die Umstellung vom Verbrenner auf Elektroantriebe in der Autoindustrie, die dem deutschen Kapitalismus zusetzt. Die Umstellung ist nicht nur mit hohen Kosten, sondern auch mit einer Vielzahl neuer Konkurrenten auf dem Weltmarkt verbunden. Die Chemieindustrie diskutiert, Teile ihrer Produktion ins Ausland zu verlagern.
Das Anheben des Leitzinses durch die US-Notenbank wird dort durch gezielte wirtschaftspolitische Maßnahmen flankiert, für deren Finanzierung eine wachsende hohe Staatsverschuldung in Kauf genommen wird. Ein Vorgehen, das auch in Deutschland nach der Erhöhung des Zinssatzes durch die EZB von Unternehmensverbänden und Gewerkschaften gefordert wird, um keine weiteren Marktanteile zu verlieren.
Der deutsche Kapitalismus, der ganz besonders vom erfolgreichen Export seiner Produkte abhängig ist, ist aus Sicht seiner Interessenverbände inzwischen auf einem Abstiegsplatz im weltweiten Kampf um Marktanteile gelandet. Während die USA im letzten Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2,5 und China von 5,2 Prozent verbuchen konnten, lag es in der Eurozone bei nur 0,4 Prozent und Deutschlands Wirtschaft schrumpfte sogar um 0,3 Prozent und bildete damit das Schlusslicht.
Die Staaten der Eurozone verfügen zwar über eine gemeinsame Währung, bringen aber sehr unterschiedliche ökonomische Voraussetzungen mit und können mit ihrer Steuer- und Haushaltspolitik eigene Interessen verfolgen. Wie groß die daraus resultierenden Probleme werden können, hat sich 2010 in Griechenland gezeigt, als das Land seine Schulden nicht mehr bedienen konnte. Die von der EU organisierte Umschuldung stellte sicher, dass die Gläubiger zu ihrem Geld kamen und die Bevölkerung in Griechenland dafür die Zeche zahlen musste.
Die Erfahrungen in Griechenland und die den Kapitalismus erschütternde Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 haben dazu geführt, eine Selbstbegrenzung bei der Neuverschuldung durch den Europäischen Fiskalvertrag nach dem Vorbild der im Grundgesetz verankerten deutschen Schuldenbremse durchzusetzen. Zum Einhalten der Schuldenbremse haben sich alle Staaten der Eurozone verpflichtet. Sie soll sicherstellen, dass bei der nächsten schweren Krise alle über einen ausreichenden Spielraum für eine dann notwendige höhere Verschuldung verfügen, um systemrelevante Teile des Kapitalismus erneut zu retten. Die USA sind frei von diesen Zwängen, da sich ihr großer Binnenmarkt nicht aus autonomen Nationalstaaten mit eigenen Interessen und einer eigenen Steuer- und Wirtschaftspolitik zusammensetzt.
Deutschland profitiert als Exportnation, ganz besonders vom europäischen Binnenmarkt, unterliegt damit aber auch Zwängen, um diesen nutzen zu können. Die Schuldenbremse ist der größte Zwang. Damit droht sich der von oben geführte Klassenkampf zu verschärfen. Es werden Steuersenkungen für Unternehmen gefordert. Es wird ein Abbau von Bürokratie gefordert, was bedeutet, dass Klimaschutzmaßnahmen und Umweltschutzstandards – so wie in der Landwirtschaft schon geschehen – zurückgefahren werden. Außerdem werden Subventionen bei der Energieversorgung gefordert, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Branchen nicht weiter zu gefährden. Gleichzeitig sollen die Rüstungsausgaben weiter steigen, um politische und ökonomische Interessen militärisch abzusichern. Das alles unter den restriktiven Bedingungen einer Schuldenbremse zu finanzieren, geht nur mit der Neuauflage einer »Agenda 2010«, die 2003 vor dem Hintergrund der schweren Krise des deutschen Kapitalismus von der damaligen Regierung unter Gerhard Schröder entwickelt und umgesetzt worden ist.
Die SPD ist nicht mehr in der Lage, eine »Agenda 2030« durchzusetzen. Die CDU bereitet sich darauf vor, das an ihrer Stelle zu übernehmen. Es droht eine massive Rechtsentwicklung, weil der Rassismus, kostümiert als »Leitkultur«, noch stärker eingesetzt werden soll, um von den Zumutungen der eigenen Politik abzulenken. Davon droht die AfD weiter zu profitieren. Es muss nicht so kommen, wenn es gelingt, die großen und kleinen Ansätze von Widerstand in den Betrieben und auf den Straßen weiterzuentwickeln.
Die marx21-Redaktion
Perspektiven für Sozialist:innen 2024 –
Interview mit David McNally – Teil I
Tempest Collective: Wir sind an deiner Einschätzung zur aktuellen globalen ökonomischen Lage interessiert, insbesondere zu den Konjunkturzyklen, den Reaktionen auf die Krise von 2007-2009, die Post-Covid Periode und dem bösen Erwachen aus der Niedrigzinspolitik. Was ist dein Blick auf die aktuelle Situation? Wie dicht dran sind wir an einer globalen Rezession?
David McNally: Es zeigt sich, dass diejenigen von uns, die die globale Krise von 2007-2009 als Wendepunkt in der Weltökonomie charakterisiert haben, richtig lagen. Aber fast alle (und da schließe ich mich ein) haben unterschätzt, wie schnell die herrschende Klasse zu Keynes zurückkehren und wie schnell sie ihre neoliberale Verteufelung einer hohen Staatsverschuldung angesichts eines potentiellen Zusammenbruchs des globalen Finanzsystems aufgeben würde.
Wir sollten uns daran erinnern, dass alle sieben großen Wall Street Banken 2008-09 kurz vor dem Kollaps standen. In der herrschenden Klasse führte die Frage, ob man es schaffen würde, alle zu retten, zu einem echten Trauma. Als das gelungen war, verstanden die besseren Kommentator:innen, dass es im Neoliberalismus tatsächlich um eine fundamentale Neuausrichtung von Klassenmacht geht und sehr viel weniger um ein hartes ideologisches Bekenntnis, niemals Schulden zu machen und kein Defizit zuzulassen. Mit anderen Worten: um die bestehenden Klassenverhältnisse, die für den Neoliberalismus typisch sind (basierend auf schwachen Gewerkschaften, kaum existenten sozialen Bewegungen und wieder hergestellter Rentabilität), zu erhalten, würden sie nie dagewesene Finanzspritzen in das System geben und damit eine hohe Staatsverschuldung in Kauf nehmen.
Während das System mit Konjunkturmaßnahmen stabilisiert wird, wirken diese auch als Mechanismus, um den Kapitalismus zu erneuern. Eine starke Rezession wird dazu genutzt, ineffizientes Kapital zu vernichten und damit den Weg frei zu machen, um mit einer neuen Welle von Um- und Restrukturierung, technischen Innovationen und noch größerer Konzentration von Kapital einen neuen Konjunkturaufschwung zu ermöglichen.
Es gab aber keinen Konjunkturaufschwung. Was wir stattdessen gesehen haben, war die weltweite, gemeinsame Anstrengung aller Zentralbanken, das Abgleiten in eine Depression zu verhindern – was auch gelang. Das müssen wir anerkennen. Aber ein Problem, das daraus resultierte, ist, dass kein ineffizientes Kapital vernichtet worden ist.
Viele Kommentator:innen gehen davon aus, dass ein hoher Anteil von Unternehmen des globalen Norden sogenannte Zombie Firmen sind. Das heißt, sie werfen keinen nennenswerten Profit ab. Aber als es das Geld der Zentralbanken quasi umsonst gab, konnten sie sich Geld leihen, um weiter zu existieren. Sie konnten sich Kredite mit einem Zinssatz von 1,5 Prozent leihen und mit 3,5 Prozent ausgeben. Damit konnten sie Gewinne ausweisen, obwohl sie in ihrem Kerngeschäft kein Geld verdienten.
Es gab also nicht die tiefe und lange Umstrukturierung wie in den frühen 1980er Jahren in den USA, als Stahlunternehmen, Teile der Autoindustrie, Hersteller von Elektrogeräten, die Kautschukindustrie und die Autozuliefererbetriebe in großem Umfang bankrott gingen. Zu der Zeit fand eine signifikante technologische Umstrukturierung statt, die die neoliberale Expansion für die nächsten 20-25 Jahre möglich machte.
Eine derartige Umstrukturierung haben wir im Nachgang der Krise von 2008-09 nicht beobachtet. Was wir jetzt stattdessen haben, ist ein Kapitalismus, der einer Bedrohung ausweichen konnte, aber dadurch auch viel an Dynamik verloren hat. Und in den letzten 18-24 Monaten haben wir gesehen, dass die Zentralbanken wieder ihre Zinsen erhöht haben, um die Inflation zu bekämpfen.
Nun müssen wir uns fragen: Was ist die Ursache dafür? Sie haben die Zinsen erhöht, aber es war nicht die Inflation an sich, vor der sie Angst hatten. Was sie wirklich fürchteten, war eine Inflation der Lohneinkommen. Sie hatten Angst, dass die Inflation eine Streikwelle und gewerkschaftliche Organisierung zur Folge haben könnte, mit welcher sich die Arbeiter:innen die durch die Inflation entstandenen Reallohnverluste zurückholen würden.
Wenn die Inflation 6, 8 und 10 Prozent pro Jahr beträgt (insbesondere bei Lebensmitteln, Benzin und Mieten) und wenn Arbeiter:innen eine erhöhte Streikmacht spüren, werden sie sich organisieren, um diese Lücke wieder zu schließen. Das war das Muster insbesondere in den späten 1960ern und den frühen 70er Jahren, als eine wachsende Streikwelle in den westlichen Ländern, dem globalen Norden, aber auch in Teilen des globalen Südens stattfand.
Der Kampf gegen die Inflation war ein vorsorglicher Angriff auf eine Lohnexplosion, die durch gewerkschaftliche Organisierung und durch eine größere Welle von Streiks hätte entstehen können.
Die herrschende Klasse war sehr besorgt über die vermeintlich niedrigen Arbeitslosenraten und das Problem einer Kündigungswelle, in welcher Arbeiter:innen ohne Angst drohender Arbeitslosigkeit ihre schlecht bezahlten Jobs kündigen und die Aussicht haben, einen besser bezahlten zu finden. Die herrschende Klasse befürchtete, dass dies – selbst in der US-amerikanischen Arbeiter:innenklasse – eine Stimmung erzeugen könnte, in der die abhängig Beschäftigten davon überzeugt sind, individuell bessere Löhne mit ihren Arbeitgeber:innen aushandeln zu können. Wovor sie noch mehr Angst hatten, war, dass eine kollektive Verhandlungs- und Kampfmacht entstehen könnte. Sie haben bereits erlebt, dass sich eine neue Welle von gewerkschaftlicher Organisierung – bei Apple, Amazon, Starbucks etc. – entwickelte, insbesondere unter jungen Arbeiter:innen.
Es ist in den Stellungnahmen der ‚Fed‘ (Federal Reserve Board) nachzulesen, dass sie über die niedrige Arbeitslosenquote sehr besorgt waren. Sie wollten also die Erwerbsquote absenken – also in anderen Worten die Arbeitslosenquote erhöhen – um das Gefühl von Verunsicherung zu verstärken. Das Ziel war eindeutig: die Welle von gewerkschaftlicher Organisierung und Streiks zu brechen.
Der sogenannte Kampf gegen die Inflation war ein vorsorglicher Angriff auf eine befürchtete Lohnexplosion, die durch gewerkschaftliche Organisierung und durch eine größere Welle von Streiks hätte entstehen können. Trotzdem fanden nicht gerade unbedeutende Streikwellen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Indien, Argentinien, den USA etc. statt.
Doch durch die Erhöhung der Zinsen verursachten sie ein Dilemma: eine wachsende Anzahl der Zombie-Unternehmen sind in ihrer Existenz bedroht. Die Insolvenzrate von Unternehmen steigt an. Aber bisher gibt es noch keine signifikante Selbstreinigung des Systems, weil eine tiefe Depression vermieden wurde. Wenn die Nachfrage sinken sollte, sind die schwächsten Firmen in ihrer Existenz gefährdet. Und das Finanzsystem wird zunehmend durch faule Anleihen belastet.
Eine noch fatalere Folge dieser Hochzinspolitik ist die entstehende Krise im globalen Süden. 50 oder noch mehr Staaten im globalen Süden stehen vor dem Staatsbankrott, weil sie zahlungsunfähig werden. Aus dem einfachen Grund, dass für Kredite, die sie ursprünglich für 2 Prozent aufgenommen haben, jetzt 5-6 Prozent Zinsen zahlen müssen. Die einzige Option – abgesehen von einem Schuldenerlass – sind katastrophale Einschnitte bei den Ausgaben für die Gesundheitsversorgung, Bildung, Energiesubventionen etc.
In den nächsten Jahren könnten wir deswegen Aufstände im globalen Süden – in Ländern von Nigeria bis Pakistan – erleben, wo die Schulden so hoch werden, dass es gegen die riesigen Austeritätsprogramme der Länder – egal ob selbst auferlegt oder vom Internationalen Währungsfond, der Weltbank oder anderen globalen Geldgebern diktiert – mehr Widerstand geben wird.
Das ist Klassenkampf von oben, der sich unter dem Deckmantel der Inflationsbekämpfung verbirgt, angeführt von den Zentralbanken. Er bedeutet eine gefährliche Bedrohung der globalen Ökonomie mit einer massiven Schuldenkrise. Diese Entwicklung wird in den nächsten 12 Monaten spürbar werden.
Das bedeutet natürlich auch, dass die dominanten Weltmächte ihren Kampf um eine Vorherrschaft intensivieren werden. Es wird häufig vergessen, dass der Imperialismus die Effekte globaler Krisen von einem Block zum anderen schiebt. Es ist ein strategisch wichtiges Ablenkungsmanöver der USA, die Verursacher der Krise in China, Russland und deren Umfeld zu suchen.
Die imperialistischen Konflikte werden immer heftiger. Der lange, zermürbende Krieg in der Ukraine ist Ausdruck davon. Auch wenn der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen fremde Besatzung legitim ist, handelt es sich vor allem um einen Stellvertreterkrieg.
Die Auffassung von Marxist:innen ist, dass ein Krieg viele Facetten haben kann und viele verschiedene Widersprüche nebeneinander existieren.
Das ist ein Indikator für die wachsenden Brüche im globalen Kapitalismus. Es wird immer wieder vergessen, dass es der neoliberale Plan war, China als Mitspieler in die kapitalistische Weltordnung aufzunehmen. Die westliche herrschende Klasse hat das ein Vierteljahrhundert lang sehr intensiv verfolgt. Infolge der schweren Krise 2007-09 hat das sehr nachgelassen. Das führte von Integration zu Ausgrenzung und von Kooperation zu Rivalität.
Glaubst du, dass die herrschende Klasse der USA – vertreten durch die Zentralbank – erfolgreich war, in ihrer Strategie gegen eine befürchtete Lohninflation? Wir haben immer noch einen sehr heißen Arbeitsmarkt. Es ist noch nicht klar, dass Löhne erfolgreich niedrig gehalten werden können. Das Pflänzchen militanter Arbeitskämpfe wächst weiter. Und in Bezug auf die Frage der imperialistischen Rivalitäten im Allgemeinen, hatte die Krise in China einen Rückzug von der mit der Neuen Seidenstraße verfolgten Strategie zur Folge und es wurden Umschuldungen angeboten. Das könnte – wie wir in Sri Lanka gesehen haben – die Schuldendynamik durch einen Vergleich erledigen.
David McNally: In Bezug auf die USA finde ich es sehr interessant, dass es gelungen ist, die Inflation zu senken. Aber das hatte nicht die Folge, dass die kämpferische Stimmung der Arbeiter:innenklasse – insbesondere unter jungen Arbeiter:innen in großen urbanen multiethnischen Zentren – signifikant nachlässt.
Die Zunahme von politischen Auseinandersetzungen – und hier ganz besonders in Bezug auf Palästina – hat die Konfliktbereitschaft in Unternehmen, insbesondere unter jungen Arbeiter:innen weiter, verstärkt. Ich habe kürzlich mit Kim Moody darüber diskutiert, wie junge Aktivist:innen und Organizer:innen in den späten 1960igern und in den 1970igern den Vietnamkrieg mit in die Fabriken getragen haben. Die Verweigerungshaltung gegenüber der herrschenden Klasse in Bezug auf den Vietnamkrieg war die Ursache für die Radikalisierung einer ganzen Generation von Arbeiter:innen am Arbeitsplatz.
Ich gehe davon aus, dass die globale Solidaritätsbewegung für Palästina eine solche Wirkung haben wird. Millionen von jungen Arbeiter:innen zeigen völliges Unverständnis gegenüber dem Verhalten der herrschenden Klasse im Palästinakonflikt. Dadurch entsteht eine Oppositionshaltung und es kommt zu einer Entwicklung, ähnlich wie sie Rosa Luxemburg beschrieben hat: das Zusammenwirken von politischer und ökonomischer Dynamik. In diesem Szenario – selbst wenn eine Ebene des Konflikts etwas nachlassen sollte – kann die andere Dimension (in diesem Fall die politische) einen nachhaltigen Effekt haben und zum Nährboden werden für neue ökonomische Auseinandersetzungen, Konfrontationen, Organizing-Kampagnen und so weiter. Wir erleben gerade eine massive Streikwelle, und wir spüren eine verstärkte Kampfbereitschaft.
Ich glaube, dass die herrschenden Klasse damit gescheitert ist, die allgemeine oppositionelle Haltung unter jungen Arbeiter:innen – insbesondere am Arbeitsplatz – zu stoppen. Ich lege bewusst den Fokus auf junge Arbeiter:innen, weil sie eine zentrale Rolle im Widerstand spielen. Arbeiterunruhen können aber auch von älteren Arbeiter:innen – wie wir es im Streik der UAW gesehen haben – mitgetragen werden.
Zur Zeit lebe und arbeite ich in Texas. Hier gab es sehr entschlossene Streiks bei General Motors und Autozuliefererbetrieben. Das ist sehr bedeutsam, weil Arbeitskämpfe in den von mir beschriebenen Zentren stattfinden. Organisierung von jungen Arbeiter:innen gelingt! Ich glaube nicht, dass es der herrschenden Klasse gelungen ist, der oppositionellen Haltung unter Arbeiter:innen den Nährboden zu entziehen.
Wir haben den Beginn der Wende von Integration in den Weltmarkt zur offenen Konkurrenz nach der 2007-09 Krise gesehen, diese Entwicklung hat sich nach 2016 noch weiter verschärft.
In Bezug auf China findet eine, ich nenne es mal, Rekonsolidierung der imperialen Blockstrategie statt. Neben dem größeren Protektionismus sowohl von den USA als auch China gibt es auch weniger Bemühungen, andere Staaten ökonomisch an sich zu binden. Als die Wachstumsraten hoch waren, als China Spitzenreiter bei Investitionen und Wachstum war, konnte sich die Führung Experimente mit verschiedenen Initiativen erlauben, um zu sehen, was funktioniert und was nicht.
Jetzt, da die Wachstumsraten im Sinkflug sind, ist es noch nicht klar, ob China es schafft, eine große Immobilienkrise zu verhindern. Es gibt eine Überbewertung von Wohnungsbau-Immobilien in China, die noch nicht ausgestanden ist und es ist noch nicht klar, ob es gelingt, das unter Kontrolle zu bekommen. Das wird nicht zur Folge haben, dass sich die herrschende Klasse in China wieder in Richtung autarkem Isolationismus zurückziehen wird. Aber es findet eine Konsolidierung, Einschränkung und eine neue Priorisierung der Investitionsstrategie außerhalb Chinas statt. Das hat nicht nur rein ökonomische Gründe. Es wird auch entschieden, welche weltpolitischen und militärischen Investitionen sich lohnen oder welche lieber eingestellt werden sollten.
Die »Neue Seidenstraßenstrategie« z.B. wird zurückgefahren. Es kann helfen, die Motivation der chinesischen herrschenden Klasse zu verstehen, wenn man sie mit den USA vergleicht. Hier gibt es einen Konflikt zwischen den Demokraten um Joe Biden auf der einen und den Republikanern auf der anderen Seite, um die Frage, welchen Umfang die globalen militärischen, diplomatischen und außenpolitischen Ausgaben haben sollten. Biden vertritt die Position von hohen Ausgaben, um die globale Hegemonie der USA zu erhalten. Im Gegensatz dazu favorisiert eine große Gruppe von Republikanern – beeinflusst von Trumps Isolationismusphantasie – eine Einschränkung und Reduktion der Mittel.
Dieser Konflikt wird in den USA größtenteils zwischen den beiden Kongressparteien ausgetragen. In China findet das innerhalb der Partei statt. Das bedeutet, dass es dort unterschiedliche Strömungen und Fraktionen gibt. Diese versuchen gegenwärtig, ihre Differenzen auszuhandeln. Ich denke, dass sie einen Sparkurs fahren werden, aber das wird nicht zur Einschränkung der Militärausgaben führen. Ich glaube nicht, dass sie ihren Kurs in der taktischen Unterstützung von Putin in der Ukraine ändern werden. Und sie werden ihre aggressive Politik gegenüber Taiwan weiter verfolgen.
Aber es findet innerhalb ihrer Regierungskreise eine Neubewertung von – wie sie es sehen – extravaganten Auslandsinitiativen statt. Das deckt sich mit der US-Politik. Wenn es eine Einheitspartei wie in China gibt, findet ein Strategiewechsel ohne eine offene Debatte statt, das ist in den USA anders.
Ich bin der Auffassung, dass die Konkurrenz der USA mit China nicht nur weiter anhalten wird, sondern auch weiter scharf ausgetragen wird. Wir haben den Beginn der Wende von Integration in den Weltmarkt zur offenen Konkurrenz nach der 2007-09 Krise gesehen, diese Entwicklung hat sich nach 2016 noch weiter verschärft.
Wie stabil sind die imperialen Blöcke? Glaubst du, dass Russland eher für ein autarkes Modell steht, weil es so unter Druck steht? In welchem Ausmaß ist Russland ein unabhängiger Akteur bei dem Versuch, regionalen Einfluss gegenüber der Ukraine oder Drohungen gegenüber Finnland etc. auszuüben? Wie stark schätzt du den Einfluss von China auf Russland ein?
David McNally: Ich glaube, wir brauchen eine viel tiefere Analyse der Dynamik innerhalb imperialer Blöcke. Wir neigen dazu zu denken, dass ein Staat das Sagen hat, aber ich denke, es ist sehr viel komplexer als das. Die kleineren Partner innerhalb eines imperialen Blocks können zeitweise sehr viel autonomer agieren, als wir annehmen. Sie schreiben nicht das Drehbuch. So funktioniert die Weltmachtpolitik nicht. Aber die Hauptmacht innerhalb eines Blocks muss andere Mächte mit einbeziehen.
Ein imperialer Block beinhaltet regionale Kräfte, die ihre eigenen Ziele haben. Die dominante Macht braucht ihren regionalen Einfluss und muss teilweise Aktionen akzeptieren, die nicht in allen Punkten ihrem Interesse entsprechen. China zum Beispiel wird keine Truppen nach Osteuropa schicken, genauso wenig wie die USA eine Truppe von 100.000 nach Gaza und die besetzten Gebiete schicken wird. Aber sie befähigen die subimperialen Mächte das zu tun.
Regionale Mächte, die die Rückendeckung von größeren imperialen Mächten brauchen, agieren sehr autonom – insbesondere im Moment. Putin kann es sich zur Zeit nicht leisten, von der Ukraine abzulassen. Eine Niederlage in der Ukraine wäre sein Ende und von dem Teil der herrschenden Klasse, der ihn stützt. Erinnern wir uns daran, was passierte, als Russland 1905 den Krieg gegen Japan verlor und wie das die Zarenherrschaft geschwächt hat und die Schleusen für die Revolution 1905 öffnete. Erinnern wir uns an die Lehre aus dem 1. Weltkrieg: Alle Kriegsparteien erlebten heftige Aufstände der Arbeiterklasse und ihrer Soldaten.
Putin muss in der Ukraine weitermachen. China braucht die Allianz mit Putins Russland, weil Putin die Nato in Schach hält. Ohne Putin befürchten Chinas Herrscher, dass sich die Nato in ganz Osteuropa ausbreiten wird. Deshalb bekommt Putin so viel Unterstützung aus China im Krieg gegen die Ukraine, auch wenn China selbst nichts davon hat.
Wir müssen einsehen, dass imperiale Blöcke dynamisch sind und dass die Juniorpartner innerhalb eines Blocks signifikante regionale Autonomie haben in der Verfolgung ihrer eigenen Interessen.
Ich würde auch sagen, dass es im Nahen Osten eine ähnliche Dynamik gibt. Es ist keine Frage, dass Israel absolut abhängig ist von Hilfe von außen und insbesondere von der Militärhilfe der USA. Das Land braucht die globale Autorität der USA gegenüber Ägypten, Saudi-Arabien und den anderen Golfstaaten für ihre langfristige Planung. Sie sind abhängig von der US-Regierung. Die USA wollen ihren Einfluss nutzen, um antiimperialistische Aufstände in der Region zu verhindern. Gleichzeitig wollen sie ihre eigene direkte Intervention begrenzen. Also lassen sie lieber ihre regionalen Mächte die Drecksarbeit machen. Saudi-Arabien und insbesondere Israel wird viel Freiheit gelassen, das zu tun, was sie für nötig halten. Es mag sein, dass die USA versuchen, ihre Alliierten in der Region zu zügeln, sie zu beeinflussen und unter Druck zu setzen. Aber da sie diese Mächte als regionale Polizeikräfte für ihre Vorherrschaft brauchen, lassen sie ihnen viel Freiraum. Das ist die lang erprobte Kissinger-Doktrin nach der Niederlage der USA in Vietnam.
Wir müssen einsehen, dass imperiale Blöcke dynamisch sind und dass die Juniorpartner innerhalb eines Blocks signifikante regionale Autonomie haben in der Verfolgung ihrer eigenen Interessen. Diese sind nicht immer identisch mit denen der größeren Mächte, die den Block dominieren.
Ich glaube, es gab ein Zeitfenster, als China auf eine Verhandlungslösung mit der Ukraine gehofft hat. Sie dachten damals, dass es in ihrem Interesse sein würde, als die Macht angesehen zu werden, die eine Lösung zustande bringen würde. Als ihnen das nicht gelang, haben sie sich entschieden, dass es besser ist, mit dem Krieg zu leben.
Ich glaube, dass die USA tatsächlich eine weniger destruktive Niederlage der Menschen in Gaza wollen. Ich glaube aber nicht, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht. Sie wissen das wahrscheinlich und werden damit leben müssen. Die Spannungen werden weitergehen.
Das Interessante daran ist, dass es keine hegemoniale Macht gibt, die einen vergleichbaren Einfluss in ihren jeweiligen Blöcken hat, den Russland und die USA nach 1948 hatten. Sie dominieren nicht mehr wie damals. Wir werden also Spannungen sehen, die manchmal innerhalb der imperialen Blöcke noch offener zu Tage treten, was aber nicht heißen muss, dass die Blöcke auseinanderfliegen.
Im Nahen Osten sehen wir auf jeden Fall die Spannungen, die zwischen Iran und Saudi-Arabien herrschen. Es gibt unabhängige Machtbestrebungen in den Golfstaaten. Es gab und gibt die Verpflichtung der letzten US-Administrationen und wahrscheinlich auch weiterer, die regionale Stabilität dort zu stärken und die Beziehungen mit Israel und – noch wichtiger – mit Saudi-Arabien zu normalisieren. Es sieht so aus, als sei das Teil der Motivation für die Angriffe am 7. Oktober gewesen und das scheint zumindest im Moment diesen Prozess zu beeinflussen. Was ist deine Einschätzung, was der 7. Oktober für diese Dynamik bedeuten wird – oder ist es zu früh dazu etwas zu sagen?
David McNally: Es ist zu früh, etwas dazu zu sagen. Wir sind noch mittendrin. Es gibt noch unendlich viele Faktoren, die das beeinflussen können. Wir sollten nicht unterschätzen, was es bedeuten würde, wenn wir eine globale Massenbewegung der Solidarität mit Palästina hätten – mit einer ähnlichen Mobilisierungsfähigkeit wie es die Anti-Vietnamskriegsbewegung über viele Jahre hatte.
An dem Punkt sind wir noch nicht. Aber da sollten wir hinkommen. So eine Massenbewegung könnte zu einem sehr wichtigen Faktor für die weitere politische Entwicklung werden.
Ich glaube nicht, dass alles, was um den 7. Oktober geschehen ist, durch die regionale und globale Dynamik bestimmt gewesen ist. Es hat keine unerhebliche Rolle gespielt, aber wir müssen auch das Dilemma der Hamas sehen, in der sich früher bereits die Palästinensische Befreiungsfront (PLO) befand.
Viele haben bereits das Buch von Tareq Baconi über die Hamas gelesen. Lass uns den Titel ansehen: »Hamas Contained« (Hamas unter Kontrolle). Baconi hat ein Szenario skizziert, dass die Hamas sich dem Risiko ausgesetzt sah, zu einer altbackenen Verwaltungsmacht in Gaza zu werden, in Schach gehalten durch die Besatzung und mit der Verwaltung der Austerität vor Ort beschäftigt. Sie waren noch nicht an dem Punkt, an dem sich Yasser Arafat mit der PLO befunden hatte, aber die Hamas hat die Gefahr gesehen.
Wenn du nicht zu einer Widerstandskraft gegen die Besetzung von palästinensischen Gebieten werden kannst, wirst du zu einem Verwalter der Besatzung. Ich glaube, das war die Gefahr, die die Hamas gesehen hat und die dazu führte, was am 7. Oktober geschehen ist. Ein Versuch, den Widerstand wiederherzustellen.
Wir sehen, dass Israel deutlich gemacht hat, dass es absolut kein Interesse daran hat, mit irgendeiner Vertretung des palästinensischen Volkes zu verhandeln.
Die Hamas steht nicht für die Art von Politik der Befreiung Palästinas, die wir anstreben. Die Politik der Hamas benutzt politische Strategien und ideologische Grundsätze, die mit den Grundsätzen der revolutionären sozialistischen Linken nichts zu tun haben. Sie repräsentieren keinen authentischen Widerstand, aber es ist eine ernstzunehmende Kraft und sie mussten etwas tun.
In Bezug auf den regionalen Kontext, war insbesondere Saudi-Arabien zufrieden mit dem Status Quo. Saudi-Arabien bewegte sich auf die US-Politik gegenüber Israel zu, weil sie den Iran als eine destabilisierende Macht, die den Golfstaaten in der Region feindlich gesinnt ist, fürchten.
Wir sehen, dass Israel deutlich gemacht hat, dass es absolut kein Interesse daran hat, mit irgendeiner Vertretung des palästinensischen Volkes zu verhandeln. Erst vor kurzem hat Netanyahu offen gesagt, dass er komplett gegen einen parallelen und geteilten palästinensischen Staat ist. Die Annahme, dass der Osloer Friedensprozess als ein großes Risiko für das zionistische Projekt zu sehen ist, scheint verrückt. Der Oslo Vertrag war ein Sieg für die USA und Israel. Trotzdem sieht die gegenwärtig vorherrschende Ideologie in Israel in dem Vertrag exzessive Zugeständnisse an Palästina.
So sehr die regionalen Dynamiken eine Rolle in den Geschehnissen des 7. Oktober gespielt haben, wir sollten nicht aus dem Blick verlieren, dass es – so lange es keine Bewegung in Richtung einer palästinensischen Autonomie gibt – Widerstand geben wird. Leider wird dieser Widerstand nicht immer so aussehen, wie die sozialistische Linke das gerne sehen würde. Aber er wird auf die eine oder andere Weise immer wieder gegenwärtig sein.
Dieser Beitrag ist zuerst auf Englisch bei Tempest – A Revolutionary Socialist Collective erschienen. Übersetzung ins Deutsche von Silvia Habekost.
Schlagwörter: Imperialismus, Weltwirtschaft