Seitdem Macron Neuwahlen ausgerufen hat, überschlagen sich in Frankreich die Ereignisse. John Mullen über das Agieren der wichtigsten politischen Kräfte und die Perspektiven der »Nouveau Front Populaire«
John Mullen ist revolutionärer Sozialist und Unterstützer von »La France insoumise« (FI). Er lebt im Großraum Paris und schreibt regelmäßig auf marx21.de. Weitere Beiträge von ihm findest du auf seiner Website randombolshevik.org.
Eine Woche vor der ersten Runde der Parlamentswahlen titelte der Telegraph in London über eine »nationalistische Revolution« in Frankreich. Doch die Situation ändert sich laufend. Voraussichtlich wird die faschistische Partei »Rassemblement national«, angeführt von Marine Le Pen und Jordan Bardella, die in den Umfragen bei etwa 35 Prozent liegt, mehr Sitze erhalten als jede andere Partei.
Die Partei von Präsident Emmanuel Macron wird Umfragen zufolge nur etwa 20 Prozent der Stimmen erhalten. Das Zwei-Runden-Wahlsystem macht es extrem schwierig, dies in eine Vorhersage für die Anzahl der Parlamentssitze zu übersetzen, da viel von den Allianzen abhängt, die sich zwischen den beiden Wahlrunden am 30. Juni und 7. Juli 2024 auch verschieben können. Macron ist aufgrund seiner neoliberalen Politik weithin unbeliebt, hoffte aber, dass eine schnell einberufene Parlamentswahl die Linke spalten würde und er sich als einzige Alternative zu Le Pens rechtsaußen Partei darstellen könne.
Macron biegt rechts ab
In der Vergangenheit hatte Macron sich als »weder links noch rechts« dargestellt und einige seiner Minister:innen aus den Reihen ehemaliger Mitglieder der Sozialistischen Partei rekrutiert. Außerdem behauptete er, das einzige Hindernis gegen den Faschismus zu sein. Doch diesmal ist seine Erzählung, dass er Frankreich vor dem doppelten Übel des »Links- und Rechtsextremismus« bewahren möchte. In Wirklichkeit übernimmt er die Politik der extremen Rechten und greift die Linke an, wo immer er kann.
In der vergangenen Woche hat er, wenn er nicht gerade verzweifelt nach neuen Steuergeschenken suchte, das Programm des Linksbündnisses »Nouveau Front Populaire« (NFP, auf Deutsch: »neue Volksfront«) als »total immigrationistisch« denunziert – eine Wortschöpfung der Faschist:innen. Am selben Tag versuchte er, Transphobiker:innen mit der Bemerkung anzulocken, einige Maßnahmen der NFP seien »grotesk, wie etwa die Tatsache, dass man einfach zum Rathaus gehen und sein Geschlecht ändern kann«.
Einer seiner wichtigsten Unterstützer, François Bayrou, wetterte gegen die »zwei tödlichen Gefahren«, die Frankreich angeblich drohten – die »France Insoumise« um Jean-Luc Mélenchon und das »Rassemblement national« um Marine Le Pen und Jordan Bardella. Macron hat betont, dass er nicht als Präsident zurücktreten wird, selbst wenn er bei der Parlamentswahl eine große Anzahl von Abgeordneten verlieren wird. Aber nichts ist völlig sicher.
Die Mimikry der Faschist:innen
Umfragen zufolge sehen die meisten Franzosen den »Rassemblement national« (RN) nicht als »Bedrohung für die Demokratie« an und glauben, dass die Partei ihre faschistische Vergangenheit hinter sich gelassen und sich geändert hat. Tatsächlich hat sie jedoch nur so getan. Der Slogan »Zum Schutz eurer Identität und eurer Grenzen« steht immer noch ganz oben auf ihren Flugblättern. Die Verweigerung der Gesundheitsversorgung für Migrant:innen ohne Papiere und die Priorisierung von Sozialwohnungen für französische Staatsangehörige sind Schwerpunkte des RN. Der Ausschluss von Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst wurde erst kürzlich in ihr Programm aufgenommen. Auch das Verbot des Tragens von Kopftüchern auf der Straße ist RN-Politik – wenn auch hier »keine unmittelbare Priorität« bestehe, so Bardella.
Wie Kevin Ovenden richtigerweise schreibt, waren die letzten dreißig Jahre »ein Sieg für Le Pens grundlegende Strategie eines langen Marsches durch die Institutionen, während der Partei-Kern die Traditionen des französischen Faschismus beibehielt«. Viele französische Unternehmer:innen, die durch das von der Linken vorgelegte Programm für soziale Gerechtigkeit verängstigt sind, suchen nun das Gespräch mit Bardella. Im Allgemeinen sind die französischen Bosse zwar froh, dass die Faschist:innen als Minderheit die Politik nach rechts ziehen, aber sie würden es vorziehen, wenn sie nicht an der Spitze des Staates stehen.
Doch in den vergangenen Wochen ist die Möglichkeit einer Regierung mit einem faschistischen Kern normalisiert worden. Man hat das Gefühl, dass es demnächst im Fernsehen eine Sendung zur Frage geben könnte: »Wie wird sich eine RN-Regierung auf Ihren Hobby-Gartenbau auswirken?«, so selbstverständlich ist die Idee inzwischen. Mit Hilfe von Macron und den Medien kann sich der RN als Retter der Demokratie aufspielen. Bardella erklärte kürzlich, seine Partei werde die französischen Juden gegen den Antisemitismus der Muslime und der extremen Linken verteidigen.
Die traditionelle rechte Partei, die Republikaner, die in den Umfragen bei 9 Prozent liegt, spaltete sich letzte Woche spektakulär an der Frage, ob sie sich mit dem RN verbünden sollte oder nicht. Viele Jahre lang hatten Politiker:innen der traditionellen Rechten ein solches Bündnis abgelehnt – einige aus Prinzip, andere, weil sie dachten, es würde ihre eigenen Wähler:innen verschrecken. Teilweise war es auch der Druck von Antifaschist:innen, der in der Vergangenheit dazu beigetragen hat, Parteien davon abzuhalten, Bündnisse mit den Faschist:innen einzugehen, so etwa 1998, als eine Kampagne, die wir »demokratische Belästigung« nannten, die Anfänge eines solchen Bündnisses zunichte machte.
Hoffnung: »Nouveau Front Populaire«
Entgegen Macrons Hoffnungen haben sich die wichtigsten linken Parteien zu einem Bündnis zusammengeschlossen, der »Nouveau Front Populaire«, zu der La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon, die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und die Grünen gehören. In den Umfragen wird Stimmenanteil der NFP auf 29 Prozent geschätzt, Tendenz steigend. Aufgrund des Wahlsystems mit zwei Wahlgängen wird ein Linksbündnis automatisch die Zahl der Städte verringern, in denen die Linke im zweiten Wahlgang nicht vertreten ist und somit auch die Zahl der faschistischen Abgeordneten.
Die bloße Existenz dieses Bündnisses und das gemeinsame radikale Programm haben zu einer dynamischen Kampagne geführt und Menschen zu der Überzeugung gebracht, dass es jetzt an der Zeit ist, sich dem Faschismus entgegenzustellen. Innerhalb weniger Tage haben sich über 10.000 Personen den Netzwerken von France Insoumise neu angeschlossen. Einige Leute in meinem Umfeld sind zum ersten Mal überhaupt mit Flugblättern unterwegs.
Zwei der größten Gewerkschaftsverbände haben mit der Tradition gebrochen und direkt zur Wahl der »Nouveau Front Populaire« aufgerufen. Einige regionale Gewerkschaftsverbände haben Netzwerke für den Wahlkampf eingerichtet. Jüdische antizionistische Gruppen und Organisationen wie Attac und Greenpeace haben ihre Unterstützung zum Ausdruck gebracht. Der Ex-Spitzenfußballer Lilian Thuram erklärte: »Wir müssen jeden Tag dafür kämpfen, dass RN nicht an die Macht kommt«. Trotz der Warnung, sich nicht einzumischen, hat Kylian Mbappe seinen ehemaligen Mitspieler in dessen Aussagen unterstützt und wurde dafür prompt von Bardella angegriffen.
Mehrere hundert Führungskräfte des öffentlichen Sektors haben eine Erklärung unterzeichnet, in der sie ihre Absicht erklären, sich Anweisungen möglicher Minister:innen vom Rechten Rand zu verweigern, wenn diese rassistische oder andere Maßnahmen ergreifen, die gegen demokratische Grundwerte verstoßen. Fünfhundert Künstler:innen haben eine Erklärung unterzeichnet, in der sie die Rechtsradikalen verurteilen, und Akademiker:innen haben eine neue »Liga für akademische Freiheit« gegründet.
Antifaschismus und Klassenpolitik
Wir wissen, dass Wahlen nicht im Mittelpunkt des Klassenkampfes stehen, aber die Bildung der »Nouveau Front Populaire« hat eine viel breitere und tiefere antifaschistische Mobilisierung ermöglicht. Auf den Jugend-Demonstrationen der letzten Woche wurde einstimmig sowohl »Front Populaire!« als auch »Siamo tutti antifascisti!« skandiert.
Die Bildung einer linken Front hat es auch ermöglicht, dass die Wahldebatten, selbst in den Massenmedien, an realen Themen orientiert waren. »Endlich werden die Superreichen ihren Anteil zahlen«, erklärte Jean-Luc Mélenchon auf der Titelseite von »20 Minutes«, einer Gratiszeitung, die in der Pariser Metro millionenfach verteilt wird. In der Zwischenzeit erklärte die Nobelpreisträgerin Esther Duflo im Fernsehen, warum es durchaus möglich ist, die Erhöhung des Mindestlohns um 14 Prozent und die Anhebung aller Gehälter im öffentlichen Dienst um 10 Prozent zu finanzieren, wie es im Wahlprogramm der NFP versprochen wird.
Natürlich ist das neue Bündnis in gewisser Weise zerbrechlich. Das Programm der »Nouveau Front Populaire« ist radikal, vor allem aufgrund der Stärke der France Insoumise und der großen öffentlichen Wut gegen die neoliberalen Reformen Macrons, die sich bereits in den Massenstreiks von letztem Jahr zeigte. Diese Zerbrechlichkeit hat auch dazu geführt, dass bisher kein Versuch unternommen wurde, einen Premierminister für den Fall eines linken Wahlsiegs zu benennen – was in der heutigen Zeit der extrem personifizierten Politik sicherlich ein Nachteil ist.
Mélenchon steht für radikalen Bruch
Die Mainstream-Medien und die politische Rechte machen momentan Überstunden, um die NFP und insbesondere die France Insoumise als »extrem«, gewalttätig und antisemitisch zu diffamieren. Mélenchon, der bekannteste Redner und Anführer, steht besonders unter Beschuss.
In einer besonders widerlichen und zynischen Verdrehung der Tatsachen wurde letzte Woche die Vergewaltigung eines zwölfjährigen jüdischen Mädchens durch zwei dreizehnjährige Jungen zum Vorwand für tagelange mediale »Debatten« über den »Antisemitismus der radikalen Linken« herangezogen. Auf einer der Kundgebungen, zu denen als Reaktion auf das Verbrechen aufgerufen wurde, skandierten radikale Israel-Anhänger:innen: »Mélenchon gehört ins Gefängnis!«
Mélenchon ist das Ziel von Angriffen von rechts, von Teilen der Sozialistischen Partei und sogar von Leuten weiter links, die nicht verstanden haben, wie die Hetzkampagnen wirken. Mélenchon steht nicht nur für den Widerstand gegen Völkermord, Islamophobie und Neoliberalismus. Er steht für einen radikalen Bruch mit dem Status quo, fordert eine verfassungsgebende Versammlung, eine neue Verfassung mit weit weniger Macht für den Präsidenten, den Übergang zu 100 Prozent biologischer Landwirtschaft, das Ende der Atomkraft und ein Umdenken in der gesamten Gesellschaft. Antikapitalist:innen müssen ihn verteidigen, ohne dabei die vielen Meinungsverschiedenheiten zu verschweigen, die wir über die zentrale Rolle des Parlaments, die Rolle des französischen Imperialismus und so weiter haben.
Bedeutung der Parlamentswahlen
Der Wahlkampf und die antifaschistische Mobilisierung gehen Hand in Hand und in der Tat wurde das Wahlbündnis durch den Druck von unten überhaupt erst möglich. Symbolisch dafür haben letzte Woche, als die vier Organisationen über ein Bündnis verhandelten, Hunderte von Jugendlichen vor dem Gebäude skandiert: »Die Jugend fordert eine ›Front Populaire‹!«
Wir müssen dafür kämpfen, dass alle links wählen und wir müssen eine möglichst breite Mobilisierung erreichen. Am 15. Juni gab es in 200 Städten Demonstrationen gegen den RN, angeführt von den Gewerkschaften. Am 23. Juni gab es viele antifaschistische Demonstrationen, die sich auf die Verteidigung der Rechte der Frauen konzentrierten. Hinzu kommen Picknicks und Tanzabende, Konzerte, Wanderungen, Petitionen und Flugblattaktionen der verschiedensten Organisationen.
Wir müssen noch weiter gehen. Die vagen Streikaufrufe gegen die Faschist:innen am vergangenen Donnerstag haben kaum zu tatsächlichen Streiks geführt. Es ist ein harter Kampf, aber die Kampagne muss verstärkt werden.
Viele in der NFP sind sich dessen bewusst. So erklärte ein Gewerkschafter auf dem NFP-Wahlkampfauftakt letzte Woche: »Wir dürfen einer neuen Volksfrontregierung keinen Blankoscheck ausstellen. Die Kapitalisten werden immer noch da sein. Wir werden weiterhin Streiks und Mobilisierung brauchen.«
Wie auch immer es bei den Wahlen laufen wird, ist dies erst der Anfang eines langen Kampfs. Was wir jetzt am dringendsten brauchen, ist eine landesweite Massenkampagne der Aufklärung und der »Belästigung«, um zu verhindern, dass Le Pen im ganzen Land die Parteistrukturen aufbaut, die sie langfristig dringend braucht, die aber im Moment noch schwach sind.
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Schlagwörter: Frankreich, Le Pen, Macron, Mélenchon